Entscheidungsdatum: 21.07.2016
1. Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO wird in einem gesonderten Verwaltungsverfahren getroffen .
2. Eine gesetzliche Frist, nach deren Ablauf eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO nicht mehr beantragt werden kann, bestand vor Inkrafttreten des § 171 Abs. 10 Satz 2 AO nicht .
3. Die Ermessensentscheidung nach § 163 AO darf jedoch ein Zeitmoment berücksichtigen .
4. Gerichte haben Verwaltungsanweisungen nicht selbst auszulegen, sondern nur darauf zu überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist .
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 8. Mai 2013 3 K 3461/11 AO aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens haben die Kläger zu tragen.
A. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin hatte 1994 und 1995 ein Mehrfamilienhaus mit sieben Wohneinheiten errichtet und drei davon im Jahre 1995 veräußert. Das damals zuständige Finanzamt (FA X) behandelte dies nach Durchführung einer Steuerfahndungsprüfung als gewerblichen Grundstückshandel und erfasste in dem Einkommensteuerbescheid 1995 bei der Klägerin Einkünfte aus Gewerbebetrieb.
Während des diesbezüglichen Klageverfahrens (7 K 8270/99 E) erging die Entscheidung des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 10. Dezember 2001 GrS 1/98 (BFHE 197, 240, BStBl II 2002, 291). Der damalige Bevollmächtigte der Kläger wies mit Schriftsatz vom 10. März 2003 darauf hin, dass danach die Voraussetzungen eines gewerblichen Grundstückshandels vorliegen dürften. Allerdings sei das FA X aufgrund des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 19. Februar 2003 IV A 6-S 2240-15/03 (BStBl I 2003, 171) gehalten, die Rechtsprechung des BFH nicht auf die Klägerin anzuwenden. Diese Selbstbindung der Verwaltung müsse auch das Gericht beachten. In seiner am 7. April 2003 eingegangenen Erwiderung vertrat das FA X die Auffassung, das BMF-Schreiben sei im Falle der Klägerin nicht anzuwenden, da ihr Fall nicht in Folge der Entscheidung in BFHE 197, 240, BStBl II 2002, 291 aufgegriffen worden sei. Mit Schriftsatz vom 10. Juni 2003 kündigte der Bevollmächtigte mit dem ausdrücklichen Bemerken, im vorliegenden Verfahren sei die Berücksichtigung des Schreibens nicht möglich, einen gesonderten auf § 163 der Abgabenordnung (AO) zu stützenden Erlassantrag beim FA X an, den er dem Finanzgericht (FG) zur Kenntnis geben wollte. Nach den Feststellungen des FG befindet sich ein solcher Antrag weder in der damaligen Gerichtsakte noch in den damals vorgelegten Steuerakten.
Mit Urteil vom 16. Juli 2003 7 K 8270/99 E wies das FG, soweit der gewerbliche Grundstückshandel dem Grunde nach in Frage stand, die Klage ab. Über eine Billigkeitsmaßnahme sei in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden. Die Höhe des zu erfassenden Gewinns war Gegenstand einer tatsächlichen Verständigung. Die Klage gegen den entsprechenden Änderungsbescheid vom 19. September 2003 (3 K 892/12 E) nahmen die Kläger am 8. Mai 2013 zurück.
Mit Schreiben vom 11. Juni 2010 hatten sich die Kläger an den damaligen Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen gewandt und um Überprüfung der steuerlichen Würdigung des Vorgangs, insbesondere der Anwendung des BMF-Schreibens vom 19. Februar 2003 gebeten. Der mittlerweile zuständige Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) lehnte die abweichende Festsetzung u.a. unter Hinweis auf das BFH-Urteil vom 8. Oktober 1980 II R 8/76 (BFHE 131, 446, BStBl II 1981, 82) über verspätete Billigkeitsanträge sowie auf die Fristen des § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO und des § 228 Satz 2 AO durch Bescheid vom 7. April 2011 ab. Der Veranlagungszeitraum liege 15 Jahre zurück, der Abschluss des Klageverfahrens mehr als sieben Jahre. Der nicht näher begründete Einspruch blieb erfolglos.
Mit der Klage beanstandeten die Kläger im Wesentlichen das Fehlen von Ermessenserwägungen. Das FG hat der Klage mit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2014, 972 veröffentlichtem Urteil stattgegeben. Der Zeitablauf trage die Ablehnung nicht, da der Billigkeitserlass nach dem Gesetz keinen zeitlichen Beschränkungen unterliege und keine Umstände vorlägen, aus denen das FA ein Vertrauen darauf habe herleiten dürfen, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (dazu BFH-Urteil vom 7. Juni 1984 IV R 180/81, BFHE 141, 451, BStBl II 1984, 780).
