Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 05.03.2018


BVerwG 05.03.2018 - 1 B 155/17

Zurückverweisung wegen Fehlens einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die innere Überzeugungsbildung der Vorinstanz


Gericht:
Bundesverwaltungsgericht
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsdatum:
05.03.2018
Aktenzeichen:
1 B 155/17
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2018:050318B1B155.17.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 13. Oktober 2017, Az: 11 A 78/17.A, Urteilvorgehend VG Gelsenkirchen, 23. Dezember 2016, Az: 2a K 7047/16.A
Zitierte Gesetze
Art 28 Abs 2 EURL 32/2013
Art 18 Abs 1 Buchst c EUV 604/2013

Gründe

1

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet. Sie macht mit Erfolg einen entscheidungserheblichen Verfahrensmangel geltend. Dieser führt gemäß § 133 Abs. 6 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht.

2

1. Die Beschwerde rügt mit Recht, dass ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) vorliegt, auf dem das Urteil des Oberverwaltungsgerichts beruhen kann.

3

a) Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern nur ein Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Derartige Mängel liegen insbesondere vor, wenn das angegriffene Urteil von einem unvollständigen Sachverhalt ausgeht. Das Gericht darf nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen oder Beweisergebnisse nicht in die rechtliche Würdigung einbezieht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen. In solchen Fällen fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts, auch wenn die darauf basierende rechtliche Würdigung als solche nicht zu beanstanden ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22. Dezember 2014 - 2 B 55.14 - Buchholz 237.6 § 25 NdsLBG Nr. 1 Rn. 6, vom 22. März 2016 - 6 B 42.15 - Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 109 Rn. 17 ff. und vom 28. März 2017 - 2 B 9.16 - juris Rn. 16 f. m.w.N.).

4

Zu der Entscheidungsgrundlage gehört auch die Klärung, welche ausländischen Rechtsnormen für die Entscheidungsfindung maßgebend und wie sie auszulegen sind. Feststellungen zum Inhalt ausländischen Rechts sind einerseits grundsätzlich irrevisibel, können aber andererseits Gegenstand von Verfahrensrügen sein (BVerwG, Urteile vom 18. Juli 1974 - 3 C 4.73 - BVerwGE 45, 357 <365> und vom 8. Mai 1984 - 9 C 208.83 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 148 S. 42). § 173 VwGO i.V.m. § 293 ZPO begründet die Pflicht des Tatsachengerichts, ausländisches Recht unter Ausnutzung aller ihm zugänglichen Erkenntnisquellen von Amts wegen zu ermitteln. Dabei hat es nicht nur die ausländischen Rechtsnormen, sondern auch ihre Umsetzung in der Rechtspraxis zu betrachten. Eine Beweiserhebung zur Bestimmung des ausländischen Rechts und der maßgeblichen Rechtspraxis ist erforderlich, wenn das ausländische Recht dem Gericht unbekannt ist (vgl. § 293 Satz 1 ZPO), etwa weil es aufgrund sprachlicher Barrieren keinen unmittelbaren Zugang dazu hat (BVerwG, Urteil vom 19. Juli 2012 - 10 C 2.12 - BVerwGE 143, 369 Rn. 14). Selbst wenn die Verfahrensbeteiligten die Feststellungen des Tatsachengerichts zum ausländischen Recht nicht in Frage stellen, kann das Gericht zu weiteren Ermittlungen verpflichtet sein. Dies gilt nicht nur bei der Feststellung offenkundiger Tatsachen, sondern auch dann, wenn zwar nicht eine relevante Tatsache selbst, sondern die Erforderlichkeit einer weiteren Aufklärung zur Verbesserung einer unzureichenden Entscheidungsgrundlage offenkundig ist (BVerwG, Urteil vom 19. Juli 2012 - 10 C 2.12 - BVerwGE 143, 369 Rn. 15).

5

Das Oberverwaltungsgericht hat seine Entscheidung tragend darauf gestützt, dass die Zuständigkeit der Republik Bulgarien für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers jedenfalls gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, (ABl. L 180 S. 31) entfallen sei. Denn jedenfalls im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung hätten systemische Schwachstellen des bulgarischen Asylverfahrens betreffend solche Dublin-Rückkehrer vorgelegen, die - wie der Kläger - vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet und vor dem 22. Dezember 2015 in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hätten und hinsichtlich derer Bulgarien seine Aufnahmebereitschaft auf der Grundlage des Art. 18 Abs. 1 Buchst. c VO (EU) Nr. 604/2013 erklärt habe. Zur Überzeugung des Oberverwaltungsgerichts stehe fest, dass für diese Gruppe von Dublin-Rückkehrern in Bulgarien kaum überwindliche Hindernisse hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren bestünden. Es bestünden erhebliche Zweifel, ob Angehörige dieser Gruppe entsprechend den Anforderungen des Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 S. 60) behandelt würden. Die Auswertung der drei in dem eingeholten Rechtsgutachten benannten Entscheidungen des Obersten Verwaltungsgerichts der Republik Bulgarien vom 3. Mai 2016 - 4195/2016 -, vom 14. März 2017 - 2214/2017 - und vom 3. Mai 2017 - 8092/2017 - ergebe, dass in Bulgarien keine Rechtssicherheit bestehe, ob und in welchem Umfang ein Dublin-Rückkehrer, der dort einen Asylantrag vor dem 22. Dezember 2015 gestellt habe, das ursprüngliche Verfahren in Bulgarien wiederaufnehmen oder einen neuen Antrag stellen könne und ob eine ausreichende Beschwerdemöglichkeit gegen ablehnende Entscheidungen der bulgarischen Behörden bestehe (OVG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2017 - 11 A 78/17.A - juris Rn. 58).

