Entscheidungsdatum: 19.10.2011
Aussetzung durch im Stich lassen ist stets ein Unterlassungsdelikt; eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB ist nicht möglich, auch nicht, wenn der Täter durch die Tat den Tod des Opfers verursacht (§ 221 Abs. 3 StGB) .
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 20. Dezember 2010 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Die Strafkammer hat festgestellt:
Der Angeklagte lebte mit einer sieben Jahre jüngeren Frau zusammen, für die er "Verantwortung übernommen hatte". So unterstützte er etwa ihr Bemühen, einen Schulabschluss nachzuholen. Als sie während eines Gaststättenbesuchs über Schwindelanfälle klagte, ging er mit ihr nach Hause. Dort gab es Streit, weil er einen ihrer Slips bei einem Mitbewohner gefunden hatte. Sie wollte den Streit beenden und ging ins Schlafzimmer. Aus nicht aufklärbaren Gründen kippte sie gegen 2.35 Uhr in der Nacht über ein 84 cm hohes Balkongeländer. Sie hing außen mit den Beinen zur gut 12 m tiefer liegenden Straße, konnte sich aber zunächst mit den Händen von außen festhalten. Sie schrie mehrfach laut um Hilfe, wie in den umliegenden Häusern gehört wurde, z.B. mit den Worten "A.
Die Strafkammer geht davon aus, dass der Angeklagte erkannte, dass sie in Todesgefahr war, wobei er jedoch - was nicht näher begründet ist und sich nicht ohne Weiteres aufdrängt - darauf vertraute, dass am Ende nichts passieren würde, weshalb er hinsichtlich ihres Todes nur fahrlässig gehandelt habe. Auf dieser Grundlage hat sie ihn gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB (im Stich lassen) i.V.m. § 221 Abs. 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
Die auf die Sachrüge gestützte Revision, die in Erwiderung auf den Antrag des Generalbundesanwalts (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) näher ausgeführt wurde, bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Das im Wesentlichen gegen die Beweiswürdigung gerichtete Vorbringen, das dahin zusammengefasst ist, der Angeklagte wäre unter Verletzung des Zweifelssatzes verurteilt worden, ist unbehelflich. Anhaltspunkte für Zweifel der Strafkammer sind nicht ersichtlich; darauf, dass sie nach Auffassung der Revision Zweifel hätte haben müssen, bzw. auf die Zweifel der Revision kommt es nicht an (vgl. zusammenfassend Schoreit in KK, 6. Aufl., § 261 Rn. 59 mwN).
2. Auch im Übrigen hält das Urteil rechtlicher Überprüfung im Ergebnis stand. Der näheren Erörterung bedarf dabei nur Folgendes:
Die Strafkammer ist letztlich davon ausgegangen, dass der Angeklagte "zumindest unmittelbar bevor sie … abstürzte" in der Wohnung war, nachdem sie (naheliegend) nicht auf die Sekunde genau klären konnte, ob der Angeklagte die Wohnung kurz vor dem Absturz, zum Zeitpunkt des Absturzes oder kurz danach verließ. Rechtliche Erwägungen dazu, ob hier der Angeklagte seine Freundin dadurch i.S.d. § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB "im Stich ließ", dass er ohne Ortswechsel passiv blieb, oder dadurch, dass er die Wohnung verließ - beide Möglichkeiten gehen hier ineinander über -, also ob er sich durch Tun oder durch Unterlassen strafbar gemacht hat, sind nicht angestellt.
a) Der Schuldspruch bleibt hiervon allerdings von vorneherein unberührt.
b) Der Strafausspruch könnte jedoch dann keinen Bestand haben, wenn trotz einer auch durch aktives Tun möglichen Strafbarkeit hier eine Strafbarkeit durch Unterlassen und dementsprechend nach tatrichterlichem Ermessen eine (hier nicht geprüfte) Milderung des Strafrahmens gemäß § 13 Abs. 2 StGB in Frage käme (vgl. BGH, Beschluss vom 17. August 1999 - 1 StR 390/99, NStZ 1999, 607).
Der Senat hat dies jedoch verneint.
(1) Seit der Neufassung von § 221 StGB durch Art. 1 Nr. 37 des 6. StrRG vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 164) hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. die Übersicht bei Wielant, Die Aussetzung nach § 221 StGB, S. 504) die Rechtsnatur von § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB im Sinne einer Abgrenzung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt noch nicht behandelt. Die Fachliteratur vertritt unterschiedliche Standpunkte. Etliche Autoren sprechen sich für ein sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen begehbares Delikt aus (z.B. Eser in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 221 Rn. 10; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 221 Rn. 12; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 221 Rn. 4; Jähnke in LK, 11. Aufl., § 221 Rn. 22, 28, 29 mit ausdrücklichem Hinweis auf die Anwendbarkeit von § 13 Abs. 2, StGB aaO, Rn. 43; zusammenfassend Wielant, aaO, S. 114 mwN in Fußn. 194; Lautner, Systematik des Aussetzungstatbestands S. 196 mwN in Fußn. 1039). Andere halten § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB für ein (reines) Unterlassungsdelikt (z.B. Horn/Wolters in SK StGB, § 221 Rn. 6; Hardtung in MüKo-StGB, § 221 Rn. 2; Neumann in NK-StGB, 3. Aufl., § 221 Rn. 19; zusammenfassend Wielant, aaO, S. 112 f. mwN in Fußn. 183; Lautner, aaO, mwN in Fußn. 1045 ff.). § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB wird auch als der (normierte) unechte Unterlassungstatbestand zu § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB angesehen (vgl. z.B. Roxin, StGB, AT II § 31 Rn. 18; zusammenfassend Wielant, aaO, S. 400 f. mwN; Roxin, aaO, Rn. 250 weist ausdrücklich auf die Anwendbarkeit von § 13 Abs. 2 StGB hin). Teilweise wird noch weiter differenziert (z.B. Küper, ZStW 111, 30, 58 f.; Hohmann/Sander, StGB, BT II 2. Aufl., S. 48).
(2) Der Senat hält § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB für ein Unterlassungsdelikt. Das Verlassen des Opfers ist - anders als nach der früheren Gesetzeslage (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 30. September 1991 - 1 StR 339/91, BGHSt 38, 78 ff.) - nur noch ein faktischer Anwendungsfall, aber kein gesetzlicher Unterfall des Im-Stich-Lassens. Dass der Täter die gebotene Handlung deshalb nicht vornimmt, weil er den Ort, an dem er handeln müsste, verlässt, ändert nichts an dem grundsätzlichen Rechtscharakter der Tat (vgl. Neumann, aaO). Letztlich ist bei der Bewertung von Verhaltensweisen unter dem Blickwinkel, ob strafbares Tun oder strafbares Unterlassen vorliegt, darauf abzustellen, worin der "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" liegt (st. Rspr., vgl. BGH (GrSSt), Beschluss vom 17. Februar 1954 - GSSt 3/53, BGHSt 6, 46, 59; BGH, Urteil vom 1. Februar 2005 - 1 StR 422/04, BGH NStZ 2005, 446, 447; BGH, Urteil vom 12. Juli 2005 - 1 StR 65/05, NStZ-RR 2006, 174, 175; w. Nachw., auch für die anderen Auffassungen, bei Wielant, aaO, S. 156 Fußn. 379). Dieser liegt darin, dass der Täter die gebotene Hilfeleistung unterlässt, ohne dass es darauf ankommt, ob er sich (zusätzlich) entfernt.
c) Ob § 13 StGB anwendbar und damit auch (fakultativ) eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB möglich ist, richtet sich danach, ob ein "echtes" oder "unechtes" Unterlassungsdelikt vorliegt. Für "echte" Unterlassungsdelikte gilt § 13 StGB nicht (vgl. zusammenfassend Fischer, StGB, 58. Aufl., § 13 Rn. 3 mwN). "Echte" Unterlassungsdelikte müssen keinen Taterfolg aufweisen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 1960 - 2 StR 65/60, BGHSt 14, 280, 281; BayObLG, Beschluss vom 22. Januar 1990 - RReg 1 St/5/90, NJW 1990, 1861; Fischer, aaO, vor § 13 Rn. 16). So verhält es sich letztlich hier. Das pflichtwidrige Garantenverhalten führt im Rahmen von § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht zu einer Verantwortlichkeit für den daraus resultierenden Verletzungserfolg, sondern zur strafrechtlichen Haftung für die nicht abgewendete konkrete Gefahr (Küper, aaO, 58 f.). Ist aber aus diesen Gründen § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB echtes Unterlassungsdelikt, sodass § 13 StGB nicht anwendbar ist (so auch die überwiegende Meinung in der Fachliteratur, vgl. zusammenfassend Wielant, aaO, S. 398 mwN in Fußn. 1459, auch für gegenteilige Auffassungen), kann für den hierauf aufbauenden Qualifikationstatbestand des § 221 Abs. 3 StGB nichts anderes gelten.
Der Senat hat dabei erwogen, dass bei Vorsatz hinsichtlich der Todesfolge Totschlag (§ 212 StGB) vorläge und § 221 StGB dahinter zurücktreten würde (Fischer, aaO, § 221, Rn. 28; zu § 221 StGB aF ebenso schon BGH, Urteil vom 27. März 1953 - 1 StR 689/52, BGHSt 4, 114, 116). Bei einer Strafbarkeit gemäß § 212 StGB ist § 13 Abs. 2 StGB jedoch grundsätzlich anwendbar, so dass gegebenenfalls die Mindeststrafe bei Fahrlässigkeit hinsichtlich der Todesfolge (drei Jahre Freiheitsstrafe gemäß § 221 StGB) höher sein könnte als bei Vorsatz (zwei Jahre Freiheitsstrafe gemäß § 212 Abs. 1 StGB i.V.m. § 13 Abs. 2 StGB und § 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Ohne dass hier über einen solchen Fall zu entscheiden wäre, würde nach Auffassung des Senats zur Vermeidung des aufgezeigten Wertungswiderspruchs (vgl. hierzu auch Roxin, aaO, Rn. 250) der Grundsatz, dass die Mindeststrafe eines auf Konkurrenzebene hinter einem anderen Delikt zurücktretenden Delikts eine Sperrwirkung entfaltet (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 24. November 2005 - 4 StR 243/05, NStZ 2006, 288, 290 mwN; vgl. auch zusammenfassend Fischer, aaO, vor § 52 Rn. 45 mwN) hier entsprechend gelten.
Nack Wahl Elf
Jäger Sander