Entscheidungsdatum: 16.03.2017
1. Das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 22. Juli 2014 - 7 U 105/12 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
2. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Hanseatische Oberlandesgericht zurückverwiesen.
3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
4. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat der Beschwerdeführerin die ihr im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
5. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine zivilgerichtliche Unterlassungsverurteilung.
1. Die Beschwerdeführerin verlegt die Tageszeitung "taz" und betreibt die Internetseite www.taz.de. Der Kläger des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Kläger) ist Journalist bei der BILD-Zeitung und Autor mehrerer Bücher, die teilweise in Zusammenarbeit mit Politikern entstanden sind, wie auch des Buchs des ehemaligen Ministerpräsidenten Wulff "Besser die Wahrheit", das im Jahr 2007 in Form eines Interviewbuchs erschien. Der Kläger hatte mit dem Verlag einen Autorenvertrag geschlossen. Die Rechnung für eine bereits geschaltete Werbekampagne reichte der Verlag an einen bekannten Unternehmer weiter, der im Februar 2008 aus seinen Privatmitteln einen Betrag von 42.700 € auf diese Rechnung zahlte.
Die BILD-Zeitung berichtete am Abend des 19. Dezember 2011 über diesen Vorgang unter www.bild.de, als der damalige Bundespräsident (zunächst) wegen eines privaten Darlehens und eines diesbezüglichen Anrufs beim damaligen Chefredakteur von BILD media unter Beschuss geraten war. Sie veröffentlichte in diesem Zusammenhang ein Zitat des Klägers vom Vortag, dass er "erst heute" von der Weitergabe der Rechnungen erfahren habe. Am 20. Dezember 2011 erschien auf www.bild.de ein Beitrag des Klägers, in dem er die Anzeigenfinanzierung kritisierte. In der Überschrift wurde er namentlich genannt und mitgeteilt, dass er die Anzeigen für problematisch halte.
Dies nahm die Beschwerdeführerin zum Anlass, am 21. Dezember 2011 in der Printausgabe die streitgegenständliche Berichterstattung zu veröffentlichen.
Bundespräsident unter Beschuss
Abseits des Geheuls
Wulff wankt. Muss er zurücktreten? Gründe dafür gibt es, jeden Tag ein paar mehr. Aber Journalisten sollen in dieser Frage nicht der Maßstab sein. Ein Plädoyer.(…)
Auch Christian Wulff steht zu Christian Wulff. (…) Anders die Medien, viele haben ihr Urteil über den Bundespräsidenten gefällt. Zu beobachten ist ein bemerkenswerter Schulterschluss vom Boulevard zum Feuilleton, ein seltenes Medienereignis. Das letzte Mal zu bestaunen, als Joachim Gauck ins Schloss Bellevue einziehen sollte. Es hat nicht geklappt.
Sollen Schlagzeilen Wulff stürzen?
(…) Die Bild collagiert eine Auswahl eindeutiger Überschriften ("Wulffs heikle Urlaubs-Liste", "Wulff wartet auf Weihnachtswunder", "Ein Präsident auf Abruf") und fragt, scheinbar besorgt, ernsthaft scheinheilig: "Wie lange hält das Amt solche Schlagzeilen aus?"
Eine interessante Frage, die viel über ihren Urheber im Speziellen und die Debatte im Allgemeinen aussagt. (…) Interessant ist diese Frage vor allem dann, wenn sie die Bild stellt. Das Boulevardblatt ist in der Causa Wulff nicht Beobachter. Sondern Akteur. Bild-Autor (…) [= der Kläger] schrieb das umstrittene Wulff-Buch "Besser die Wahrheit", für das der Millionär M. Werbeanzeigen im Wert von rund 50.000 Euro schaltete. In der heutigen Ausgabe des Boulevardblattes behauptete [der Kläger], er habe von nichts gewusst: "Ich habe erst heute erfahren, dass die Rechnung vom Verlag an Herrn M. weitergegeben wurde".
Ob [der Kläger] die Wahrheit sagt oder lügt, ob er vom Wulff-M.-Sumpf wusste (oder womöglich selbst darin schwamm), ist kaum herauszufinden. In der großen Affäre um den Bundespräsidenten bleibt diese Frage allenfalls eine Randnotiz. [Der Kläger] muss, anders als der Bundespräsident, kaum fürchten, dass seine Verstrickungen enthüllt und seine Abhängigkeiten öffentlich werden. Er ist Journalist, nicht Politiker. Das ist, in diesem Fall, sein Glück.
Der Kläger begehrte von der Beschwerdeführerin Unterlassung des letzten Absatzes. Hilfsweise beantragte er die Beschwerdeführerin zur Unterlassung zu verurteilen, durch die Passage den Verdacht zu erwecken, dass der Kläger bereits vor dem 19. Dezember 2011 gewusst habe, wer die Werbeanzeigen für das Buch "Besser die Wahrheit" finanziert habe.
2. Nachdem das Landgericht die Klage abgewiesen hatte, änderte das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil ab und gab dem Hilfsantrag statt. Die angegriffene Berichterstattung verletze den Kläger rechtswidrig in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Es handle es sich um eine Verdachtsberichterstattung. Ein unbefangener Durchschnittsleser werde die Passage nicht als Meinungsäußerung auffassen, sondern dergestalt, dass die Beschwerdeführerin den Vorgang um die Kenntnisnahme des Klägers von der Bezahlung der Anzeigen bewerte. Die Beschwerdeführerin stelle nicht die Behauptung auf, dass der Kläger lüge, sie verbreite aber einen entsprechenden Verdacht. Maßgebliches Gewicht komme dabei dem Satz "Das ist, in diesem Fall, sein Glück." zu. Dieses Glück bestehe nach dem Leserverständnis dahin, dass auf Grund der ausgebliebenen Nachforschungen die Verstrickungen des Klägers nicht zutage treten würden. Damit gehe im Gesamtkontext der Verdacht einher, der Kläger habe gelogen. Im vorliegenden Rechtsstreit habe die Vernehmung des zuständigen Verlagsmitarbeiters die entsprechende Behauptung der Beschwerdeführerin nicht bestätigt. Die angegriffene Berichterstattung verletze das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers, setze sie ihn doch dem Verdacht aus, gelogen zu haben. Für die Äußerung dieses Verdachtes fehle es aber am Mindestbestand an Beweistatsachen, so dass sie unzulässig sei.
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts und rügt insbesondere die Verletzung ihrer Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
4. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, die Präsidentin des Bundesgerichtshofs und der Kläger erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme. Von einer Stellungnahme wurde abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen dem Bundesverfassungsgericht vor.
Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, soweit sie sich gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts richtet und mit ihr eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gerügt wird. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen im Bereich des Äußerungsrechts und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bereits entschieden (vgl. BVerfGE 85, 1; 99, 185; 114, 339). Danach ist die Verfassungsbeschwerde im Umfang der Annahme zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.
2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
a) Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivilrechtlichen Bestimmungen ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte. Bei ihrer Entscheidung haben sie jedoch dem Einfluss der Grundrechte auf die Vorschriften des Zivilrechts Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>; 85, 1 <13>; stRspr). Handelt es sich um Gesetze, die die Meinungsfreiheit beschränken, ist dabei nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das eingeschränkte Grundrecht zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>). Ein Verstoß gegen Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, liegt erst vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <93>; 42, 143 <149>; 85, 1 <13>). Handelt es sich um Eingriffe in die Meinungsfreiheit, kann dies allerdings schon bei unzutreffender Erfassung oder Würdigung einer Äußerung der Fall sein (BVerfGE 85, 1 <13>). Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind ferner verkannt, wenn die Gerichte eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik einstufen mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind (BVerfGE 85, 1 <14> m.w.N).
b) Während Tatsachenbehauptungen durch die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit geprägt werden und der Überprüfung mit Mitteln des Beweises zugänglich sind (vgl. BVerfGE 90, 241 <247>; 94, 1 <8>), handelt es sich bei einer Meinung um eine Äußerung, die durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt ist (vgl. BVerfGE 7, 198 <210>; 61, 1 <8>; 90, 241 <247>; 124, 300 <320>). Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Tatsachenbehauptung oder als Werturteil anzusehen ist, kommt es entscheidend auf den Gesamtkontext der fraglichen Äußerung an (vgl. BVerfGE 93, 266 <295>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 4. August 2016 - 1 BvR 2619/13 -, juris, Rn.13).
c) Die angegriffene Entscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Das Oberlandesgericht geht in verfassungsrechtlich nicht tragbarer Weise davon aus, dass die Äußerung der Beschwerdeführerin als Tatsache einzuordnen ist und mithin die Grundsätze zur Verdachtsberichterstattung zur Anwendung kommen. Dass Oberlandesgericht verneint zunächst das Vorliegen einer Meinungsäußerung mit der Begründung, dass die Beschwerdeführerin eine Bewertung vornehme. Diese Begründung ist nicht schlüssig, da eine Bewertung gerade keine dem Beweis zugängliche Tatsachenbehauptung ist. Das Oberlandesgericht nimmt dennoch eine Tatsachenbehauptung an und wendet die Grundsätze zur Verdachtsberichterstattung an, die bei Tatsachenbehauptungen, deren Wahrheitsgehalt ungeklärt ist, zur Anwendung kommen (vgl. BVerfGE 114, 339 <353>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2009 - 1 BvR 134/03 -, NJW-RR 2010, S. 470 <471>; BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013 - VI ZR 211/12 -, NJW 2014, S. 2029 <2932>). Das Oberlandesgericht verkennt hierbei, dass die kritische Bewertung der Äußerung des Klägers und die als bloße Vermutung ausgewiesenen Zweifel an der Wahrheit dieser Aussage von Elementen der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt sind und, abgeleitet aus den konkreten Umständen der Nähe des Klägers zu den in Frage stehenden Ereignissen, damit ein Werturteil darstellen.
d) Bereits die unzutreffende Einordnung der Äußerung als Tatsachenbehauptung verletzt die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Diese wirkt sich auch auf die vorgenommene Abwägung aus, bei der sich das Oberlandesgericht auf die Feststellung beschränkt, dass es an einem Mindestbestand an Beweistatsachen fehlt.
3. Die Entscheidung beruht auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen wird. Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung ist der Gesamtzusammenhang der streitgegenständlichen Äußerung zu beachten, die in eine Kritik am medialen Umgang mit dem Bundespräsidenten eingebettet war und an die Tätigkeit des Klägers als Autor des Buchs anknüpft. In die Abwägung wird weiter einzustellen sein, dass sich der Kläger mit seinem Artikel selbst in die Öffentlichkeit begeben hat.
4. Soweit die Beschwerdeführerin das Urteil des Landgerichts angreift und die Verletzung weiterer Grundrechte rügt, wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Von einer Begründung wird insoweit gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
6. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).