Entscheidungsdatum: 22.08.2012
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 19. März 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 24 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und die Vollstreckung dieser Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die von dem Angeklagten eingelegte Revision führt bereits mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils nach § 349 Abs. 4 StPO; auf die erhobene Verfahrensrüge kommt es nicht mehr an.
I. Das Landgericht hat den Angeklagten der Steuerhinterziehung in 24 Fällen für schuldig befunden, weil er es trotz erzielter Einnahmen und getätigter Umsätze unterließ, Einkommensteuererklärungen (Veranlagungszeiträume 2002 bis 2008, Fälle 1 bis 7 der Urteilsgründe) und Gewerbesteuererklärungen (Veranlagungszeiträume 2003 bis 2005 und 2007 bis 2008, Fälle 8 bis 12 der Urteilsgründe) sowie Umsatzsteuerjahreserklärungen für die Jahre 2003 bis 2008 (Fälle 13 bis 18 der Urteilsgründe) und Umsatzsteuervoranmeldungen in sechs Voranmeldungszeiträumen des Jahres 2009 (Fälle 19 bis 24 der Urteilsgründe) abzugeben. Insgesamt seien hierdurch Steuern in einem Gesamtbetrag von 480.967 Euro verkürzt worden.
Im Einzelnen hat das Landgericht zu den Verurteilungen folgende Feststellungen getroffen:
1. Der Angeklagte war als Netzwerkmanager und Systemtechniker selbständig tätig und erwirtschaftete in den Jahren 2002 bis 2009 aus dieser gewerblichen Tätigkeit Umsätze und Gewinne, die er indes nicht den Finanzbehörden offenbarte; vielmehr gab er weder Einkommen- und Gewerbesteuererklärungen, noch Umsatzsteuererklärungen ab.
Soweit in einer Zeitspanne von bis zu 19 Monaten nach Ablauf der gesetzlichen Abgabefrist (vgl. § 149 Abs. 2 Satz 1 AO) Schätzungsbescheide ergingen (Einkommensteuer 2002 bis 2007; Gewerbesteuer 2003 bis 2005 und 2007; Umsatzsteuer 2003 bis 2007), leistete der Angeklagte hierauf keine Zahlungen.
Die Nichtabgabe der Steuererklärungen sowie die unterbliebene Zahlung von Steuern war, so das Landgericht, darauf zurückzuführen, dass der an einer Neurodermitis erkrankte Angeklagte für nicht erstattungsfähige Ayurveda-Behandlungen im Laufe der Jahre mehrere Hunderttausend Euro aufbringen musste.
Auch nachdem es im Jahr 2006 zu einem Strafverfahren gegen den Angeklagten kam, weil er bereits für die Jahre 1999 bis 2001 keine Steuererklärungen abgegeben hatte, änderte der Angeklagte sein Verhalten in der Folgezeit nicht.
Ab 2007 ging er vielmehr dazu über, sich eingehende Gelder auch auf schweizerische Bankkonten überweisen zu lassen, "um seine Umsätze zu verschleiern und eingehende Beträge" dem Zugriff der Finanzverwaltung zu entziehen. Auch trat er ab diesem Zeitpunkt teilweise unter der Firmenbezeichnung "I. " (einer "Briefkastenadresse") auf; die tatsächliche Tätigkeit erfolgte nach wie vor in Deutschland.
2. Am 3. Dezember 2008 wurde gegen den Angeklagten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der "Verkürzung von Einkommensteuer 2002 bis 2007 sowie Umsatzsteuer 2003 bis 2007" eingeleitet und dessen Bekanntgabe an den Angeklagten angeordnet. Am 24. November 2009 erließ das Amtsgericht Mainz Durchsuchungsbeschlüsse, "die auch die übrigen jetzt verfahrensgegenständlichen Taten betrafen".
3. Das Landgericht hat den geständigen Angeklagten auf der Grundlage dieser Feststellungen der jeweils vollendeten Steuerhinterziehung in insgesamt 24 Fällen für schuldig befunden und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die verhängten Einzelstrafen liegen in acht Fällen bei einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen, im Übrigen zwischen sechs Monaten und einem Jahr und zwei Monaten Freiheitsstrafe.
Den Strafrahmen hat das Landgericht - sachverständig beraten - im Hinblick auf eine "Persönlichkeitsstörung (…), die das Eingangsmerkmal der 'schweren anderen seelischen Abartigkeit' erfüllt", jeweils dem nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 370 Abs. 1 AO entnommen. Dabei ging es auch aufgrund des eigenen Eindrucks vom Angeklagten in der Hauptverhandlung davon aus, dass er "so stark auf die Behandlung seiner Hauterkrankung fixiert ist, dass er sich - … - über die erkannten und innerlich erfassten Anforderungen des Rechts hinwegsetzte". Weil der Angeklagte "gerade im Hinblick auf das Verfahren aus dem Jahr 2006 bereit ist, strafrechtliche Konsequenzen in Kauf zu nehmen", sei die Minderung der Steuerungsfähigkeit als erheblich anzusehen.
II. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Steuerhinterziehung hält rechtlicher Nachprüfung insgesamt nicht stand. Das angefochtene Urteil leidet an lückenhaften Feststellungen und durchgreifenden Darstellungsmängeln.
1. Soweit das Landgericht den Angeklagten jeweils wegen vollendeter Hinterziehung von Einkommensteuer in den Veranlagungszeiträumen 2002 bis 2007 (Fälle 1 bis 6 der Urteilsgründe) sowie Gewerbesteuer in den Veranlagungszeiträumen 2003 bis 2005 und 2007 (Fälle 8 bis 11 der Urteilsgründe) verurteilt hat, reichen die hierzu getroffenen Feststellungen schon mit Blick auf ergangene Schätzbescheide nicht aus. Den Urteilsgründen kann nicht entnommen werden, ob aufgrund der Nichtabgabe der Einkommen- und Gewerbesteuererklärungen der vom Landgericht angenommene Taterfolg der Steuerverkürzung eingetreten ist.
a) Sind bei der Hinterziehung von Veranlagungssteuern durch Unterlassen die Taten nicht bereits zuvor vollendet, so tritt mit der Bekanntgabe des Schätzungsbescheides, in dem die Steuer zu niedrig festgesetzt wird, Tatvollendung ein (vgl. Jäger in Klein, AO, 11. Aufl., § 370 Rn. 92). Wird die Steuer in dem Schätzungsbescheid hingegen richtig oder zu hoch festgesetzt, so kann die Tat nicht mehr vollendet werden, da kein Verkürzungserfolg mehr eintritt (vgl. Schmitz/Wulf in MüKo-StGB, § 370 AO Rn. 102 mwN; BayObLG, Beschluss vom 9. November 2000 - 4 StRR 126/00, wistra 2001, 194).
b) Dies hat das Landgericht übersehen, indem es zwar jeweils feststellt, wann die Schätzungsbescheide erlassen wurden, sich zu deren Inhalt - namentlich zur Höhe der in den Schätzungsbescheiden festgesetzten Steuern - hingegen nicht verhält.
c) Die Schuldsprüche konnten auch nicht unter dem Gesichtspunkt aufrechterhalten bleiben, dass die Taten bereits vor Erlass der Schätzungsbescheide vollendet waren, da die dann erforderlichen Feststellungen ebenfalls fehlen (zur Tatvollendung bei der Hinterziehung von Veranlagungssteuern vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. November 2010 - 1 StR 544/09, Rn. 77 und vom 28. Oktober 1998 - 5 StR 500/98, NStZ-RR 1999, 218; vgl. auch BGH, Beschluss vom 19. Januar 2011 - 1 StR 640/10).