Mit seiner Revision macht das FA zum einen geltend, das BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 171 betreffe nur Veräußerungsvorgänge, die zunächst unversteuert geblieben und sodann aufgrund der Rechtsprechung aufgegriffen worden seien. Zum anderen sei der Antrag auf Erlass einer Billigkeitsmaßnahme verfristet gestellt worden.
Das FA beantragt,
das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Die Kläger tragen vor, das FA X habe den Finanzgerichtsprozess nur aufgrund des Beschlusses in BFHE 197, 240, BStBl II 2002, 291 gewinnen können. Damit hätten sie im Wege der Ermessensreduzierung auf Null einen Anspruch auf Anwendung der in dem BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 171 enthaltenen Übergangsregelung.
Die Billigkeitsmaßnahme sei nicht verfristet. Sie bedürfe keines Antrags, so dass auch keine Antragsfrist versäumt werden könne. Eine Verwirkung scheitere sowohl am Zeit- als auch am Umstandsmoment. Im Übrigen hätten sie, die Kläger, bereits 2003 auf die Billigkeitsmaßnahme hingewiesen. Zudem sei das FA bereits aufgrund des Urteils vom 16. Juli 2003 7 K 8270/99 E zum Ausspruch der Billigkeitsmaßnahme verpflichtet. Nach dessen Tenor habe das FA X die Einkommensteuer nach Maßgabe der Urteilsgründe herabsetzen müssen, die ihrerseits den Hinweis auf die Billigkeitsentscheidung enthielten.
B. Die Revision ist begründet. Der Senat entscheidet nach § 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in der Sache selbst und weist die Klage ab.
I.
Das rechtskräftige Urteil vom 16. Juli 2003 7 K 8270/99 E begründet keine Verpflichtung zum Ausspruch der Billigkeitsmaßnahme. Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden ist. Das FG hatte über § 163 AO nicht entschieden. Der Tenor jenes Urteils lautet: "Die Einkommensteuer 1994 und 1995 werden nach Maßgabe der Urteilsgründe herabgesetzt. Die Neuberechnung der jeweiligen Einkommensteuer wird dem Beklagten übertragen. ..." Unter 1.c der Entscheidungsgründe hat das FG formuliert: "Über die Frage der Anwendung des BMF-Schreibens vom 19.02.2003 ist im vorliegenden Verfahren, das die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung betrifft, nicht zu befinden. Auf Grund dieses Schreibens kommt eine Billigkeitsmaßnahme[n] in Betracht, über die das FA gesondert zu entscheiden hat." Damit ist unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass eine Billigkeitsfestsetzung nach diesem Schreiben gerade nicht Gegenstand der Entscheidung ist.
II.
Das FA hat den Antrag auf abweichende Billigkeitsfestsetzung ermessensfehlerfrei abgelehnt.
1. Nach § 163 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. § 163 AO soll sachlichen und persönlichen Besonderheiten des Einzelfalls, die der Gesetzgeber in der Besteuerungsnorm nicht berücksichtigt hat, durch eine nicht den Steuerbescheid selbst ändernde Korrektur des Steuerbetrags insoweit Rechnung tragen, als sie die steuerliche Belastung als unbillig erscheinen lassen (vgl. Senatsurteil vom 12. Dezember 2013 X R 39/10, BFHE 244, 485, BStBl II 2014, 572, unter II.1., m.w.N.).
Der Gesetzgeber hat die Voraussetzungen der abweichenden Festsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO ebenso wie des Erlasses nach § 227 AO nicht näher konkretisiert, sondern die Entscheidung in das Ermessen der Finanzbehörden gestellt. Zur Vereinheitlichung der Anwendung von Billigkeitsregeln kann wiederum das BMF Verwaltungsvorschriften erlassen, die die entscheidenden Ermessenserwägungen der Finanzbehörden festschreiben und damit deren Ermessen auf Null reduzieren (vgl. Senatsentscheidungen in BFHE 244, 485, BStBl II 2014, 572, unter II.3., sowie vom 25. März 2015 X R 23/13, BFHE 249, 299, BStBl II 2015, 696, unter B.IV.1.b).
Verfahrensrechtlich wird die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO, die keines Antrags bedarf, in einem gesonderten Verwaltungsverfahren getroffen. Sie ist sodann ein für die Festsetzung einer Steuer bindender Verwaltungsakt und damit Grundlagenbescheid für die Steuerfestsetzung i.S. des § 171 Abs. 10 AO, die folglich nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO anzupassen ist (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteil vom 1. Oktober 2015 X R 32/13, BFHE 251, 298, BStBl II 2016, 139, unter II.2.b, m.w.N.).
