Entscheidungsdatum: 07.10.2015
1. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Landshut vom 12. April 2011 - 125 UR II 400/11 - und vom 17. Mai 2011 - 125 UR II 400/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Damit wird die Verfügung des Amtsgerichts vom 1. Juli 2011 gegenstandslos. Die Sache wird an das Amtsgericht Landshut zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde wird auf 15.000 € (in Worten: fünfzehntausend Euro) festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe für ein sozialrechtliches Widerspruchsverfahren.
I.
1. Der Beschwerdeführer beantragte über seinen Bevollmächtigten beim Amtsgericht die nachträgliche Gewährung von Beratungshilfe für einen Widerspruch gegen die beigefügte Ablehnung seines Antrags auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die Deutsche Rentenversicherung. Er wies darauf hin, dass der Bevollmächtigte den Widerspruch bereits eingelegt habe.
Die Rechtspflegerin beim Amtsgericht wies den Antrag mit der Begründung zurück, der Beschwerdeführer hätte den Widerspruch selbst vor Ort beim Rentenversicherungsträger schriftlich aufnehmen lassen können. Er versuche, bei jeglichen für ihn unangenehmen Lebenssituationen über die Beratungshilfe einen Rechtsanwalt auf Staatskosten zu beauftragen, so dass von Mutwilligkeit ausgegangen werden könne.
Die hiergegen gerichtete Erinnerung des Beschwerdeführers wurde vom Amtsgericht mit richterlichem Beschluss als unbegründet verworfen. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, neben dem Ablehnungsgrund der Mutwilligkeit sei auch der Ablehnungsgrund des § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz - BerHG) gegeben. Dem Beschwerdeführer wäre es ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, den Widerspruch selbst beim Rentenversicherungsträger einzulegen. Damit hätte er in gleicher Weise wie durch die Einlegung des Widerspruchs mittels Anwaltsschreiben die Überprüfung seines Anliegens erreichen können.
2. Mit seiner gegen die beiden Beschlüsse des Amtsgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde, deren Gegenstand er um die Entscheidung des Amtsgerichts über eine parallel hierzu erfolglos erhobene Gegenvorstellung erweitert hat, rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG.
3. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der zugunsten des Beschwerdeführers durch Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG gewährleisteten Rechtswahrnehmungsgleichheit angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Entscheidung maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 122, 39 <48 ff.>). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
1. Die angegriffenen Beschlüsse vom 12. April und 17. Mai 2011 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG.
a) Das Grundgesetz verbürgt in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG die Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich, somit auch im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz (vgl. BVerfGE 122, 39 <48 ff.>). Dabei brauchen Unbemittelte nur solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>; 122, 39 <51>). Kostenbewusste Rechtsuchende werden dabei insbesondere prüfen, inwieweit sie fremde Hilfe zur effektiven Ausübung ihrer Verfahrensrechte brauchen oder selbst dazu in der Lage sind. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfe keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden (vgl. BVerfGK 15, 438 <444>). Ob diese zur Beratung notwendig ist oder Rechtsuchende zumutbar (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. November 2010 - 1 BvR 787/10 -, juris, Rn. 14) auf Selbsthilfe verwiesen werden können, hat das Fachgericht unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls abzuwägen. Insbesondere kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, ob Rechtsuchende selbst über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen (vgl. BVerfGK 15, 438 <444>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. September 2010 - 1 BvR 623/10 -, juris, Rn. 13) oder ob Beratung durch Dritte für sie tatsächlich erreichbar ist. Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde (vgl. BVerfGK 15, 438 <444>; 15, 585 <586>; 18, 10 <13>).
b) Diesen Anforderungen genügen die angefochtenen Entscheidungen nicht. Das Amtsgericht hat ohne die verfassungsrechtlich gebotene Einzelfallprüfung den Beratungshilfeantrag des Beschwerdeführers abgelehnt und sein Beratungshilfebegehren sogar für mutwillig erachtet.
Beide Beschlüsse verweisen den Beschwerdeführer für die Einlegung des Widerspruchs auf die Selbsthilfe, ohne konkret zu prüfen, ob ein bemittelter Rechtsuchender die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe für das Widerspruchsverfahren in Betracht ziehen würde. Der amtsrichterliche Beschluss lässt zudem den Vortrag des Beschwerdeführers in seiner Erinnerung außer Acht, dass er die anwaltliche Hilfe auch für die Begründung des Widerspruchs beantrage. Die pauschale Wertung, die Einlegung des Widerspruchs durch den Beschwerdeführer selbst wahre seine Verfahrensrechte im Widerspruchsverfahren ebenso effektiv wie die Einlegung des Widerspruchs mittels Anwaltsschreibens, verkennt, dass regelmäßig nicht bereits die bloße Erhebung des Widerspruchs zur begehrten Änderung der angefochtenen Entscheidung führt, sondern erst dessen sorgfältige Begründung. Es setzt eine Darlegung für den Einzelfall voraus, dass eine Begründung des Widerspruchs entbehrlich ist. Auch im Übrigen ist den Beschlüssen keine Begründung dazu zu entnehmen, warum die beantragte Beratung für die Durchführung des Widerspruchsverfahrens entbehrlich gewesen sein soll und der Beschwerdeführer deshalb zumutbar auf Selbsthilfe verwiesen werden konnte.
Erst recht trägt der pauschale Hinweis im Beschluss vom 12. April 2011 auf ein angebliches Bestreben des Beschwerdeführers, für jegliche Lebenslagen eine anwaltliche Vertretung zu erlangen, die Annahme einer Mutwilligkeit des Antrags auf Beratungshilfe für das konkrete Widerspruchsverfahren wegen der Ablehnung einer Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation nicht. Der Beschluss vom 17. Mai 2011 übernimmt diese Wertung, ohne sie weiter zu begründen.
2. Die Beschlüsse des Amtsgerichts sind hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Die Sache selbst ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
4. Die Entscheidung über den Gegenstandswert beruht auf § 37 Abs. 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG.