Entscheidungsdatum: 30.09.2013
1. NV: Das Gericht hat vor Erlass seines Urteils die von ihm durch einen Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage mit der erforderlichen Klarheit wieder zu beseitigen, wenn es nicht mehr beabsichtigt, den Beweis zu erheben.
2. NV: Erörtert das Gericht mit den Beteiligten lediglich, welche Konsequenzen aus dem Nichterscheinen eines Zeugen zu ziehen seien, hat es nicht unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass es den Beweisbeschluss nicht mehr ausführen wird.
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist Mutter des im Jahr 1991 geborenen Sohnes M, der im Jahr 2010 zum Zimmerer ausgebildet wurde. Sie bezog für M zunächst Kindergeld für Januar bis Dezember 2010 (Streitzeitraum).
Unter dem 16. Mai 2011 hob die frühere Beklagte (die Familienkasse X) die Kindergeldfestsetzung betreffend M für 2010 mit der Begründung auf, dass der für den Bezug von Kindergeld maßgebliche Grenzbetrag überschritten sei. Der Einspruch der Klägerin, mit dem die Klägerin geltend machte, der Grenzbetrag sei unterschritten, weil weitere Werbungskosten des M einkünftemindernd zu berücksichtigen seien, blieb erfolglos.
Im Laufe des Klageverfahrens erließ das Finanzgericht (FG) zunächst am 8. Februar 2013 einen ersten Beweisbeschluss, mit dem die Vernehmung des Arbeitgebers des M, Herrn A, angeordnet wurde. In der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2013 wurde, nachdem die Beteiligten Sachanträge gestellt hatten, A als Zeuge vernommen. Nach der Aussage des A beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, M ebenfalls als Zeugen zu vernehmen. Das FG schloss im Anschluss daran die mündliche Verhandlung und verkündete den Beschluss, dass eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt wird.
Das FG erließ am selben Tag einen zweiten Beweisbeschluss, wonach zu der Frage, ob M im Jahr 2010 den Sammeltransport des A auch für Fahrten zu den einzelnen Baustellen genutzt und ob M weitere Werbungskosten gehabt habe, M als Zeuge vernommen werden soll. In der Folgezeit wurden die Beteiligten und M zu einer mündlichen Verhandlung am 22. Mai 2013 geladen.
Die Klägerin teilte am Morgen des 22. Mai 2013 dem FG telefonisch mit, M habe "von der Arbeit nicht frei bekommen" und könne deshalb zum Termin nicht erscheinen. Das FG wies die Klägerin mehrmals darauf hin, dass unentschuldigtes Fehlen eines Zeugen rechtliche Konsequenzen haben könne.
Zu der mündlichen Verhandlung am 22. Mai 2013 erschien M gleichwohl nicht. In der Niederschrift über die mündliche Verhandlung ist zunächst festgehalten, dass das FG die Beteiligten darüber informiert habe, dass M nicht erscheinen werde. In der Niederschrift heißt es sodann:
"Mit den Beteiligten wurde erörtert, welche Konsequenzen aus dem Nichterscheinen des Zeugen zu ziehen seien.
Der Klägervertreter erklärte, er habe mit der Klägerin gesprochen; diese habe ihm erklärt, dann müsse man halt einen neuen Termin machen. Mit Blick auf diese Erklärung könne er keine Prozesserklärung im Sinne der Klagerücknahme vornehmen.
Der Vertreter der Klägerin erläuterte, damit sei gemeint, er könne den Verzicht auf die Zeugeneinvernahme nicht erklären."
Die mündliche Verhandlung wurde sodann geschlossen und das FG verkündete den Beschluss, dass eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt wird.
Durch Urteil vom 22. Mai 2013 wies das FG die Klage ab. Es legte dar, warum nach seiner Berechnung und auf Basis der Aussage des A der Grenzbetrag überschritten sei. Weiter heißt es im Urteil, angesichts dieser eindeutigen Berechnung habe das FG keinen Grund gesehen, den Termin der mündlichen Verhandlung am 22. Mai 2013 aufzuheben. Darüber hinaus habe keiner der Verfahrensbeteiligten, trotz ausführlicher Diskussion in der mündlichen Verhandlung über die weitere Verfahrensweise nach Ausbleiben des Zeugen, eine in Aussicht gestellte Entscheidung des Senats ohne Vernehmung des Zeugen gerügt. Vielmehr habe der Bevollmächtigte der Klägerin zwar eine weitere mündliche Verhandlung vorgeschlagen, jedoch ausdrücklich erklärt, dass er deshalb derzeit keine weitere Prozesserklärung abgeben könne.
Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Sie macht geltend, die Nichtvernehmung des M sei verfahrensfehlerhaft und verletze sie in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör.
II. Die zulässige Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG gemäß § 116 Abs. 6 FGO.
1. Der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, liegt vor. Das FG hat der Klägerin rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) versagt, indem es ihr vor Erlass des Urteils nicht mit der erforderlichen Klarheit zu erkennen gegeben hat, dass es entgegen dem Beweisbeschluss vom 13. März 2013 nicht mehr beabsichtigte, den Zeugen M zu vernehmen.
a) Durch einen Beweisbeschluss entsteht eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es von einer Beweisaufnahme absehen, muss es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung vor Erlass des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. Senatsbeschlüsse vom 19. Dezember 2012 XI B 84/12, BFH/NV 2013, 745; vom 2. August 2013 XI B 97/12, juris; Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3. Dezember 2002 X B 26/02, BFH/NV 2003, 343; vom 23. Oktober 2006 III B 142/05, BFH/NV 2007, 422; vom 27. August 2010 III B 113/09, BFH/NV 2010, 2292; vom 19. Januar 2012 X B 4/10, BFH/NV 2012, 958, jeweils m.w.N.). Erlässt das FG dagegen vor der vollständigen Ausführung eines Beweisbeschlusses ein Urteil, ohne einen entsprechenden Hinweis gegeben zu haben, versagt es das rechtliche Gehör (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2003, 343; vom 6. Juni 2006 V B 142/05, BFH/NV 2006, 2088).
b) Nach diesen Grundsätzen liegt der von der Klägerin gerügte Verfahrensfehler vor, weil das FG die mit Beweisbeschluss vom 13. März 2013 angeordnete Beweisaufnahme vor seiner Entscheidung nicht durchgeführt hat, ohne den Beteiligten einen unmissverständlichen Hinweis dazu erteilt zu haben, dass die Beweisaufnahme nicht erfolgen wird.
aa) Zunächst kann der Niederschrift kein unmissverständlicher Hinweis des FG an die Beteiligten entnommen werden, dass der Beweisbeschluss nicht ausgeführt werde.
bb) Für einen entsprechenden Hinweis besteht auch nach dem sonstigen Inhalt der Akten (zu dessen Bedeutung siehe § 155 FGO i.V.m. § 139 Abs. 4 der Zivilprozessordnung --ZPO--) kein Anhaltspunkt. Insbesondere enthält der Aktenvermerk vom 22. Mai 2013 keinen Anhaltspunkt dafür, dass ein solcher Hinweis im Telefonat mit der Klägerin gegeben worden wäre.
cc) Schließlich dokumentieren die Ausführungen des FG in den Entscheidungsgründen seines Urteils vom 22. Mai 2013, trotz ausführlicher Diskussion in der mündlichen Verhandlung über die weitere Verfahrensweise nach Ausbleiben des Zeugen habe kein Beteiligter eine "in Aussicht gestellte" Entscheidung des Senats ohne Vernehmung des Zeugen "gerügt", keinen solchen unmissverständlichen Hinweis.
Zwar kann die Dokumentation des Inhalts eines zuvor (z.B. in der mündlichen Verhandlung) erteilten richterlichen Hinweises nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 22. September 2005 VII ZR 34/04, BGHZ 164, 166) zumindest dann auch noch im Urteil erfolgen, wenn dies versehentlich nicht in das Protokoll aufgenommen worden ist. Jedoch ist auch der nach dem Inhalt des FG-Urteils gegebene Hinweis "in Aussicht gestellt" nicht mit der erforderlichen Klarheit erteilt worden, zumal die in diesem Zusammenhang vom FG dargelegte Auffassung, keiner der Beteiligten habe die Nichteinvernahme des M gerügt, in klarem Widerspruch zum Inhalt der Niederschrift steht: Zwar kann bei verzichtbaren Verfahrensmängeln durchaus auch durch bloßes Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge gemäß § 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO auf die Geltendmachung eines Verfahrensfehlers wirksam verzichtet werden (vgl. BFH-Beschluss vom 12. Juni 2012 V B 128/11, BFH/NV 2012, 1804, m.w.N.). Im Protokoll ist jedoch festgehalten, dass nach Auffassung der Klägerin ein neuer Termin erforderlich sei und der Prozessbevollmächtigte der Klägerin einen Verzicht auf die Zeugeneinvernahme nicht erklären könne. Dies lässt den vom FG gezogenen Schluss, kein Beteiligter habe eine in Aussicht gestellte Entscheidung des FG ohne Vernehmung des Zeugen M gerügt, inhaltlich nicht zu.
2. Der BFH kann gemäß § 116 Abs. 6 FGO auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen, sofern --wie hier-- die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen. Es erscheint sachgerecht, entsprechend dieser Vorschrift zu verfahren, da im Streitfall von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. dazu z.B. BFH-Beschlüsse vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom 29. Januar 2010 II B 107/09, BFH/NV 2010, 938; vom 22. März 2012 XI B 1/12, BFH/NV 2012, 1170, Rz 19).
3. Der Senat sieht im Übrigen von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).