2. Das BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 171 war eine solche ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift.
a) Zur Abgrenzung der privaten Vermögensverwaltung vom Gewerbebetrieb im Bereich des Grundstückshandels hatte der BFH mit Urteil vom 9. Dezember 1986 VIII R 317/82 (BFHE 148, 480, 483, BStBl II 1988, 244) die sog. Drei-Objekt-Grenze eingeführt, nach der kein gewerblicher Grundstückshandel vorlag, sofern weniger als vier Objekte veräußert worden sind. Allein für Großobjekte galt dies nicht. Die Verwaltung hatte sich dieser Rechtsprechung angeschlossen, die als Vereinfachungsregelung und damit als Freigrenze für die Veräußerung von bis zu drei Objekten verstanden werden konnte (BMF-Schreiben vom 20. Dezember 1990 IV B 2-S 2240-61/90, BStBl I 1990, 884; zum Verständnis als Freigrenze BFH-Beschluss in BFHE 197, 240, BStBl II 2002, 291, unter C.III.2., C.III.5.). Der Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 197, 240, BStBl II 2002, 291 hat in der Anzahl der veräußerten Objekte keine unwiderlegliche Typisierung mehr gesehen, sondern dieser nur noch indizielle Bedeutung zugemessen. So konnte auch die Veräußerung von weniger als vier Objekten unter besonderen Umständen eine gewerbliche Betätigung darstellen. Insoweit hat der Beschluss in BFHE 197, 240, BStBl II 2002, 291 die Rechtslage für den Steuerpflichtigen verschärft.
b) Nach dem BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 171 sind die Grundsätze des Beschlusses in BFHE 197, 240, BStBl II 2002, 291 zur Anwendung der Drei-Objekt-Grenze, soweit sich hieraus nachteilige Folgen für den Steuerpflichtigen ergeben, erst auf Veräußerungen anzuwenden, die nach dem 31. Mai 2002 (Datum der Veröffentlichung des Beschlusses) stattgefunden haben. Das neuere BMF-Schreiben vom 26. März 2004 IV A 6-S 2240-46/04 (BStBl I 2004, 434) hat diese Regelung übernommen (Rz 36 bzw. VI. Satz 2). Allerdings ändert eine Gerichtsentscheidung, auch wenn sie von der vorgehenden Rechtsprechung abweicht, die Rechtslage nicht, sondern beurteilt sie lediglich abweichend. Sie wäre daher vorbehaltlich der besonderen Vertrauensschutzregelung in § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO materiell-rechtlich grundsätzlich unbegrenzt rückwirkend anwendbar. Es handelt sich bei dem BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 171 daher um eine Übergangsregelung aus Billigkeitsgründen (vgl. BFH-Entscheidungen vom 17. Dezember 2003 XI R 22/02, BFH/NV 2004, 1629; vom 15. November 2006 X B 11/06, BFH/NV 2007, 209).
3. Die Ermessensausübung im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO darf auch ein Zeitmoment berücksichtigen.
a) Es existiert keine gesetzliche Frist für die Entscheidung nach § 163 AO, die als vorrangiges Recht stets zu beachten wäre.
aa) Eine abweichende Festsetzung nach § 163 AO ist unter dem im Streitfall noch geltenden Recht zeitlich nicht mit der Steuerfestsetzung verknüpft, von der aus Billigkeitsgründen abgewichen werden soll. Sie ist nach hergebrachter Rechtsprechung auch möglich, wenn Letztere bereits bestandskräftig ist (vgl. BFH-Urteil vom 17. Juni 2004 IV R 9/02, BFH/NV 2004, 1505, unter 2.c der Entscheidungsgründe), und zwar selbst dann, wenn für diesen Bescheid bereits Festsetzungsverjährung eingetreten ist (BFH-Urteil vom 17. März 1987 VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620; Oellerich in Beermann/Gosch, AO [FGO] § 163 AO Rz 215; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 163 AO Rz 21; Klein/Rüsken, AO, 13. Aufl., § 163 Rz 2, 2a, 3). § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ermöglicht gleichwohl die Folgeänderung des Steuerbescheids.
§ 171 Abs. 10 Satz 2 AO verlangt zwar für einen Grundlagenbescheid außerhalb von § 181 AO einen Antrag vor Ablauf der Festsetzungsfrist bei der zuständigen Behörde. Die Vorschrift ist jedoch nach Art. 97 § 10 Abs. 12 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung erst für die am 31. Dezember 2014 noch nicht abgelaufenen Festsetzungsfristen anwendbar. Die Festsetzungsfrist für den Einkommensteuerbescheid 1995 war aber spätestens am 8. Mai 2013 abgelaufen, als die Kläger die Klage gegen den infolge des Urteils vom 16. Juli 2003 7 K 8270/99 E erlassenen Änderungsbescheid zurücknahmen.
bb) Die Billigkeitsmaßnahme unterliegt aber auch unmittelbar keinen gesetzlichen Fristen. Die Regeln über die Festsetzungsverjährung nach §§ 169 ff. AO sind nicht anwendbar. Trotz der insoweit missverständlichen Formulierung der Überschrift ("Abweichende Festsetzung ...") sowie in § 163 Satz 1 AO ("... niedriger festgesetzt ...") und § 163 Satz 3 AO ("... abweichende Festsetzung ...") handelt es sich bei der Entscheidung nach § 163 AO nicht um eine Steuerfestsetzung i.S. des § 169 Abs. 1 Satz 1 AO, sondern um einen Grundlagenbescheid für diese (vgl. Senatsurteil in BFHE 251, 298, BStBl II 2016, 139, unter II.3.b). Erst der Folgebescheid setzt die Steuer fest.
Die Entscheidung nach § 163 AO ist auch keine gesonderte Feststellung der Besteuerungsgrundlagen i.S. des § 179 Abs. 1 AO, was zur Folge hätte, dass die Regeln über die Feststellungsfrist nach § 181 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. §§ 169 ff. AO sowie ggf. nach § 181 Abs. 5 AO anwendbar wären. Wie bereits der Bezug des § 179 Abs. 1 AO auf § 157 Abs. 2 AO verdeutlicht, betrifft die gesonderte Feststellung nach §§ 179 ff. AO Besteuerungsgrundlagen, die nach materiellem Recht in die Steuerfestsetzung einzugehen haben, was bei Abweichungen aus Billigkeitsgründen nicht der Fall ist.
b) Grundsätzlich kann der Zeitablauf gleichwohl im Rahmen der Ermessensentscheidung über die Billigkeitsmaßnahme berücksichtigt werden.
aa) Es ist eine dem Grunde nach zulässige Ausübung des Ermessens, einen verhältnismäßig spät gestellten Erlassantrag im Hinblick auf den Zeitablauf zwischen Zahlung und Antragstellung abzulehnen und sich dabei an den zu Rechtsverlusten führenden gesetzlichen Fristen zu orientieren (BFH-Entscheidungen in BFHE 131, 446, BStBl II 1981, 82; in BFH/NV 1987, 620; vom 15. März 1994 VII B 196/93, BFH/NV 1995, 4; ebenso Urteil des Niedersächsischen FG vom 1. August 2012 4 K 342/11, EFG 2012, 2086, Revisionsverfahren VIII R 40/12 durch Hauptsacheerledigung beendet). Allerdings enthält das BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 171, das Grundlage der Billigkeitsmaßnahme ist, keine Aussage zu der Frage des Zeitablaufs und insbesondere keine Antragsfrist (anders etwa die Richtlinien, die Gegenstand des BFH-Urteils vom 3. Februar 1976 VII R 47/74, BFHE 118, 3 waren).
bb) Äußert sich eine Verwaltungsvorschrift zu einem nach allgemeinen Grundsätzen als Ermessenskriterium dienenden Punkt überhaupt nicht, hier zum Zeitfaktor, kann dies bedeuten, dass sie die Berücksichtigung des zeitlichen Elements generell ausschließen will. Sie kann aber auch so begriffen werden, dass sie sich auf die Nichtregelung beschränkt und die Lücke mit Hilfe der allgemeinen Grundsätze aufzufüllen ist. Das FA hat das BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 171 erkennbar in der zuletzt genannten Weise verstanden, da es andernfalls nicht auf das Zeitelement hätte abstellen können. Dieses Verständnis ist maßgebend. Die Gerichte haben Verwaltungsanweisungen nicht selbst auszulegen, sondern nur darauf zu überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist (vgl. BFH-Urteil vom 13. Januar 2011 V R 43/09, BFHE 233, 58, BStBl II 2011, 610, unter II.2.b, m.w.N.). Daran bestehen im Streitfall keine Zweifel. Es gibt keine Hinweise darauf, dass das BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 171 die Berücksichtigung des Zeitablaufs kategorisch ausblenden wollte. Dieser lediglich verfahrensmäßige Aspekt hat mit der zugrundeliegenden sachlichen Unbilligkeit in Gestalt der verschärfenden Rechtsprechung zum gewerblichen Grundstückshandel unmittelbar nichts zu tun, sondern gilt für alle Billigkeitsmaßnahmen.
