Entscheidungsdatum: 13.09.2011
Für die Anordnung, dass die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80b Abs. 2 VwGO fortdauert, ist abweichend vom Wortlaut der Vorschrift das Bundesverwaltungsgericht auch dann zuständig, wenn das Oberverwaltungsgericht über die Berufung entschieden hat und das Verfahren in der Hauptsache nach Einlegung eines Rechtsmittels beim Bundesverwaltungsgericht anhängig ist (Fortführung der Rechtsprechung zur berichtigenden Auslegung von § 80b Abs. 2 VwGO in BVerwGE 129, 58).
I.
Der Antragsteller, ein kosovarischer Staatsangehöriger, wurde mit Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 23. Juni 2009 unter Androhung der Abschiebung in den Kosovo aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Die sofortige Vollziehung dieses Bescheides wurde nicht angeordnet. Die Klage des Antragstellers gegen den Bescheid hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Urteil vom 21. Juli 2010 abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat die Berufung auf Antrag des Klägers zugelassen und mit Urteil vom 18. März 2011 die Ausweisungsverfügung und die Abschiebungsandrohung aufgehoben. Hiergegen hat der Beklagte die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Revision eingelegt, die beim Bundesverwaltungsgericht unter dem Aktenzeichen BVerwG 1 C 7.11 anhängig ist.
Mit seinem Antrag vom 8. Juli 2011 begehrt der Antragsteller die aufschiebende Wirkung seiner Klage wiederherzustellen. Diese Wirkung sei gemäß § 80b VwGO während des Berufungsverfahrens entfallen. Nach dem Obsiegen im Berufungsverfahren sei die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung interessengerecht. Er benötige eine solche Entscheidung, damit ihm die Ausländerbehörde nach einer Ausreise die Wiedereinreise ermögliche. Er müsse dringend seine Mutter im Kosovo besuchen, deren Gesundheitszustand besorgniserregend sei. Derzeit erhalte er nur auf das Land Baden-Württemberg beschränkte Duldungen. Der Antragsteller ist der Auffassung, dass sich aus § 80b Abs. 3 VwGO mit seiner Folgeverweisung auf § 80 Abs. 5 bis 8 VwGO die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für die Entscheidung über seinen Antrag ergebe, beantragt aber vorsorglich hilfsweise eine Verweisung des Verfahrens an den Verwaltungsgerichtshof.
Der Antragsgegner bezweifelt, ob angesichts der dem Antragsteller erteilten laufenden Duldungen ein Rechtsschutzbedürfnis für die Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung bestehe und ob § 80b Abs. 2 VwGO überhaupt auf Fälle anwendbar sei, bei denen ein zweitinstanzliches Urteil die Rechtswidrigkeit der Verfügung festgestellt habe. Zudem sei fraglich, ob die aufschiebende Wirkung der Klage auch die Sperrwirkung der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und das mit der Ausweisung verbundene Erlöschen der Niederlassungserlaubnis des Antragstellers vorläufig entfallen lasse.
II.
Das Begehren des Antragstellers ist als Antrag auf Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung seiner Klage nach § 80b Abs. 2 VwGO zu verstehen (1.). Für die Entscheidung über diesen Antrag ist das Bundesverwaltungsgericht als Rechtsmittelgericht der Hauptsache zuständig (2.). Der Antrag ist zulässig (3.) und begründet (4.).
1. Wie der Antragsteller zutreffend ausführt, ist die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Ausweisungsbescheid gemäß § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO kraft Gesetzes entfallen. Nach der zweiten Alternative dieser Vorschrift endet die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage, wenn diese im ersten Rechtszug abgewiesen worden ist, drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist des gegen die abweisende Entscheidung gegebenen Rechtsmittels. Diese Voraussetzungen sind hier während des Berufungsverfahrens eingetreten, so dass das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers als Antrag auf Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung nach § 80b Abs. 2 VwGO auszulegen ist.
