Entscheidungsdatum: 14.07.2010
Verfehlt die Vorinstanz bei der Tatsachenfeststellung das Regelbeweismaß richterlicher Überzeugungsgewissheit, kann diese Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO mit Erfolg als Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden.
Die Beschwerde ist mit der Rüge eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zulässig und begründet. Sie beanstandet zu Recht die Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, denn das Berufungsgericht hat den tatsächlichen Feststellungen als Grundlage seiner Prognose nicht den Maßstab der Überzeugungsgewissheit zugrunde gelegt. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache daher gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurück.
1. Das Berufungsgericht geht bei der Prüfung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG davon aus, dass der Kläger nicht auf internen Schutz in einem anderen Teil seines Herkunftslandes Afghanistan gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG verwiesen werden könne. Im Bereich der Hauptstadt Kabul könnten auch jungen ledigen Männern im Falle ihrer zwangsweisen Rückführung sog. Extremgefahren drohen, wenn mangels ausreichender Schul- oder Berufsausbildung, Vermögens oder Grundbesitzes und insbesondere eines funktionierenden Netzwerks durch Familie oder Bekannte nicht sichergestellt sei, dass sie dort eine menschenwürdige Existenzgrundlage finden könnten. Davon müsse auch im Falle des nunmehr vierzigjährigen Klägers ausgegangen werden, der aus der ländlichen Region südlich Kabuls stamme. Der Kläger halte sich inzwischen fast acht Jahre in Deutschland auf, sei mit den Verhältnissen in der Hauptstadt Kabul nicht vertraut, habe keine Berufsausbildung erhalten, sondern lediglich in seinem ländlichen Bereich einen Lebensmittelladen geführt. Dort habe er "möglicherweise" noch Grundbesitz, den er für ein Überleben in Kabul aber "kaum" werde nutzen können (UA S. 19).
Im Hinblick darauf macht die Beschwerde als Verfahrensmangel i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend, das Berufungsgericht habe § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt. Der Verwaltungsgerichtshof habe sich nicht die notwendige Überzeugungsgewissheit davon gebildet, dass der Kläger keine Vermögenswerte in Afghanistan besitze, die er außerhalb seines Herkunftsortes nutzen könne. Auf dieser verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellung beruhe die angefochtene Entscheidung.
2. Die Grundsätze der Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich dem sachlichen Recht zuzuordnen (vgl. nur Beschlüsse vom 12. Januar 1995 - BVerwG 4 B 197.94 - Buchholz 406.12 § 22 BauNVO Nr. 4 S. 4 = NVwZ-RR 1995, 310; vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 18 f. = NVwZ-RR 1996, 359 und vom 18. April 2008 - BVerwG 8 B 105.07 - ZOV 2008, 168, jeweils m.w.N.). Ein Verfahrensfehler kann aber ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet (Beschlüsse vom 25. Juni 2004 - BVerwG 1 B 249.03 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 284 und vom 16. Juni 2003 - BVerwG 7 B 106.02 - NVwZ 2003, 1132 <1135>, jeweils m.w.N.). So kann z.B. ein Verstoß gegen die Denkgesetze als Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden, wenn er nicht die Anwendung des materiellen Rechts betrifft, sondern - dieser gleichsam vorgelagert - sich ausschließlich auf die tatsächliche Würdigung beschränkt und damit dem Tatsachenbereich zuzuordnen ist (Beschluss vom 3. April 1996 - BVerwG 4 B 253.95 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 269; Urteil vom 19. Januar 1990 - BVerwG 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <272 ff.>). Diese Verfahrensrüge greift aber nur durch, wenn das Gericht einen Schluss gezogen hat, der schlechterdings nicht gezogen werden kann. Ein Tatsachengericht hat nicht schon dann gegen Denkgesetze verstoßen, wenn es nach Meinung des Beschwerdeführers unrichtige oder fernliegende Schlüsse gezogen hat; ebenso wenig genügen objektiv nicht überzeugende oder sogar unwahrscheinliche Schlussfolgerungen. Es muss sich vielmehr um einen aus Gründen der Logik schlechthin unmöglichen Schluss handeln (Beschlüsse vom 8. Juli 1988 - BVerwG 4 B 100.88 - Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 34 und vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328).
