Entscheidungsdatum: 31.01.2017
1. Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 18. Januar 2016 - 534 Qs 4/16 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit das Landgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. Februar 2015 - 254 Ds 21/15 - als unzulässig verworfen hat. Der Beschluss wird insoweit aufgehoben und die Sache an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.
2. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die gerichtliche Gewährung von Einsicht in die Akten eines gegen ihn geführten Strafverfahrens an die Bevollmächtigte der Nebenklägerin sowie gegen die Verwerfung seiner hiergegen gerichteten Beschwerde durch das Landgericht.
Im April 2014 erstattete die Bevollmächtigte der - damals sechzehnjährigen - leiblichen Tochter des Beschwerdeführers (und späteren Nebenklägerin) Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB) zu deren Nachteil. Zugleich ließ diese unter Berufung auf ihre Nebenklageberechtigung die Gewährung von Akteneinsicht beantragen, die die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 24. September 2014 ohne Anhörung des Beschwerdeführers gewährte.
Nach Eingang einer umfangreichen Stellungnahme des Verteidigers des Beschwerdeführers, in der dieser dessen persönliche Entwicklung seit seinem 7. Lebensjahr - einschließlich von Einzelheiten zu seiner Beziehung zur Kindsmutter - darlegte und er seine Sicht der ihm vorgeworfenen Geschehnisse schilderte, erhob die Staatsanwaltschaft im Januar 2015 Anklage wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen.
1. Mit nicht begründetem Beschluss vom 23. Februar 2015 gewährte das Amtsgericht der Bevollmächtigten der Nebenklägerin auf deren Antrag hin ergänzende Akteneinsicht, wovon diese telefonisch in Kenntnis gesetzt wurde.
Mit Schreiben vom 13. März 2015 beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers, die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen und etwaige Anträge der Nebenklägerin auf Gewährung von Akteneinsicht abzulehnen, da die Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklägerin in einer "Aussage gegen Aussage"-Konstellation den Untersuchungszweck gefährde. Erst bei erneuter Einsichtnahme in die Verfahrensakte am 20. Mai 2015 erhielt der Verteidiger des Beschwerdeführers von den Schriftsätzen der Nebenklagevertreterin und der Gewährung von Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft beziehungsweise den Strafrichter Kenntnis.
Mit - nicht rechtskräftigem - Urteil des Amtsgerichts vom 2. Juli 2015 wurde der Beschwerdeführer wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 18. September 2015 erhob der Verteidiger des Beschwerdeführers Beschwerde gegen die Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklagevertreterin durch die Staatsanwaltschaft sowie durch das Amtsgericht.
2. Mit Beschluss vom 18. Januar 2016 verwarf das Landgericht die Beschwerde als unzulässig. Soweit die Beschwerde gegen die Gewährung von Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft gerichtet sei, sei sie unzulässig, weil der Beschwerdeführer den zunächst erforderlichen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Gewährung von Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft (§ 406e Abs. 4 Satz 2 StPO) nicht gestellt habe. Soweit die Beschwerde sich gegen die Gewährung von Akteneinsicht durch das Amtsgericht richte, sei sie prozessual überholt, da die Gewährung von Akteneinsicht nicht ungeschehen gemacht werden könne und ein "tiefgreifender Grundrechtseingriff", der - wie bei Wohnungsdurchsuchungen, Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die persönliche Freiheit - einen Fortsetzungsfeststellungsanspruch begründen könne, bei der nach § 406e Abs. 1 StPO in der Regel gebotenen Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklage offensichtlich nicht gegeben sei.
Am 19. Februar 2016 hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 23. Februar 2015 (254 Ds 21/15) und den Beschluss des Landgerichts vom 18. Januar 2016 (254 Qs 4/16) - gegen letzteren nur insoweit, als dieser die Gewährung von Akteneinsicht durch das Amtsgericht betrifft - erhoben. Er rügt die Verletzung seiner Grundrechte auf Informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie des Gleichheitssatzes durch das Amtsgericht sowie seiner Grundrechte auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) durch die landgerichtliche Entscheidung im Beschwerdeverfahren.
Das Land Berlin hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist in dem im Tenor bezeichneten Umfang offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die Entscheidung des Landgerichts vom 18. Januar 2016, mit der dieses die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Entscheidung des Amtsgerichts vom 23. Februar 2015, dem Akteneinsichtsgesuch der Nebenklägerin zu entsprechen, wegen prozessualer Überholung als unzulässig zurückgewiesen hat, verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG).
a) Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 104, 220 <231>; 129, 1 <20>; BVerfGE 138, 33 <39 Rn. 17>; stRspr). Als öffentliche Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG werden auch die Gerichte eingeordnet, wenn sie außerhalb ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit aufgrund eines ausdrücklich normierten Richtervorbehalts tätig werden (vgl. BVerfGE 96, 27 <39 ff.>; 104, 220 <231 ff.>; 107, 395 <406>). Auch außerhalb des unmittelbaren Anwendungsbereichs des Art. 19 Abs. 4 GG sichert der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch den Zugang zu Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung (BVerfGE 108, 341 <347 f.>). Der Bürger hat einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen (vgl. BVerfGE 40, 272 <275>; 113, 273 <310>; 129, 1 <20>). Das Rechtsmittelgericht darf ein in der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leer laufen" lassen (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; 104, 220 <232>; 117, 244 <268>). Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die Rechtsuchenden den Zugang zu den Gerichten eröffnet (vgl. BVerfGE 15, 275 <281 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 - 1 BvR 3606/13 -, NVwZ 2014, S. 785 <786>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2015 - 1 BvR 625/15 -, juris, Rn. 15 f.).
b) Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist es zwar grundsätzlich vereinbar, wenn die Gerichte ein Rechtsschutzinteresse nur so lange als gegeben ansehen, wie ein gerichtliches Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen. Darüber hinaus ist ein Rechtsschutzinteresse aber auch in Fällen tief greifender Grundrechtseingriffe gegeben, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es in diesen Fällen, dass der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden - wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden - Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht geht dementsprechend in solchen Fällen auch bei der Verfassungsbeschwerde in ständiger Rechtsprechung vom Fortbestand eines Rechtsschutzinteresses aus (vgl. BVerfGE 96, 27 <39 f.>; 104, 220 <232 ff.>; 110, 77 <85 f.>; 117, 71 <122 f.>; 117, 244 <268>).
c) Gemessen daran hat das Landgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz verletzt, indem es seine Beschwerde als unzulässig verworfen hat. Das Landgericht hat zwar nicht verkannt, dass ein Rechtsschutzbedürfnis hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfung einer hoheitlichen Maßnahme in Ansehung ihrer prozessualer Überholung fortbestehen kann, wenn die als rechtswidrig beanstandete Maßnahme einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstellt. Es hat im Ausgangspunkt auch zu Recht darauf abgestellt, dass die Gewährung von Akteneinsicht in die Ermittlungsakten an eine Nebenklägerin - ungeachtet ihres Bezuges zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung beziehungsweise zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers - nicht ohne Weiteres einen Grundrechtseingriff darstellt, der aus sich heraus unabhängig von den Umständen des Einzelfalls eine mit Eingriffen in die Unverletzlichkeit der Wohnung, in die körperliche Unversehrtheit oder in die persönliche Freiheit des Betroffenen vergleichbare Intensität aufweist (vgl. zum Fortbestehen eines Feststellungsinteresses in diesen Fällen BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2015 - 1 BvR 625/15 -, juris, Rn. 17 m.w.N.). Ob die in vorliegendem Fall erfolgte Gewährung von Akteneinsicht bezogen auf diesen Einzelfall einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstellt, hat das Landgericht jedoch nicht hinreichend geprüft. Es hat insbesondere den von der Akteneinsicht konkret betroffenen Akteninhalt, der unter anderem Einlassungen des Angeklagten, die neben dem ihm vorgeworfenen Tatgeschehen auch Einzelheiten seiner Beziehung zur Kindsmutter betreffen, nicht gewürdigt. Es hat darüber hinaus nicht hinreichend berücksichtigt, dass das Amtsgericht - wie zuvor auch schon die Staatsanwaltschaft vor Gewährung der erstmaligen Akteneinsicht im September 2014 - die Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklägerin ohne Anhörung des Beschwerdeführers getroffen hatte und sich die Maßnahme unmittelbar im Zusammenhang mit der tatsächlichen Gewährung von Akteneinsicht erledigte, so dass der Beschwerdeführer die von ihm substantiiert erhobenen Einwendungen gegen die Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklägerin letztlich weder im Vorfeld der Maßnahme noch - nach erstmaliger Kenntniserlangung von der bereits erfolgten Gewährung von Akteneinsicht im Mai 2015 - in dem der Gewährung von Akteneinsicht nachfolgenden Beschwerdeverfahren geltend machen konnte. Dieser Umstand kann bei der Bewertung der Intensität des Grundrechtseingriffs im Einzelfall, die auch von den Möglichkeiten des hiergegen gegebenen Rechtsschutzes abhängen kann (BVerfGE 133, 277 <366> Rn. 207) und durch eine ohne Kenntnis des Betroffenen erfolge Durchführung des Eingriffs regelmäßig vertieft wird (vgl. BVerfGE 120, 378 <402 f.>), jedoch nicht außer Betracht bleiben (vgl. LG Stralsund, Beschluss vom 10. Januar 2005 - 22 Qs 475/04 -, juris, Rn. 3 [zu § 406e StPO]; LG Dresden, Beschluss vom 6. Oktober 2005 - 3 AR 8/05 - StV 2006, S. 11 f. [zu § 475 StPO]).
Die Entscheidung des Landgerichts, die Beschwerde wegen prozessualer Überholung als unzulässig zu verwerfen, verletzt den Beschwerdeführer daher in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Der mit der Verfassungsbeschwerde unmittelbar angegriffene Beschluss des Landgerichts war deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zu verweisen.
2. Soweit die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts gerichtet ist, bedarf es keiner Entscheidung der Kammer, weil infolge der Aufhebung des angegriffenen Beschlusses des Landgerichts der Rechtsweg vor den Fachgerichten wieder eröffnet ist (vgl. BVerfGE 129, 1 <37>; 134, 106 <121>). Dieses wird daher zu berücksichtigen haben, dass die Gewährung von Akteneinsicht im Strafverfahren an Dritte regelmäßig die vorherige Anhörung des Beschuldigten erfordert (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. Oktober 2016 - 1 BvR 1766/14 -, juris, Rn. 5; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2006 - 2 BvR 67/06 -, NJW 2007, S. 1052; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. April 2005 - 2 BvR 465/05 -, juris, Rn. 12). Zugleich wird es gegebenenfalls zu prüfen haben, ob und inwieweit die Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklageberechtigte als einzige Tatzeugin eine Gefährdung des Untersuchungszwecks darstellt, die nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO die Versagung der begehrten Akteneinsicht rechtfertigen oder gebieten kann.
Die Auslagenentscheidung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2, § 14 Abs. 1 RVG.