2. Für die Entscheidung hierüber ist in der vorliegenden Verfahrenskonstellation das Bundesverwaltungsgericht und nicht der Verwaltungsgerichtshof zuständig. Zwar sieht § 80b Abs. 2 VwGO vor, dass "das Oberverwaltungsgericht" auf Antrag anordnen kann, dass die aufschiebende Wirkung fortdauert. Mit dieser speziellen Zuständigkeitsregelung, die auf eine Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum 6. VwGOÄndG zurückgeht (BTDrucks 13/5642 S. 2), sollte erreicht werden, dass nicht das Gericht des ersten Rechtszuges - unter dem Eindruck seiner klageabweisenden Entscheidung - über die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung entscheidet. Dabei hat der Gesetzgeber offenbar nur an den Regelfall der erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gemäß § 45 VwGO und des anschließenden Berufungsverfahrens vor dem Oberverwaltungsgericht gedacht. Für andere Fallkonstellationen ist die Regelung dagegen unstreitig defizitär und die Vorschrift berichtigend auszulegen. So ist bereits geklärt, dass nicht das Oberverwaltungsgericht, sondern das Bundesverwaltungsgericht als Rechtsmittelgericht für die Entscheidung nach dieser Vorschrift zuständig ist, wenn den Beteiligten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts gemäß § 134 VwGO unter Übergehung der Berufungsinstanz die Sprungrevision zusteht, durch Bundesgesetz die Berufung ausgeschlossen ist oder nur die Revision zulässig ist oder gemäß § 48 VwGO das Oberverwaltungsgericht bereits im ersten Rechtszug entschieden hat (Beschluss vom 19. Juni 2007 - BVerwG 4 VR 2.07 - BVerwGE 129, 58). Diese Konstellationen sind im Gesetzgebungsverfahren ersichtlich übersehen worden. Wenn das Oberverwaltungsgericht überhaupt nicht mit der Sache befasst ist oder wenn es erstinstanzlich entschieden hat, sollte es nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sicherlich nicht die Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutz nach § 80b Abs. 2 VwGO treffen. Vielmehr obliegt in diesen Fällen die Entscheidung nach § 80b Abs. 2 VwGO dem Bundesverwaltungsgericht als Rechtsmittelgericht der Hauptsache. Nur eine solche berichtigende Auslegung wird dem Ziel der Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der im Gesetzgebungsverfahren getroffenen Grundentscheidung gerecht, dass nicht das Gericht der ersten Instanz über die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung der gerade vom ihm abgewiesenen Klage entscheiden soll. Dies entspricht auch der einhelligen Auffassung im Schrifttum (Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 80b Rn. 14; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 80b Rn. 27; Schmidt, in Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 80b Rn. 7; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Februar 1998, § 80b Rn. 43).
Eine solche berichtigende Auslegung der Vorschrift ist darüber hinaus aber auch bei der hier vorliegenden Fallkonstellation geboten, in der das Oberverwaltungsgericht als Rechtsmittelgericht zwar im Berufungsverfahren zuständig war, das Verfahren in der Hauptsache aber nach Ergehen der Berufungsentscheidung als Revision beim Bundesverwaltungsgericht anhängig ist. Dabei ist zunächst klarzustellen, dass entgegen der Ansicht des Antragsgegners auch nach einer zugunsten des Klägers ergangenen, noch nicht rechtskräftig gewordenen Berufungsentscheidung Raum für eine Entscheidung nach § 80b Abs. 2 VwGO ist, denn die einmal kraft Gesetzes entfallene aufschiebende Wirkung der Klage kann - sofern nicht die Behörde die Vollziehung bis zur Unanfechtbarkeit aussetzt (§ 80b Abs. 1 Satz 2 letzter Halbsatz VwGO) - nur durch eine gerichtliche Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung nach § 80b Abs. 2 VwGO wieder hergestellt werden. Ist aber eine solche Entscheidung während des Berufungsverfahrens nicht beantragt worden und nicht ergangen und ist die Hauptsache inzwischen aufgrund einer Revision beim Bundesverwaltungsgericht anhängig, stellt auch dies eine besondere Fallgestaltung dar, die der Gesetzgeber bei der Zuständigkeitsregelung in § 80b Abs. 2 VwGO nicht im Blick hatte. Würde man auch in diesen Fällen eine fortbestehende Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte annehmen, könnte dies zu einer zwischen Oberverwaltungsgericht und Bundesverwaltungsgericht gespaltenen Zuständigkeit im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 und § 80b Abs. 2 VwGO führen. Wenn die Behörde etwa die sofortige Vollziehung einzelner Regelungen des Verwaltungsakts nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet, es im Übrigen aber bei der aufschiebenden Wirkung belassen hat, wäre für den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung während des Revisionsverfahrens das Bundesverwaltungsgericht nach § 80 Abs. 5 VwGO zuständig, während über die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der nicht für sofort vollziehbar erklärten Regelungen desselben Verwaltungsakts das Oberverwaltungsgericht nach § 80b Abs. 2 VwGO zu entscheiden hätte (ebenso Beschluss vom 19. Juni 2007 a.a.O. Rn. 12 m.w.N.). Dass der Gesetzgeber eine solche Aufspaltung der Zuständigkeiten und die damit verbundenen Verzögerungen beim vorläufigen Rechtsschutz in Kauf nehmen wollte, ist nicht anzunehmen. Auch im Falle des einheitlichen Wegfalls der aufschiebenden Wirkung einer Klage nach § 80b Abs. 1 VwGO könnte es, worauf der Vertreter des Antragstellers zu Recht hinweist, zu zwei Entscheidungen verschiedener Gerichte über die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung der Klage in ein und demselben Revisionsverfahren kommen. Denn bei Festhalten an dem Wortlaut des § 80b Abs. 2 VwGO müsste zunächst das Oberverwaltungsgericht über einen Antrag auf Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung nach dieser Bestimmung entscheiden, während das Bundesverwaltungsgericht nach § 80 Abs. 7 VwGO diese Entscheidung, ggf. sogar von Amts wegen, wieder ändern könnte. Eine solche Verdoppelung der Zuständigkeit innerhalb eines Rechtszuges stünde weder mit der Eilbedürftigkeit der Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes noch mit der vom Gesetzgeber angestrebten Entlastung der Gerichte in Einklang.