Auch das Vorbringen, das Gericht habe den Sachverhalt "aktenwidrig" festgestellt, kann einen Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO betreffen. Eine derartige Verfahrensrüge, die den Grundsatz der freien Beweiswürdigung und das Gebot sachgerechter Ausschöpfung des vorhandenen Prozessstoffs betrifft, kann nur Erfolg haben, wenn zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt ein offensichtlicher, keiner weiteren Beweiserhebung bedürftiger "zweifelsfreier" Widerspruch vorliegt (Beschlüsse vom 19. November 1997 - BVerwG 4 B 182.97 - Buchholz 406.11 § 153 BauGB Nr. 1 und vom 16. März 1999 - BVerwG 9 B 73.99 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 7).
Diese Fallvarianten aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zeigen, dass die Rüge eines Verstoßes gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Rahmen der Sachverhalts- und Beweiswürdigung ausnahmsweise dann als Verfahrensmangel i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO angesprochen werden kann, wenn der gerügte Fehler sich hinreichend eindeutig von der materiellrechtlichen Subsumtion, d.h. der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts abgrenzen lässt. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die Sachverhalts- und Beweiswürdigung dem Tatrichter obliegt. Daher liegt ein Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung nur dann vor, wenn der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten Wertungsrahmen verlassen hat. Das ist u.a. dann der Fall, wenn er eine schlechthin unmögliche Schlussfolgerung gezogen hat oder von einer Annahme ausgegangen ist, die in zweifelsfreiem Widerspruch zum eindeutigen Akteninhalt steht, der keine unterschiedliche Würdigung zulässt.
3. Diesen Einschränkungen, unter denen ein Angriff gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanz mit Erfolg als Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend gemacht werden kann, wird auch die hier vorliegende Rüge der Verfehlung des von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorausgesetzten Regelbeweismaßes gerecht. Denn das Berufungsgericht ist nicht etwa davon ausgegangen, dass § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums nur ein abgesenktes Beweismaß verlangt. Vielmehr hat es seiner Prognose im Ansatz - unausgesprochen - den Maßstab der Überzeugungsgewissheit gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zugrunde gelegt. Greift die Beschwerde darauf aufbauend die konkrete Beweiswürdigung bei Stellung der Prognose als Element der Tatsachenfeststellung an, lässt sich dieser Mangel von der korrekten Anwendung der materiellrechtlichen Vorschrift des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG abschichten und kann daher Gegenstand einer Verfahrensrüge sein.
Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Würdigung des Berufungsgerichts zu der Frage, ob am Ort des internen Schutzes zumindest das Existenzminimum des Kläger gesichert ist, bringt hinsichtlich des Besitzes bzw. der Verwertbarkeit von Grundbesitz nur die Möglichkeit zum Ausdruck, dass es sich so wie von ihm beschrieben verhalten könnte. Es handelt sich auch nicht nur um missverständliche Formulierungen des Berufungsgerichts, denn möglich ist nach seinen "Feststellungen" auch der gegenteilige Sachverhalt. Für die gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche richterliche Überzeugungsgewissheit von der Richtigkeit der tatsächlichen Grundlagen sowie der darauf aufbauenden Prognose reicht das nicht aus (Urteile vom 15. Mai 1990 - BVerwG 9 C 17.89 - BVerwGE 85, 139 <147 f.> und vom 20. November 1990 - BVerwG 9 C 72.90 - BVerwGE 87, 141 <151>). Verfehlt der Tatrichter das durch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene Beweismaß, hat er den ihm durch das Prozessrecht eröffneten Spielraum bei der Tatsachenwürdigung verlassen. Auf diesem Mangel beruht die angefochtene Entscheidung, da nach der eigenen Annahme des Berufungsgerichts die Frage mangelnden Vermögens oder Grundbesitzes bzw. der Verwertbarkeit des Grundbesitzes für das Bestehen oder Fehlen internen Schutzes entscheidungserheblich ist (UA S. 19).
4. Der Senat verweist die Sache im Interesse der Verfahrensbeschleunigung nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung der Berufungsentscheidung an das Berufungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück. Auf das weitere Vorbringen der Beschwerde kommt es daher nicht mehr an. Für die weitere Sachbehandlung ist jedoch anzumerken, dass das Berufungsgericht bei der Prüfung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Anforderungen zu beachten hat, die im Urteil des Senats vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - Rn. 33 (zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen) näher beschrieben sind. Danach ist eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Zahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich. Insoweit können auch die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden.