Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 24.06.2014


BGH 24.06.2014 - 1 ARs 14/14

Ungleichartige Wahlfeststellung: Verfassungsmäßigkeit der gesetzesalternativen Wahlfeststellung


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
24.06.2014
Aktenzeichen:
1 ARs 14/14
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend BGH, 28. Januar 2014, Az: 2 StR 495/12, Beschluss
Zitierte Gesetze

Tenor

Die gesetzesalternative (ungleichartige) Wahlfeststellung verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG; eine Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei auf wahldeutiger Tatsachengrundlage ist zulässig.

Gründe

1

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs beabsichtigt zu entscheiden:

„1. Die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG.

2. Eine wahldeutige Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei ist daher unzulässig."

2

Die ständige Rechtsprechung des 1. Strafsenats steht der beabsichtigten Entscheidung des 2. Strafsenats entgegen (vgl. bereits Senat, Urteile vom 2. Oktober 1951 - 1 StR 353/51, BGHSt 1, 327, 328, und vom 12. Januar 1954 - 1 StR 631/53, BGHSt 5, 280; zuletzt Beschluss vom 5. März 2013 - 1 StR 613/12, NStZ 2014, 42). Der Senat hält an dieser Rechtsprechung fest: Bei der gesetzesalternativen (ungleichartigen) Wahlfeststellung handelt es sich um eine prozessuale Entscheidungsregel, auf die Art. 103 Abs. 2 GG keine Anwendung findet (I.). Selbst wenn dieser Regel ein materiell-rechtlicher Gehalt zukommt, liegt kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG vor (II.). Dies entspricht im Ergebnis der Ansicht des Gesetzgebers (III.). Das einschränkende Merkmal der „rechtsethischen und psychologischen" Gleichwertigkeit der verschiedenen Straftaten stellt sicher, dass die Rechtsfolgenentscheidung trotz Tatsachenalternativität an einen ausreichend einheitlichen Schuldvorwurf anknüpfen kann (IV.).

I.

3

Bei den Regeln zur gesetzesalternativen (ungleichartigen) Wahlfeststellung handelt es sich um Verfahrensregeln, die nicht Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen.

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1. Eine Verurteilung wegen alternativ verwirklichter Straftatbestände auf wahldeutiger Tatsachengrundlage ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann vorzunehmen, wenn im Rahmen des angeklagten Geschehens nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten der Sachverhalt nicht in einer solchen Weise aufgeklärt werden kann, dass die Feststellung eines bestimmten Straftatbestandes möglich ist, aber sicher feststeht, dass der Angeklagte einen von mehreren alternativ in Betracht kommenden Tatbeständen verwirklicht hat, und andere Möglichkeiten sicher ausgeschlossen sind (vgl. Senat, Beschluss vom 5. März 2013 - 1 StR 613/12, NStZ 2014, 42). Weitere einschränkende Voraussetzung ist, dass die verschiedenen möglichen Straftaten rechtsethisch und psychologisch gleichwertig sind. Rechtsethisch gleichwertig sind die möglichen Taten dann, wenn ihnen im allgemeinen Rechtsempfinden eine gleiche oder doch ähnliche sittliche Bewertung zuteil wird; psychologische Gleichwertigkeit erfordert eine einigermaßen gleichgeartete seelische Beziehung des Täters zu den mehreren in Frage stehenden Verhaltensweisen (vgl. grundlegend BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 15. Oktober 1956 - GSSt 2/56, BGHSt 9, 390, 394; BGH, Urteil vom 11. November 1966 - 4 StR 387/66, BGHSt 21, 152, 153). In allen anderen Fällen, in denen ein Sachverhalt nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht eindeutig festgestellt werden kann, ist der Angeklagte nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" entweder freizusprechen oder - sofern nicht trotz Tatsachenalternativität der Schuldspruch unzweifelhaft ist - zu seinen Gunsten nach dem milderen Gesetz mit eindeutigem Schuldspruch zu verurteilen (hierzu im Einzelnen umfassend Sander, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 261 Rn. 125 ff. mwN). Hierdurch wird insgesamt ausgeschlossen, dass zum Nachteil des Angeklagten ein Schuldumfang zugrunde liegt, durch den der Angeklagte beschwert wird.

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2. Strukturell handelt es sich bei der gesetzesalternativen Wahlfeststellung damit um eine besondere Entscheidungsregel bei Nichtaufklärbarkeit des Sachverhalts. Diese Entscheidungsregel bestimmt nicht darüber, was strafbar ist, sondern legt lediglich fest, in welcher Weise das Gericht in einer bestimmten prozessualen Situation prozessual zu reagieren hat. Das einschränkende Merkmal der „rechtsethischen und psychologischen Gleichwertigkeit" ist hierfür nicht konstitutiv, sondern legt dieser Entscheidungsregel Schranken auf, damit für die Rechtsfolgenentscheidung an einen einheitlichen Unrechts- und Schuldkern angeknüpft werden kann. Die gesetzesalternative Wahlfeststellung gehört deshalb dem Verfahrensrecht an (so bereits ausdrücklich die Grundsatzentscheidung der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts, Beschluss vom 2. Mai 1934 - 1 D 1096/33, RGSt 68, 257, 262).

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3. Weil es sich um eine prozessuale Entscheidungsregel handelt, die sich auf gesetzlich festgelegte Straftatbestände stützt, wird die gesetzesalternative Wahlfeststellung nicht vom Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG erfasst (vgl. Sander, aaO, § 261 Rn. 145 m. Fn. 1024; Stuckenberg, in: KMR-StPO, Loseblatt, 68. EL, § 261 Rn. 106; Wolter, GA 2013, 271, 274 ff.).

II.

7

Im Übrigen liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG auch deshalb nicht vor, weil die Strafbarkeit in Fällen gesetzesalternativer Wahlfeststellung durch den Gesetzgeber bestimmt und für den Normunterworfenen vorhersehbar ist.

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1. Art. 103 Abs. 2 GG dient dem rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten. Jeder soll vorhersehen können, welches Verhalten mit einer Sanktion bedroht ist. Zudem soll der Gesetzgeber über die Erfüllung des Tatbestandes entscheiden und diese Entscheidung über die Sanktionierung eines Verhaltens nicht der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt überlassen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Januar 2014 - 2 BvR 299/13, NJW 2014, 1431, 1432). Der Gesetzgeber und nicht der Richter ist zur Entscheidung über die Strafbarkeit berufen. Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich und notwendig erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren. Aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit folgt anerkanntermaßen ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist „Analogie" nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die - tatbestandsausweitend - über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht, wobei der mögliche Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 - 2 BvR 2559/08, 105/09 und 491/09, BVerfGE 126, 170, 194 f. mwN).

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2. Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben wird die gesetzesalternative Wahlfeststellung gerecht.

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a) Die Strafbarkeit des abgeurteilten Verhaltens ist durch die Strafnormen des Strafgesetzbuchs vorgegeben. Der Angeklagte wird bei der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht etwa nach einer nicht existierenden, von der Rechtsprechung „erfundenen" Strafnorm verurteilt, sondern aus einem vom Gesetzgeber ausdrücklich bestimmten Straftatbestand. Die Strafbarkeit des Verhaltens legt dabei allein der Gesetzgeber fest, nicht der Richter. Nur wenn dem Angeklagten ein vom Gesetzgeber ausdrücklich als strafbar angesehenes Verhalten nachgewiesen werden kann, darf er verurteilt werden. Die gesetzesalternative Wahlfeststellung besagt lediglich, dass in Fällen sicherer Strafbarkeit, aber unsicheren Tatsachenverlaufs eine bestimmte Form der Entscheidung zu wählen ist, und zwar einschränkend nur dann, wenn die sicher anzunehmende Strafbarkeit im Kern einen vergleichbaren Schuldvorwurf begründet.

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b) Für den Normadressaten ist in den Fällen der gesetzesalternativen Wahlfeststellung jederzeit vorhersehbar, welches Verhalten strafbar ist und welches nicht. Eine Ausdehnung der strafbewehrten Verhaltensanforderungen geht mit der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht einher. In dem vom 2. Strafsenat zu entscheidenden Fall konnten die Angeklagten etwa unschwer erkennen, dass sowohl der Diebstahl als auch die Hehlerei strafbar sind, und ihr Verhalten entsprechend einrichten.

III.

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Diese Auffassung entspricht im Ergebnis der Einschätzung des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen der Überlegungen zum 3. Strafrechtsänderungsgesetz ausdrücklich die Frage gestellt, ob er die gesetzesalternative Wahlfeststellung gesetzlich regeln soll oder nicht. In den Gesetzesmaterialien, die der Beschlussfassung des Deutschen Bundestages zugrunde lagen (vgl. Plenarprotokolle vom 30. Oktober 1952, S. 10869, vom 12. Mai 1953, S. 12992 ff., vom 11. Juni 1953, S. 13310 und vom 3. Juli 1953, S. 14072 f.), heißt es dazu (BT-Drucks. I/3713 S. 19):

„Mit der Bereinigung des Strafgesetzbuches soll gleichzeitig zum Ausdruck kommen, daß, soweit der Entwurf nicht eingreift, Änderungen des Strafgesetzbuchs durch die Gesetzgebung der nationalsozialistischen Zeit und der Besatzungsmächte, die von den bisherigen Strafrechtsänderungsgesetzen nicht angetastet wurden, vorbehaltlich einer eigentlichen Reform vom Gesetzgeber anerkannt werden. Das bedeutet nicht immer, daß Vorschriften, die durch die Besatzungsmächte aufgehoben wurden, nationalsozialistischen Charakter trugen. Insbesondere enthielt der aufgehobene § 2 b (Wahlweise Verurteilung) kein nationalsozialistisches Gedankengut. Wenn der Entwurf davon absieht, die Vorschrift zu erneuern, so geschieht das aus folgenden Erwägungen: In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist erneut anerkannt worden, daß wahlweise Schuldfeststellungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen sind. Die obersten Gerichte haben sich daher im wesentlichen der Rechtsprechung des Reichsgerichts angeschlossen, wie sie vor der Einfügung des § 2 b in der Plenarentscheidung vom 2. Mai 1934 (RGSt 68, 257) ihren Niederschlag gefunden hatte. Zum Teil ist der Bundesgerichtshof bereits darüber hinausgegangen. Unter diesen Umständen wird die Frage, wie die Grenzen für die Zulässigkeit von wahlweisen Schuldfeststellungen zu ziehen sind, auch in Zukunft der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen werden können.

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Damit hat der Gesetzgeber zu erkennen zu erkennen gegeben, dass er die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Wahlfeststellung billigt und keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf sieht, also auch keinen möglichen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip. Dass sich an dieser Einschätzung des Gesetzgebers etwas geändert hätte, ist nicht ersichtlich.

IV.

14

Das von der Rechtsprechung entwickelte einschränkende Merkmal der „rechtsethischen und psychologischen" Gleichwertigkeit der verschiedenen Straftaten stellt sicher, dass die Rechtsfolgenentscheidung trotz Tatsachenalternativität an einen ausreichend einheitlichen Schuldvorwurf anknüpfen kann.

15

Schon in der Grundsatzentscheidung der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts (Beschluss vom 2. Mai 1934 - 1 D 1096/33, RGSt 68, 257, 260) zur gesetzesalternativen Wahlfeststellung bei Diebstahl und Hehlerei wurde hervorgehoben, dass die „Sicherheit der Urteilsfindung" und die „Gerechtigkeit der Urteilswirkung" eine Einschränkung der Wahlfeststellung erforderlich machen. Der Bundesgerichtshof hat in späteren Entscheidungen darauf abgestellt, dass der Täter jeweils entweder dasselbe Rechtsgut oder doch, wie im Verhältnis von Diebstahl oder Unterschlagung zur Hehlerei, in ihrem Wesen ähnliche Rechtsgüter verletzt haben muss und die in Frage stehenden mehreren Verhaltensweisen die gleiche sittliche Missbilligung verdienen müssen, weil die innere Beziehung des Täters zu ihnen im Wesentlichen gleichartig ist (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 1966 - 4 StR 387/66, BGHSt 21, 152, 154).

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Diese Einschränkungen stellen sicher, dass der Richter für seine Rechtsfolgenentscheidung an einen gleichartigen Unrechts- und Schuldkern anknüpfen kann. Erschwerende Umstände, die nur bei einer der alternativ in Betracht kommenden Verhaltensweisen in Frage kämen, dürfen dem Angeklagten nach dem Zweifelssatz ohnehin nicht zugerechnet werden; es ist jeweils von der dem Angeklagten günstigsten Möglichkeit auszugehen (vgl. Sander, aaO, § 261 Rn. 160 ff.). Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG ist deshalb insoweit nicht zu besorgen.

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Sofern der 2. Strafsenat im vorliegenden Fall die konkreten Tatbilder als derart verschieden ansieht, dass eine rechtsfehlerfreie Strafzumessung mangels Gleichartigkeit der alternativen Sachverhalte und mangels derselben seelischen Beziehung zur Tat ausscheiden soll (Rn. 36), wird nicht klar, ob insoweit den Grundsätzen des Zweifelssatzes hinreichend Rechnung getragen wurde oder der 2. Strafsenat sogar weitergehend den von der Rechtsprechung definierten Anwendungsbereich der Wahlfeststellung als nicht eröffnet ansieht.

Raum                                  Rothfuß                                  Graf

                     Radtke                                  Mosbacher