3. Der Antrag auf Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig. Der Antrag ist nicht fristgebunden (Beschluss vom 19. Juni 2007 a.a.O. Rn. 13 m.w.N.) und kann deshalb auch noch während des Revisionsverfahrens gestellt werden. An dem Rechtsschutzinteresse für einen solchen Antrag bestehen entgegen der Ansicht des Antragsgegners keine Zweifel. Ein Rechtsschutzinteresse ist schon deshalb zu bejahen, weil sich die kraft Gesetzes erloschene aufschiebende Wirkung der Klage - sofern der Antragsgegner die Vollziehung nicht selbst bis zur Unanfechtbarkeit des Bescheides aussetzt - nur auf dem Weg über eine solche gerichtliche Entscheidung herstellen lässt und die aufschiebende Wirkung der Klage dem Antragsteller auf jeden Fall eine günstigere Rechtsposition vermittelt. Dies ergibt sich schon daraus, dass nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG für Zwecke der Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit der Aufenthaltstitel, den der Antragsteller vor der Ausweisung besaß, als fortbestehend gilt, solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Diese beschränkte Fiktion des Fortbestehens des bisherigen Aufenthaltstitels nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vermittelt dem Antragsteller in Bezug auf seine Erwerbstätigkeit einen besseren Schutz als die bisherige antragsabhängige Erteilung befristeter Duldungen durch den Antragsgegner. Im Übrigen besteht auch allgemein ein berechtigtes Interesse daran, vor einer sonst möglichen Vollziehung der Ausweisung und Abschiebungsandrohung auch rechtlich durch Herstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage - und nicht nur tatsächlich durch Erteilung von Duldungen seitens des Antragsgegners - geschützt zu sein. Auf die Frage, ob sich aus der aufschiebenden Wirkung der Klage auch noch weitere rechtlichen Vorteile, etwa im Hinblick auf die Möglichkeit einer Wiedereinreise nach einer Besuchsreise ins Ausland, ergeben, kommt es insoweit nicht an.
4. Der Antrag ist auch begründet. Für die Entscheidung über einen Antrag nach § 80b Abs. 2 VwGO gelten die gleichen Grundsätze wie für eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO. Dies folgt schon aus der Anordnung der entsprechenden Anwendung von § 80 Abs. 5 VwGO in § 80b Abs. 3 VwGO (Beschluss vom 19. Juni 2007 a.a.O. Rn. 14 m.w.N.). Bei der danach gebotenen Interessenabwägung überwiegt vorliegend das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage das Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung und Abschiebungsandrohung in dem angefochtenen Bescheid. Die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers sind nach der zu seinen Gunsten ausgefallenen Berufungsentscheidung und der Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache offen. Ein besonderes Vollzugsinteresse ist schon deshalb nicht ersichtlich, weil der Antragsgegner dem Antragsteller laufende Duldungen erteilt und - soweit ersichtlich - eine Abschiebung des Antragstellers vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht beabsichtigt. Zudem ist die Ausweisung auch nicht auf spezialpräventive, sondern nur noch auf generalpräventive Gründe gestützt. Demgegenüber ist das individuelle Interesse des seit 14 Jahren in Deutschland lebenden Antragstellers an der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung seiner Klage höher zu bewerten. Hierfür spricht schon der Umstand, dass der maßgebende Grund für die zeitliche Begrenzung der zuvor bestehenden aufschiebenden Wirkung durch § 80b Abs. 1 VwGO mit der der Klage stattgebenden Berufungsentscheidung entfallen ist. Der Gesetzgeber hat sich bei der Regelung von der Auffassung leiten lassen, dass es, wenn eine Anfechtungsklage im ersten Rechtszug nach eingehender Prüfung des Rechtsschutzbegehrens keinen Erfolg hat, in der Regel nicht gerechtfertigt sei, dass die aufschiebende Wirkung noch während eines eventuellen Rechtsmittelverfahrens fortdauert (BTDrucks 13/3993 S. 11 f.). Die Voraussetzungen für diese Vermutung des Gesetzgebers sind vorliegend durch den Erfolg der Klage im Berufungsverfahren beseitigt, wenn nicht gar in ihr Gegenteil verkehrt. Bei diesem Verfahrensstand spricht daher alles dafür, die Fortdauer der ursprünglich bestehenden aufschiebenden Wirkung der Klage anzuordnen.
Welche rechtlichen Auswirkungen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung und Abschiebungsandrohung mit Blick auf die vom Kläger beabsichtigte Ausreise zum Zwecke des Besuchs seiner Mutter im Kosovo und seine Wiedereinreise angesichts von § 84 Abs. 2 AufenthG hat, ist im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden.