Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 28.02.2012


BVerwG 28.02.2012 - 1 WB 22/11

Antrag auf Aufhebung einer bestandskräftigen Beurteilung; Wiederaufgreifen des Verfahrens


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
1. Wehrdienstsenat
Entscheidungsdatum:
28.02.2012
Aktenzeichen:
1 WB 22/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Beantragt ein Soldat, eine nach Ablauf der Beschwerdefrist bestandskräftig gewordene Beurteilung aufzuheben, so bestimmen sich seine subjektiven Rechte nach den Vorschriften über das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 4 und Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG in entsprechender Anwendung.

Tatbestand

Der Antragsteller ist Berufssoldat und begehrt die Aufhebung einer im Jahr 2008 erstellten, nach Ablauf der Beschwerdefrist bestandskräftig gewordenen Beurteilung. Die Beurteilung müsse aufgehoben werden, weil sie entsprechend den Ausführungen des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. mai 2009 - BVerwG 1 WB 47.07 - (BVerwGE 134, 59) zum Richtwertesystem der Beurteilungsbestimmungen der ZDv 20/6 in der Fassung vom 17. Januar 2007 rechtswidrig sei.

Sein Aufhebungsantrag wurde nach dienstaufsichtlicher Prüfung abgelehnt. Den hiergegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen.

Entscheidungsgründe

...

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Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.

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1. Der Antrag ist nicht bereits unzulässig, weil eine Rechtsverletzung des Antragstellers von vornherein ausgeschlossen wäre. Zwar trifft es zu, dass eine Maßnahme der Dienstaufsicht, die alleine im öffentlichen Interesse wahrgenommen wird, keine anfechtbare truppendienstliche Maßnahme gemäß § 17 Abs. 3 Satz 1 WBO darstellt. Ein Soldat hat daher außerhalb eines förmlichen Beschwerdeverfahrens keinen Anspruch darauf, dass auf seinen Antrag eine Beurteilung im Rahmen einer dienstaufsichtlichen Prüfung nach Nr. 901 ZDv 20/6 aufgehoben wird (Beschlüsse vom 26. Juni 2007 - BVerwG 1 WB 3.07 - Rn 19, vom 28. Mai 2008 - BVerwG 1 WB 11.08 - Rn 18 und vom 23. Februar 2010 - BVerwG 1 WB 36.09 - Buchholz 449.2 § 2 SLV 2002 Nr. 17 Rn. 51 = NZWehrr 2011, 36 <37>, m.w.N.).

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Die Dienstaufsicht ist ein Kontrollinstrument, das der Durchsetzung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dient. Entsprechend sieht § 14 WBO vor, dass die Untersuchung einer Beschwerde stets auch darauf zu erstrecken ist, ob mangelnde Dienstaufsicht oder sonstige Mängel im dienstlichen Bereich vorliegen. Wird eine Beschwerde verspätet eingelegt, so ist diese zwar zurückzuweisen, gleichwohl ist ihr im Wege der Dienstaufsicht nachzugehen und soweit erforderlich für Abhilfe zu sorgen (§ 12 Abs. 3 WBO). Gleiches gilt dann, wenn eine Beschwerde zurückgenommen wird (§ 8 Abs. 2 WBO). Die Dienstaufsicht wird jedoch durch den zuständigen Vorgesetzten allein im öffentlichen Interesse gegenüber dem Dienstherrn ausgeübt; sie obliegt dem Vorgesetzten nicht gegenüber seinen Untergebenen. Die Dienstaufsicht begründet daher keinen Rechtsanspruch eines Soldaten darauf, dass der zuständige Vorgesetzte in einer bestimmten Weise tätig wird. Beantragt ein Soldat eine dienstaufsichtliche Prüfung, ohne darüber hinaus eigene, nach der Wehrbeschwerdeordnung durchsetzbare Rechte geltend machen zu können, so ist der zuständige Vorgesetzte zwar verpflichtet, diesen Antrag entgegenzunehmen, sachlich zu prüfen und die Art der Erledigung mitzuteilen. Weitergehende Ansprüche bestehen jedoch im Rahmen der Dienstaufsicht nicht (vgl. zum Ganzen ausführlich Beschlüsse vom 9. August 2007 - BVerwG 1 WB 51.06 - Buchholz 450.1 § 17 WBO Nr. 62 Rn. 19 = NZWehrr 2007, 252 sowie vom 28. Mai 2008 - BVerwG 1 WB 11.08 - und vom 23. Februar 2010 a.a.O.).