6

aa) Das Oberverwaltungsgericht nimmt an, es sei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Verfahren des Klägers (ausgesetzt und sodann) eingestellt worden ist. Eine Feststellung, zu welchem Zeitpunkt das Verfahren des Klägers eingestellt wurde und auf welcher Grundlage diese Verfahrenseinstellung ergangen ist, hat das Oberverwaltungsgericht nicht getroffen. Eine solche Feststellung ist auch dem eingeholten Gutachten nicht zu entnehmen.

7

bb) Die Beschwerde rügt zu Recht, dass die auf der Auswertung der vorbezeichneten Entscheidungen des Obersten Verwaltungsgerichts der Republik Bulgarien beruhende Annahme fehlender Rechtssicherheit nicht auf eine tragfähige Grundlage gestützt ist. Diese Annahme bedingt, dass das Tatsachengericht die ausländischen Rechtsgrundlagen und deren Anwendbarkeit ermittelt.

8

(1) Die Würdigung des Oberverwaltungsgerichts, die Frage der Anwendbarkeit des § 77 Abs. 4 des bulgarischen Gesetzes über das Asyl und die Flüchtlinge (LAR), der die Wiederaufnahme eines auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 Nr. 7 LAR eingestellten Verfahrens regle, werde durch das Oberste Verwaltungsgericht der Republik Bulgarien in Fallgestaltungen eines vor dessen Bekanntmachung gestellten Asylantrages unterschiedlich beurteilt, findet in den in dem eingeholten Rechtsgutachten jeweils auszugsweise wiedergegebenen Entscheidungen des Obersten Verwaltungsgerichts keine valide Grundlage. Der wiedergegebene Auszug des Beschlusses vom 14. März 2017 verhält sich nicht zu der Anwendbarkeit des § 77 Abs. 4 LAR in einer Konstellation wie der vorliegenden. Ihm ist allein, wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausführt, zu entnehmen, dass § 77 Abs. 4 LAR eine Grundlage für die Wiederaufnahme des Verfahrens, nicht hingegen eine solche für die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung schaffe. Dem Urteil vom 3. Mai 2017 lag ausweislich der Ausführungen der Sachverständigen eine Sachverhaltskonstellation zugrunde, in der die Entscheidung über die Wiederaufnahme am 16. - und damit vor dem 22. - Dezember 2015, die angefochtene und damit streitgegenständliche Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens über die Prüfung des Asylantrages hingegen vom 16. Februar 2016 - und damit knapp zwei Monate nach dem In-Kraft-Treten des § 77 Abs. 4 LAR - getroffen wurde. Das Oberverwaltungsgericht nimmt insoweit an, das Oberste Verwaltungsgericht habe damit die Anwendbarkeit des § 77 Abs. 4 LAR auf Fälle der Stellung eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes vor dem 22. Dezember 2015 bejaht. In der in dem Gutachten zitierten Passage des Beschlusses vom 3. Mai 2016 wird insoweit ausgeführt, § 77 Abs. 4 Satz 2 LAR sei auf vor dem In-Kraft-Treten der Norm eingeleitete Verfahren nicht anwendbar, vielmehr würden diese gemäß § 4 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes nach der zuvor geltenden Rechtslage entschieden. Hieraus zieht das Oberverwaltungsgericht den Schluss, das Oberste Verwaltungsgericht habe die Anwendbarkeit des § 77 Abs. 4 LAR in der hier maßgeblichen Sachverhaltskonstellation verneint. Die weitergehende entscheidungstragende Schlussfolgerung, wegen dieser Divergenz bestehe keine Rechtssicherheit, ob und in welchem Umfang ein Dublin-Rückkehrer, der dort einen Asylantrag vor dem 22. Dezember 2015 gestellt habe, das ursprüngliche Verfahren in Bulgarien wiederaufnehmen oder einen neuen Antrag stellen könne und ob eine ausreichende Beschwerdemöglichkeit gegen ablehnende Entscheidungen der bulgarischen Behörden vorgesehen sei, hätte indes erfordert, die gemäß § 4 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes heranzuziehende zuvor geltende Rechtslage zu ermitteln und mit derjenigen des § 77 Abs. 4 LAR zu vergleichen. Zu dieser ausweislich des Beschlusses vom 3. Mai 2016 für Altfälle vor dem 22. Dezember 2015 geltenden Rechtslage verhält sich indes weder das Rechtsgutachten noch das Oberverwaltungsgericht. Vielmehr geht das Oberverwaltungsgericht im Weiteren, auch was die Frage betrifft, welchen Einfluss die Dauer der Abwesenheit auf die Möglichkeit einer Fortsetzung oder Wiederaufnahme des ursprünglichen Verfahrens auf Gewährung internationalen Schutzes betrifft, allein von § 77 Abs. 4 LAR in seiner aktuellen Fassung aus.