2. Soweit für den Veranlagungszeitraum 2008 (Fälle 7 und 12 der Urteilsgründe) keine Schätzungsbescheide ergingen, ergeben sich Bedenken daraus, dass das Landgericht nicht erörtert hat, ob die durch Nichtabgabe der Steuererklärungen begangenen Taten der Hinterziehung von Einkommen- und Gewerbesteuer bereits vollendet waren, als dem Angeklagten die Erweiterung des Ermittlungsverfahrens um diese Tatvorwürfe bekannt gegeben wurde. Das Landgericht teilt in den Urteilsgründen zwar mit, dass das Amtsgericht Mainz am 24. November 2009 Durchsuchungsbeschlüsse erließ, die auch diese Tatvorwürfe umfassten. Es verhält sich jedoch nicht dazu, wann dem Angeklagten die Erweiterung des Ermittlungsverfahrens um diese Tatvorwürfe bekannt gegeben wurde. Dies ist jedoch mit Blick auf das in Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankerte Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung ("nemo tenetur se ipsum accusare"; vgl. hierzu BVerfGE 56, 37, 41 f., NJW 1981, 1431) für die strafrechtliche Bewertung von Belang: Mit einer entsprechenden Bekanntgabe der Erweiterung des Ermittlungsverfahrens wäre nämlich die strafbewehrte Pflicht entfallen, die Einkommen- beziehungsweise Gewerbesteuererklärung für diesen Veranlagungszeitraum noch abzugeben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. Mai 2009 - 1 StR 665/08, NStZ-RR 2009, 340 und vom 23. Januar 2002 - 5 StR 540/01, wistra 2002, 150; zusammenfassend Jäger in Klein, AO, 11. Aufl., § 393 Rn. 32).
3. Das Urteil hält auch in den übrigen Fällen der Steuerhinterziehung (Fälle 13 bis 24 der Urteilsgründe) sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Nach § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO muss jedes Strafurteil aus sich heraus verständlich sein (st.Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2000 - 3 StR 58/00, NStZ-RR 2000, 304 und Urteile vom 2. Dezember 2005 - 5 StR 268/05, NStZ-RR 2007, 22 und vom 13. Oktober 1981 - 1 StR 471/81, BGHSt 30, 225). Dies ist hier nicht der Fall. Soweit gebotene eigene Urteilsfeststellungen oder Würdigungen durch Bezugnahmen ersetzt werden, fehlt es - mit Ausnahme des in § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO geregelten Falles - verfahrensrechtlich an einer Urteilsbegründung und sachlich-rechtlich an der Möglichkeit der Nachprüfung durch das Revisionsgericht (vgl. Engelhardt in KK-StPO, 6. Aufl., § 267 Rn. 3 mwN; siehe auch BGH, Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 StR 103/12).
Das Landgericht hat seine Überzeugung aufgrund der geständigen Einlassungen des Angeklagten gebildet. Das von dem Angeklagten als "richtig anerkannte Zahlenwerk" hat die Strafkammer im Wesentlichen Aufstellungen entnommen, die auf der Grundlage von Auskünften der Auftraggeber und von Bankumsätzen erstellt worden waren. Dass der Angeklagte auch im Jahr 2006 - hier waren keine Auftraggeber bekannt - gewerbliche Einkünfte erzielt hatte, ergab sich zur Überzeugung des Landgerichts zum einen "aus seinem Internetprofil aus demselben Jahr". Ferner hat es seine Überzeugung aufgrund ansonsten nicht erklärlicher Bareinzahlungen auf einem vom Angeklagten genutzten Konto gebildet und diese Bareinzahlungen zur Bestimmung der Höhe seiner gewerblichen Einnahmen herangezogen.
Der Inhalt des in Bezug genommenen Internet-Profils wird nicht weiter mitgeteilt. Damit nimmt das Urteil Bezug auf Erkenntnisquellen außerhalb seiner selbst und ist schon nicht aus sich heraus verständlich. Dieser Mangel würde zwar dann den Bestand des Urteils nicht gefährden, wenn es trotz einer - dann überflüssigen - Bezugnahme aus sich heraus verständlich bliebe (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1995 - 3 StR 391/95, NStZ-RR 1996, 109). Vorliegend versteht es sich indes jedenfalls im Hinblick auf die ausgesprochen knapp gehaltene Beweiswürdigung nicht von selbst, dass der Angeklagte, der zu sachgerechten Angaben etwa über die Namen seine Auftraggeber im Jahr 2006 nicht in der Lage war, gleichwohl für sämtliche Tatvorwürfe pauschal sowohl das "Zahlenwerk" als auch die "Steuerschäden" einräumen konnte.