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Jenseits der Dienstaufsicht kann jedoch unter den Voraussetzungen des Wiederaufgreifens des Verfahrens entsprechend der Bestimmung des § 51 VwVfG ein Anspruch darauf bestehen, dass über die Aufhebung einer bestandskräftigen Beurteilung entschieden wird (Beschlüsse vom 23. Juni 2004 - BVerwG 1 WB 12.04 - Buchholz 402.8 § 17 SÜG Nr. 2 S. 3 = NZWehrr 2005, 78 und vom 23. Februar 2010 a.a.O.). Darüber hinaus steht die Aufhebung einer sich als rechtswidrig erweisenden Beurteilung im Ermessen des Bundesministers der Verteidigung (§ 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. § 48 Abs. 1 VwVfG entsprechend). Hierauf bezogen hat der Antragsteller in engen Grenzen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung (vgl. Urteile vom 27. Januar 1994 - BVerwG 2 C 12.92 - BVerwGE 95, 86 <92> und vom 22. Oktober 2009 - BVerwG 1 C 15.08 - BVerwGE 135, 121 Rn. 26 sowie Beschlüsse vom 11. April 1975 - BVerwG 1 WB 3.74 - BVerwGE 53, 12 <14>, vom 16. Mai 2002 - BVerwG 1 WB 7.02 - Buchholz 402.8 § 2 SÜG Nr. 2 S. 2 und vom 23. Juni 2004 a.a.O.). Nachdem der Antragsteller aus dem Beschluss des Senats vom 26. Mai 2009 - BVerwG 1 WB 48.07 - (BVerwGE 134, 59) die Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Beurteilung ableitet und deshalb die Aufhebung der Beurteilung begehrt, scheidet die Verletzung subjektiver Rechte des Antragstellers nicht bereits von vornherein aus.

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2. Der Antrag ist jedoch unbegründet. Die Ablehnung der begehrten Aufhebung der neugefassten Beurteilung vom 24. November 2008 ist rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf die begehrte Aufhebung der Beurteilung.

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Truppendienstliche Maßnahmen, wie sie Beurteilungen und Stellungnahmen zu Beurteilungen darstellen, können nach Maßgabe der Bestimmungen der §§ 48-51 VwVfG auch dann aufgehoben werden, wenn sie nach den Regelungen über die Frist zur Ausübung des Beschwerderechts (§§ 6 und 7 WBO) unanfechtbar und damit bestandskräftig geworden sind. Diese Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes sind auf truppendienstliche Maßnahmen entsprechend anwendbar (vgl. Beschlüsse vom 25. Juni 1986 - BVerwG 1 WB 166.84 - BVerwGE 83, 195 <197>, vom 6. März 2001 - BVerwG 1 WB 120.00 - BVerwGE 114, 84 <85>, vom 23. Juni 2004 a.a.O. und vom 7. Juli 2009 - BVerwG 1 WB 51.08 - Buchholz 449 § 3 SG Nr. 53 Rn. 27).

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a) Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG liegen jedoch nicht vor. Die der Beurteilung zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage hat sich nicht nachträglich zugunsten des Antragstellers geändert (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Richterliche Rechtsanwendung und Rechtserkenntnis ist mit einer Änderung des maßgeblichen materiellen Rechts und damit der Rechtslage nicht verbunden. Auch eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ändert jedenfalls grundsätzlich die Rechtslage nicht (Beschlüsse vom 25. Mai 1981 - BVerwG 8 B 89.80 und 93.80 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 9 S. 1 und vom 16. Februar 1993 - BVerwG 9 B 241.92 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 29 S. 15 sowie Urteil vom 27. Januar 1994 a.a.O. S. 89). Etwas anderes mag in Betracht kommen, wenn eine geänderte Rechtsprechung Ausdruck einer neuen allgemeinen Rechtsauffassung ist (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Auflage 2011, § 51 Rn. 30 m.w.N.). Dies scheidet hier jedoch ohne Weiteres aus, weil der in Bezug genommene Beschluss des Senats vom 26. Mai 2009 auf der Anwendung bekannter allgemeiner Rechtsgrundsätze beruht. Auch die für die Beurteilung maßgebliche Tatsachengrundlage - und damit die Sachlage - hat sich nicht geändert. Schließlich liegen keine neuen Beweismittel vor, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG), und auch Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG) sind nicht gegeben.

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b) Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch darauf, dass der Bundesminister der Verteidigung die Beurteilung im Wege seines Ermessens nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 Abs. 1 VwVfG aufhebt.

