Entscheidungsdatum: 06.07.2018
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 15. Januar 2018 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer anderweitigen Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge zum Rechtsfolgenausspruch Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es am Morgen des 28. August 2016 an der S-Bahn-Haltestelle T. zwischen dem alkoholbedingt enthemmten Angeklagten und dem Nebenkläger zuerst zu einer verbalen und anschließend zu einer körperlichen Auseinandersetzung. Ausgangspunkt hierfür war, dass der Angeklagte den zunächst auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig befindlichen Nebenkläger provoziert und beleidigt hatte. Nachdem der Nebenkläger deswegen die Gleise überquert und dem Angeklagten zwei Schläge ins Gesicht versetzt hatte, dann aber bei dem anschließenden Gerangel zu Boden gegangen war, versetzte der Angeklagte dem Nebenkläger, der sich mit einem Arm am Boden abstützte, vier kraftvolle Fußtritte gegen den Kopf- und Gesichtsbereich. Nach dem dritten Tritt sackte der Nebenkläger bewusstlos nach hinten zusammen und blieb regungslos mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen. Nach einem weiteren Fußtritt ließ der Angeklagte von dem Nebenkläger ab, ohne sich weiter um dessen Wohlergehen zu kümmern, und begab sich zu der inzwischen eingefahrenen S-Bahn.
II.
Der Schuldspruch hält rechtlicher Nachprüfung stand. Insbesondere hat das Landgericht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen, dass die Fußtritte des Angeklagten aus Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt sein könnten. Auch die Würdigung des Landgerichts, der Angeklagte sei nicht strafbefreiend vom beendeten Versuch des Totschlags zurückgetreten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 StGB), wird von den Feststellungen getragen.
III.
Demgegenüber hält die Ablehnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Das Landgericht geht - gestützt auf die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen - davon aus, dass ein Hang des Angeklagten, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, zum Zeitpunkt der Tat nicht vorgelegen habe. Zwar habe der Sachverständige beim Angeklagten einen multiplen Substanzabusus diagnostiziert, bei dem ein langjähriger und regelmäßiger Cannabisabusus und in den letzten Monaten vor der Tat auch ein Alkoholabusus im Mittelpunkt gestanden hätten. Daneben habe der Angeklagte gelegentlich auch andere stimulierende oder psychodelische Substanzen eingenommen. Eine etablierte Abhängigkeitserkrankung liege jedoch noch nicht vor. Insbesondere hätten sich weder in Bezug auf Cannabis noch auf Alkohol, die beide häufiger konsumiert worden seien, konkrete und belastbare Anhaltspunkte für einen Suchtdruck oder stärkere Entzugserscheinungen ergeben. Der Konsum von Drogen und Alkohol sei zwar in den Monaten vor der Tat durch dissoziale Verläufe im Umfeld und Leben des Angeklagten begünstigt worden. Ein Hang im Sinne des § 64 StGB, Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, sei gleichwohl nicht sicher festzustellen. Weder aus den Angaben des Angeklagten selbst noch aus denen von Zeugen habe sich ergeben, dass sich das Leben des Angeklagten in den Monaten vor der Tat wesentlich um Drogen und Alkohol gedreht habe. Den Konsum von Alkohol habe der Angeklagte kontrollieren können. Er habe auch Tage und Abende ohne oder mit deutlich weniger Alkohol als am Abend und in der Nacht vor der verfahrensgegenständlichen Tat verbringen können, so dass nicht von einer den Angeklagten treibenden oder beherrschenden Neigung, Alkohol im Übermaß zu konsumieren, ausgegangen werden könne. Da der Angeklagte vor der Tat kein Cannabis zu sich genommen habe, bei der Tat auch nicht unter Entzugserscheinungen gelitten habe und die Tatausführung auch nicht in sonstiger Weise durch den regelmäßigen und langjährigen Konsum von Cannabis begünstigt worden sei, habe es zudem jedenfalls an einem symptomatischen Zusammenhang mit der verfahrensgegenständlichen Tat gefehlt (UA S. 98).
2. Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht rechtsfehlerhaft von einem zu engen Verständnis eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ausgegangen ist.
a) Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln im Sinne des § 64 StGB ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende aufgrund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Dezember 2017 - 1 StR 415/17 Rn. 10, NStZ-RR 2018, 105 [nur redaktioneller Leitsatz] und vom 14. Oktober 2015 - 1 StR 415/15 Rn. 7; Urteile vom 10. November 2004 - 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210 und vom 15. Mai 2014 - 3 StR 386/13 Rn. 10, NStZ-RR 2014, 271 [nur redaktioneller Leitsatz]). Insoweit kann dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum bereits die Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betreffenden erheblich beeinträchtigt ist, zwar indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hanges zukommen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. April 2008 - 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198, 199 und vom 14. Dezember 2005 - 1 StR 420/05, NStZ-RR 2006, 103, 104). Wenngleich solche Beeinträchtigungen in der Regel mit übermäßigem Rauschmittelkonsum einhergehen dürften, schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Bejahung eines Hanges aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Mai 2018 - 3 StR 166/18 Rn. 12; vom 14. Oktober 2015 - 1 StR 415/15 Rn. 7; vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113, 114; vom 2. April 2015 - 3 StR 103/15 Rn. 6 und vom 1. April 2008 - 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198, 199). Auch stehen das Fehlen ausgeprägter Entzugssyndrome sowie Intervalle der Abstinenz der Annahme eines Hanges nicht entgegen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. März 2010 - 3 StR 88/10, NStZ-RR 2010, 216 und vom 12. April 2012 - 5 StR 87/12, NStZ-RR 2012, 271). Er setzt auch nicht voraus, dass die Rauschmittelgewöhnung auf täglichen oder häufig wiederholten Genuss zurückgeht; vielmehr kann es genügen, wenn der Täter von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit seiner Neigung zum Rauschmittelkonsum folgt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Mai 2018 - 3 StR 166/18 Rn. 12; vom 20. Februar 2018 - 3 StR 645/17 Rn. 8, NStZ-RR 2018, 140 [nur redaktioneller Leitsatz]; vom 7. Januar 2009 - 5 StR 586/08, NStZ-RR 2009, 137 und vom 20. Februar 2018 - 3 StR 645/17 Rn. 8, NStZ-RR 2018, 140 [nur redaktioneller Leitsatz]).
b) Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben drängt sich das Vorliegen eines Hanges im Sinne des § 64 StGB hier schon angesichts des festgestellten multiplen Substanzabusus (UA S. 27, 97) auf, welcher deutlich auf eine den Angeklagten treibende Neigung hindeutet, Alkohol und Betäubungsmittel im Übermaß zu konsumieren. In dessen Mittelpunkt stand nach den Urteilsfeststellungen in den Monaten vor der Tat verstärkt ein Alkoholabusus; daneben nahm der Angeklagte neben seinem regelmäßigen Cannabiskonsum auch noch andere stimulierende oder psychodelische Substanzen ein. Angesichts dieses Konsumverhaltens erscheint der Angeklagte ersichtlich sozial gefährdet und auch gefährlich. So geht das Landgericht selbst davon aus, dass der Konsum von Drogen und Alkohol in den Monaten vor der Tat durch dissoziale Verläufe im Umfeld und Leben des Angeklagten begünstigt worden sei (UA S. 98). Auch bei der Tat selbst war der bereits mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten vorbestrafte Angeklagte erheblich alkoholisiert und enthemmt. Zwar hält das Landgericht die von dem Angeklagten in der Hauptverhandlung angegebenen Trinkmengen, die zu einer Blutalkoholkonzentration von 4,9 Promille geführt hätten (UA S. 55), nicht für glaubhaft. Es hält jedoch die von dem Angeklagten bei seiner körperlichen Untersuchung gemachten Angaben, auf deren Grundlage der rechtsmedizinische Sachverständige für den Tatzeitpunkt eine maximale Blutalkoholkonzentration von 2,46 Promille errechnet hat, für nachvollziehbar.
Schließlich steht auch der vom Landgericht angeführte Umstand, der Angeklagte „habe auch Tage und Abende ohne oder mit deutlich weniger Alkohol als am Abend und in der Nacht vor der hier gegenständlichen Tat verbringen“ können (UA S. 98), der Annahme einer eingewurzelten Neigung, Alkohol im Übermaß zu konsumieren, nicht entgegen. Dies belegt allenfalls, dass der Angeklagte kurzzeitig in der Lage war, seinen Rauschmittelkonsum zu verringern oder einzustellen, was jedoch einen Hang nicht ausschließt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Dezember 2017 - 1 StR 415/17 Rn. 11, NStZ-RR 2018, 105 [nur redaktioneller Leitsatz] und vom 14. Juni 2016 - 1 StR 219/16, BGHR StGB § 64 Hang 4; Urteil vom 15. Mai 2014 - 3 StR 386/13 Rn. 10, NStZ-RR 2014, 271 [nur redaktioneller Leitsatz]). Denn es kann genügen, was hier angesichts des für den Angeklagten festgestellten Rauschmittelkonsums naheliegt, dass der Täter von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit seiner Neigung zum Rauschmittelkonsum folgt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Mai 2018 - 3 StR 166/18 Rn. 12; vom 20. Februar 2018 - 3 StR 645/17 Rn. 8, NStZ-RR 2018, 140 [nur redaktioneller Leitsatz] und vom 7. Januar 2009 - 5 StR 586/08, NStZ-RR 2009, 137).
3. Im Hinblick auf den vom Landgericht festgestellten multiplen Substanzabusus des Angeklagten hält angesichts der Alkoholisierung des Angeklagten zur Tatzeit die Annahme des Landgerichts, es fehle auch mit Blick auf den regelmäßigen Cannabiskonsum des Angeklagten an einem symptomatischen Zusammenhang mit der verfahrensgegenständlichen Tat, ebenfalls rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
IV.
Über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt muss deshalb - wiederum unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO) - neu verhandelt und entschieden werden.
Die fehlerhafte Ablehnung der Maßregelanordnung zieht gemäß § 5 Abs. 3, § 105 Abs. 1 JGG wegen des dort vorgegebenen sachlichen Zusammenhangs zwischen Strafe und Unterbringung die Aufhebung des Strafausspruchs nach sich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. Oktober 2015 - 3 StR 314/15, StV 2016, 734 f.; vom 25. November 2014 - 5 StR 509/14 Rn. 4 und vom 12. März 2012 - 3 StR 42/12 Rn. 2).
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