III. Daher kann das Urteil insgesamt keinen Bestand haben. Der Senat hebt das Urteil einschließlich sämtlicher Feststellungen auf; der nunmehr zur Entscheidung aufgeforderte Tatrichter kann so die erforderlichen Feststellungen insgesamt neu treffen.
IV. Der Senat weist vorsorglich auf Folgendes hin:
1. Für die neue Hauptverhandlung könnte es zweckmäßig sein, auch den insgesamt verantwortlich die Ermittlung leitenden Beamten zu hören.
2. Der Tatrichter wird Gelegenheit haben, die Besteuerungsgrundlagen neu festzustellen (zu den Anforderungen an die Feststellung und die Beweiswürdigung von Besteuerungsgrundlagen vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2009 1 StR 718/08, NJW 2009, 2546; vgl. auch BGH, Beschluss vom 13. Juli 2011 - 1 StR 154/11). Hierbei wird er prüfen, ob der Gewinn des Angeklagten jeweils durch Betriebsvermögensvergleich nach §§ 5, 4 Abs. 1 EStG oder nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 EStG durch Einnahme-Überschuss-Rechnung zu ermitteln war (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 6. September 2011 - 1 StR 633/10 mwN).
3. Es ist für jede Straftat, die der neue Tatrichter feststellt, eine Einzelstrafe festzusetzen. Dies ist vorliegend in den bisherigen Fällen 12, 17 und 18 der Urteilsgründe unterblieben. Die Festsetzung von Einzelstrafen auch in derartigen Fällen wäre kein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot (vgl. BGH, Beschluss vom 6. November 2002 - 5 StR 361/02, NStZ-RR 2003, 72; BGHR StPO § 358 Abs. 2 Satz 1 Einzelstrafe, fehlende 1, 2). Allerdings darf die neue Gesamtstrafe die Höhe der bisher verhängten nicht überschreiten.
4. Aus den oben dargelegten Gründen können sich bei der Hinterziehung von Veranlagungssteuern Schätzungsbescheide je nach Fallgestaltung auf die Tatvollendung, darüber hinaus auch auf die Höhe des Verkürzungsbetrages (vgl. BayObLG, Beschluss vom 9. November 2000 - 4 StRR 126/00, wistra 2001, 194) auswirken. Der neue Tatrichter wird daher in den bisherigen Fällen 1 bis 12 der Urteilsgründe Feststellungen dazu treffen, ob beziehungsweise wann dem Angeklagten Schätzungsbescheide bekannt gegeben wurden und in welcher Höhe Steuern darin festgesetzt wurden.
Sollte der Tatrichter die Feststellung treffen, dass dem Angeklagten in einzelnen Fällen bereits vor Bekanntgabe einzelner Schätzungsbescheide insoweit das Ermittlungsverfahren bekannt gegeben worden war, ist wegen des nemo-tenetur-Grundsatzes für die Annahme vollendeter Taten insoweit kein Raum.
5. Erheblich verminderte Schuldfähigkeit ist keine allgemeine persönliche Eigenschaft; vielmehr müssen sich die psychischen Störungen auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit bei Begehung der Tat ausgewirkt haben.
Dies liegt bei einem jahrelang systematisch auf die Vertuschung steuerrechtlich erheblicher Tatsachen angelegten System in der Regel fern (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 2009 - 1 StR 627/08, NJW 2009, 1979 ) und kann nicht - wie geschehen - allein mit dem nicht näher ausgeführten Hinweis auf Einsamkeit und die Fixierung auf eine Hauterkrankung und deren Behandlung durch Ayurveda tragfähig begründet werden.
Nack Wahl Hebenstreit
Jäger Sander