9

(2) Des Weiteren mangelt es an einer tragfähigen Grundlage für die darüber hinaus der Begründung der Annahme systemischer Schwachstellen dienende und damit entscheidungstragende Würdigung des Oberverwaltungsgerichts, es sei nicht davon auszugehen, dass ein Rückkehrer, der - wie der Kläger - vor dem 22. Dezember 2015 in Bulgarien einen Asylantrag gestellt habe, bei Rückkehr ausreichend über die ihm zustehenden Möglichkeiten und Rechte informiert werde, vielmehr unterbleibe die in jedem Stadium des Verfahrens gebotene ausführliche Information des Schutzsuchenden (OVG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2017 - 11 A 78/17.A - juris Rn. 60). Eine derartige verfahrensübergreifende Erkenntnis vermitteln nicht die ausschließlich auf den seinerzeit streitgegenständlichen Einzelfall bezogenen Ausführungen des Obersten Verwaltungsgerichts der Republik Bulgarien in seinem Urteil vom 3. Mai 2017 zu fehlenden Nachweisen einer erfolgten Zustellung der Aufforderung zu der Durchführung einer Anhörung des seinerzeitigen Klägers und zu dessen unzureichender Information über seine verfahrensbezogenen Rechte. Weitergehende, die Würdigung des Oberverwaltungsgerichts stützende Erkenntnisquellen vermittelt auch das eingeholte Rechtsgutachten nicht. Die Sachverständige stützt ihre Annahme, Schutzsuchende würden bei ihrer Rückkehr nach Bulgarien nicht ausführlich über ihre Rechte informiert, vielmehr ebenfalls allein auf die vorbezeichneten einzelfallbezogenen Ausführungen des Obersten Verwaltungsgerichts.

10

b) Auf diesem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts auch beruhen. Die weitere Begründung, die Dauer der Abwesenheit des Dublin-Rückkehrers könne Einfluss auf die Frage haben, ob dieser sein ursprüngliches Verfahren fortsetzen oder wiederaufnehmen könne (OVG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2017 - 11 A 78/17.A - juris Rn. 69), ist nicht selbständig tragend. Gleiches gilt für die Annahme, es sei davon auszugehen, dass etwa Einstellungen nach § 14 LAR rechtswidrig erfolgten und einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten würden (OVG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2017 - 11 A 78/17.A - juris Rn. 73). Auch die Annahme, Dublin-Rückkehrer, deren ursprüngliches Verfahren wegen der langen Abwesenheit aus Bulgarien - wie bei dem Kläger - (rechtswidrig) eingestellt worden sei, hätten keinen Anspruch mehr auf Unterbringung, Nahrung, Sozialleistungen, Krankenversicherung und kostenlose medizinische Versorgung, knüpft an die entscheidungstragende Würdigung des Nichtbestehens eines rechtssicheren Zugangs zu einem Wiederaufnahmeverfahren an und trägt das Urteil daher ebenfalls nicht selbständig.

11

2. Auf die von der Beschwerde des Weiteren erhobene Grundsatzrüge kommt es nach alledem nicht mehr an.

12

3. Der Senat sieht von der Zulassung der Revision auf Grund der durchgreifenden Verfahrensrüge ab und macht stattdessen von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).

13

Das Berufungsgericht wird sich bei seiner neuerlichen, durch diesen Beschluss nicht im Ergebnis vorgeprägten Entscheidung auch mit den - wenngleich in anderem Zusammenhang ergangenen - Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 25. Januar 2018 (- C-360/16 [ECLI:EU:C:2018:35], Hasan - Rn. 30 f., 40) und des Bundesverfassungsgerichts vom 21. April 2016 (- 2 BvR 273/16 - NVwZ 2016, 1242 Rn. 11) zur Frage des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung des Vorliegens systemischer Schwachstellen auseinanderzusetzen haben.