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Allerdings ist die Beurteilung vom 24. November 2008 rechtswidrig, denn sie wurde auf der Grundlage des durch die Beurteilungsbestimmungen der ZDv 20/6 vom 17. Januar 2007 eingeführten Richtwertesystems erstellt. Dies findet seine Bestätigung in den Ausführungen des Kommandeurs des ...kommandos ..., der in seinem aus formellen Gründen aufgehobenen Bescheid vom 9. November 2009 festgestellt hat, dass die Beurteilung nach den damaligen Vorschriften im Rahmen einer Reihung und vergleichenden Betrachtung erstellt wurde. Ohne gesetzliche, zumindest verordnungsrechtliche Grundlage durfte dieses System jedoch nicht eingeführt werden, weshalb auf ihm beruhende Beurteilungen rechtswidrig sind (vgl. hierzu ausführlich: Beschluss vom 26. Mai 2009 a.a.O. Rn. 70).

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Der Bundesminister der Verteidigung ist jedoch nicht schon deshalb verpflichtet, im Wege seines Ermessens das Verfahren wieder aufzugreifen und die Beurteilung aufzuheben. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ergibt sich ein Anspruch auf Aufhebung einer rechtswidrigen Beurteilung nicht bereits aus der Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG). Sowohl die Idee der materiellen Gerechtigkeit als auch der Grundsatz der Rechtssicherheit sind wesentliche Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 1987 - 1 BvR 1052/79 - BVerfGE 74, 129 <152>). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dem Grundgesetz keine allgemeine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt zu entnehmen, rechtswidrige belastende Verwaltungsakte aufzuheben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2007 - 1 BvR 1982/01 - BVerfGE 117, 302 <315> m.w.N.). Die Vorschrift des § 51 VwVfG mit ihrem abschließenden Katalog von Wiederaufgreifensgründen macht deutlich, dass der Gesetzgeber nur in einzelnen besonders gravierenden Fällen das Zurücktreten des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit gegenüber dem formalen Prinzip der Bestandskraft als so unerträglich ansieht, dass er dem Betroffenen einen Anspruch auf eine neue Sachentscheidung zugesteht (Urteil vom 27. Januar 1994 a.a.O. S. 92). Daher verdichtet sich das dem Bundesminister der Verteidigung gegebene Ermessen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zugunsten des betroffenen Soldaten zu einer Pflicht, das Verfahren wieder aufzugreifen. Das ist nur dann der Fall, wenn sich aus besonderen Umständen ergibt, dass eine Aufrechterhaltung der bestandskräftigen Entscheidung unerträglich wäre (Beschluss vom 23. Juni 2004 a.a.O.).

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Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Aus dem Fehlen einer ausreichenden Rechtsgrundlage für das Richtwertesystem der Beurteilungsbestimmungen der ZDv 20/6 vom 17. Januar 2007 und aus der hieraus abzuleitenden Rechtswidrigkeit der Beurteilung ergibt sich nicht ohne Weiteres, dass die Aufrechterhaltung der Beurteilung unerträglich wäre. Dies folgt aus der Wertung des § 48 Abs. 1 VwVfG, der als Rechtsfolge eines rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsakts lediglich die Möglichkeit der Aufhebung, nicht hingegen bereits dessen zwingende Aufhebung vorsieht. Unerträglich ist die Aufrechterhaltung der Beurteilung auch nicht etwa deshalb, weil die Rechtswidrigkeit der Beurteilung bereits bei ihrer Erstellung offensichtlich gewesen wäre (vgl. Urteil vom 24. Februar 2011 - BVerwG 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 12). Vielmehr beruht die Erkenntnis ihrer Rechtswidrigkeit auf einer Entscheidung des Senats, die das Richtwertesystem der Beurteilungsbestimmungen der ZDv 20/6 vom 17. Januar 2007 im Einzelnen analysiert, gegenüber herkömmlichen Beurteilungssystemen abgegrenzt und im Ergebnis hieraus eine unzureichende Rechtsgrundlage festgestellt hat.

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Vor diesem Hintergrund war es dem Bundesminister der Verteidigung nicht von vornherein verwehrt, die Aufhebung der Beurteilung abzulehnen. Die Entscheidung, die Beurteilung nicht aufzuheben, ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden. Zwar wurde die Entscheidung erklärtermaßen nur im Verfahren der Dienstaufsicht getroffen. Gleichwohl wurde in diesem Rahmen das bestehende Ermessen gesehen und fehlerfrei ausgeübt.

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