4. Bei der nach § 102 Satz 1 FGO gebotenen Prüfung der finanzbehördlichen Entscheidung nach diesen Maßstäben ist die Ablehnung der Billigkeitsmaßnahme nicht zu beanstanden. Das FA hat weder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht.
a) Das dem FA nach § 163 AO eingeräumte Ermessen war nicht in der Weise auf Null reduziert, dass allein der Ausspruch der Billigkeitsmaßnahme rechtmäßig gewesen wäre.
aa) Die Kläger haben erstmals im Jahre 2010 einen Antrag auf abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen gestellt. Die noch im Klageverfahren 7 K 8270/99 E getätigten Äußerungen waren keine Anträge, sondern lediglich Rechtsausführungen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem anhängigen Klageverfahren, in dem sie allerdings unerheblich waren. Wie dem Schriftsatz des damaligen Bevollmächtigten vom 10. Juni 2003 zu entnehmen ist, hat dieser seine eigenen Äußerungen zum damaligen Zeitpunkt selbst nicht als Antrag verstanden wissen wollen, das FA X sie ersichtlich auch nicht als solchen angesehen.
bb) Sowohl die Bestandskraft der zugrundeliegenden Steuerfestsetzung als auch die Zahlung der betreffenden Steuerschuld, die ausweislich des in dem Änderungsbescheid vom 19. September 2003 enthaltenen Abrechnungsteils zu jenem Zeitpunkt schon vorgenommen worden war, lagen bei Antragstellung im Jahre 2010 bereits zumindest sieben Jahre zurück. Das ist eine Zeitspanne, bei der die Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme wegen Zeitablaufs nach den unter B.II.3.b aa (s.o.) genannten Kriterien jedenfalls ernstlich in Betracht kommt. Sie überschreitet sowohl die regelmäßige Festsetzungsverjährungsfrist als auch die regelmäßige Zahlungsverjährungsfrist. Inwieweit zusätzlich der zeitliche Abstand von immerhin 15 Jahren zu dem Veranlagungszeitraum berücksichtigt werden kann, kann dahinstehen.
Soweit das FG davon ausgeht, Verwirkung sei nicht eingetreten, ist dies zwar zutreffend, aber unerheblich. Das Zeitmoment bildet im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 163 AO einen selbständigen Grund für den Rechtsverlust. Er tritt neben die Verwirkung und ist von dieser zu trennen.
cc) Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Kläger bereits mit Schriftsatz vom 10. März 2003 auf das BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 171 hingewiesen hatten. Selbst wenn das FA X daraufhin zunächst auch ohne förmlichen Antrag gehalten gewesen sein sollte, eine Billigkeitsentscheidung zu treffen, geht es zu Lasten der Kläger, nicht insistiert zu haben. Bereits mit dem Schriftsatz des FA X vom 7. April 2003 war den Klägern bekannt, dass das FA X das BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 171 tatbestandlich nicht für anwendbar hielt und deshalb keine Billigkeitsmaßnahme ergreifen würde. Es oblag von diesem Zeitpunkt an wieder den Klägern, auf förmlicher Bescheidung zu bestehen, ggf. im Wege des Untätigkeitseinspruchs nach § 347 Abs. 1 Satz 2 AO und der Untätigkeitsklage nach § 46 FGO.
dd) Das FG hat im Übrigen keine besonderen Umstände festgestellt, die die Berücksichtigung des Zeitablaufs ausschlössen und die angenommene Ermessensreduzierung auf Null trügen.
b) Vielmehr hat das FA mit Rücksicht auf den Zeitablauf die Billigkeitsmaßnahme ermessensfehlerfrei abgelehnt. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob das Ermessen sogar in der Weise auf Null reduziert gewesen sein könnte, dass allein die Ablehnung der Billigkeitsentscheidung rechtmäßig war. Ebenso kann offenbleiben, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Anwendung des BMF-Schreibens in BStBl I 2003, 171 gegeben waren. Denn bereits die Berufung auf den Zeitablauf trägt die angefochtene Entscheidung. Das FA hat die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Billigkeitsentscheidung nach § 163 AO zutreffend beschrieben. Es hat vor diesem Hintergrund den zeitlichen Abstand zwischen der Bestandskraft der Steuerfestsetzung und dem Antrag der Kläger auf Erteilung des Billigkeitserweises gewertet und diesen kurz, aber ohne Außerachtlassung wesentlicher Umstände des Falls abgelehnt.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.