Entscheidungsdatum: 08.05.2017
NV: Das Gericht verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ohne dem anderen Verfahrensbeteiligten einen Schriftsatz mit einer Antragsänderung zur Kenntnis gebracht zu haben .
Auf die Beschwerde des Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 14. Oktober 2016 2 K 11251/15 aufgehoben, soweit es den Antrag auf Änderung der Einkommensteuer 2009 betrifft.
Die Sache wird insoweit an das Niedersächsische Finanzgericht zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
I. Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) erzielte Einkünfte aus Gewerbebetrieb im Rahmen einer Betriebsaufspaltung. Über das Vermögen der Betriebsgesellschaft wurde im Jahre 2004 das Insolvenzverfahren eröffnet. Für Darlehensverbindlichkeiten, die er in diesem Zusammenhang übernommen hatte, entrichtete der Kläger Schuldzinsen. Er beantragte teils (hinsichtlich der vormaligen Streitjahre 2008 und 2009) im Wege eines Änderungsantrages nach § 172 der Abgabenordnung (AO), teils (hinsichtlich des vormaligen Streitjahres 2013) im Wege des Einspruchs die Berücksichtigung von Zinsen als nachträgliche Betriebsausgaben bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) lehnte dies im Wesentlichen ab.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG) am 3. August 2016 beantragte der Kläger,
- im Jahre 2008 Schuldzinsen in Höhe von 3.423 € bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb statt bei den Einkünften aus Kapitalvermögen,
- im Jahre 2009 Schuldzinsen in Höhe von 1.863 € als zusätzliche nachträgliche Betriebsausgaben bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb,
- im Jahre 2013 Schuldzinsen in Höhe von 1.227 € als zusätzliche nachträgliche Betriebsausgaben bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb
zu berücksichtigen.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung setzte das FG dem Kläger eine Frist zur Vorlage weiterer Dokumente nach § 79b der Finanzgerichtsordnung (FGO) bis zum 10. September 2016. Die Beteiligten erklärten ihr Einverständnis mit einer darauf folgenden Entscheidung durch den Berichterstatter und ohne mündliche Verhandlung. Das FG vertagte den Termin. Am 26. September 2016 verlängerte der Berichterstatter wegen einer verspäteten Übermittlung des Protokolls die Frist bis zum 10. Oktober 2016.
Am 10. Oktober 2016 ging per Fax ein Schriftsatz des Klägers mit einem Konvolut Unterlagen ein. Darin hieß es u.a.: "Die gleichen Unterlagen haben wir mit heutiger Post auch bei der Beklagten eingereicht."
Am 11. Oktober 2016 ging per Fax ein weiterer Schriftsatz des Klägers ein, in dem es auszugsweise hieß: "... reichen aufgrund Ihrer heutigen fernmündlichen Rückfrage die Darlehensauszüge ... nach.
Für 2008 sind nur noch die Zinsen der Sparkasse [A] in Höhe von 2.461,15 € zu berücksichtigen. ...
Für 2009 ist uns bei der Ermittlung der Schuldzinsen ein Fehler unterlaufen, weil die Auszüge der Sparkasse [A] geteilt waren. Die Schuldzinsen der Sparkasse [A] betragen 775,28 € und 1.473,12 € = gesamt 2.248,40 €. Der Anteil der Schuldzinsen der Volksbank [B] beträgt ½ von 1.153,98 € = 576,99 €. Somit müssten insgesamt 2.825,39 € als nachträgliche Betriebsausgaben berücksichtigt werden. Beantragt hatten wir in der Steuererklärung 1.863,00 €. Soweit es möglich ist, beantragen wir die Schuldzinsen für beide Darlehen in Höhe von 2.825,39 € als nachträgliche Betriebsausgaben zu berücksichtigen.
Für 2013 ist nur noch das Darlehen der Sparkasse [A] vorhanden. Die Schuldzinsen betragen 1.226,24 €."
Eine dem vorangegangenen Schriftsatz ähnliche Bemerkung über die unmittelbare Übersendung des Schriftsatzes an das FA ist nicht vorhanden. Nach Aktenlage hat das FG den Schriftsatz sowohl vom 10. als auch vom 11. Oktober 2016 dem FA zunächst nicht übermittelt.
Mit Urteil vom 14. Oktober 2016 ohne mündliche Verhandlung hat der Berichterstatter das FA verpflichtet,
- im Jahre 2008 Schuldzinsen in Höhe von 2.461,15 € bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb statt bei den Einkünften aus Kapitalvermögen,
- im Jahre 2009 Schuldzinsen in Höhe von 2.820,39 € als zusätzliche nachträgliche Betriebsausgaben bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb,
- im Jahre 2013 Schuldzinsen in Höhe von 1.226,24 € als zusätzliche nachträgliche Betriebsausgaben bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb
zu berücksichtigen.
Das Urteil wurde dem FA am 20. Oktober 2016 zugestellt. Am 9. November 2016 verfügte der Berichterstatter, eine Durchschrift der Schriftsätze vom 10. und 11. Oktober 2016 nebst Anlagen dem FA zur Kenntnis zu übermitteln. Der Absendevermerk datiert vom 10. November 2016.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision für das Streitjahr 2009 rügt das FA die Verletzung rechtlichen Gehörs nach § 119 Nr. 3 FGO. Ihm sei erst nach Zustellung des Urteils aufgrund einer telefonischen Nachfrage beim FG bekannt geworden, dass der Kläger mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2016 seinen Klageantrag für den Veranlagungszeitraum 2009 erweitert habe. Eine Ablichtung dieses Antrags sei erst am 10. Oktober 2016 per Fax im FA eingegangen.
Durch die Versagung rechtlichen Gehörs und die sofortige Entscheidung habe das FA zu dem Antrag nicht Stellung nehmen können. Da Klagegegenstand für den Veranlagungszeitraum 2009 die Ablehnung eines Antrags auf Änderung nach § 172 AO gewesen sei, habe eine Änderung nur im Umfang des innerhalb der Antragsfrist gestellten Änderungsantrags (1.863 €) und nicht in Höhe der Erweiterung auf 2.825,39 € stattfinden dürfen. Wegen der fehlenden Übermittlung des erweiterten Klageantrags habe das FA hierauf nicht hinweisen können. Einer Klageerweiterung habe das FA nicht zugestimmt.
Der Kläger hat sich zu der Beschwerde nicht geäußert.
II. Die Beschwerde ist begründet.
1. Der ordnungsgemäß geltend gemachte Verfahrensmangel nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO i.V.m. § 119 Nr. 3 FGO liegt vor; die Entscheidung kann darauf beruhen. Das FG hat das Recht des FA auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO verletzt, indem es sein Urteil gefällt hat, ohne zuvor den Schriftsatz des Klägers vom 11. Oktober 2016 dem FA zu übermitteln und diesem Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
a) Nach § 96 Abs. 2 FGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Korrespondierend umfasst der Anspruch auf rechtliches Gehör das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und ggf. Beweisergebnissen zu äußern, sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26. Juli 2012 IX B 164/11, BFH/NV 2012, 1643; vom 23. Februar 2017 IX B 2/17, BFH/NV 2017, 746, m.w.N.).
Dem Recht auf Äußerung ist das Recht auf Information vorgelagert (vgl. Werth in Beermann/Gosch, FGO § 119 Rz 127, 128). Es besteht ein umfassender Anspruch, über den gesamten Prozessstoff kommentarlos und ohne Einschränkungen unterrichtet zu werden (vgl. Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. August 2014 2 BvR 969/14, Neue Juristische Wochenschrift 2014, 3085, unter IV.4.a). Daher ist das FG verpflichtet, entscheidungserhebliche Fakten und Unterlagen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern diese auch nach § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO dem jeweils anderen Beteiligten von Amts wegen zur Kenntnis zu geben. Die unterlassene Übersendung oder ggf. Übergabe eines entsprechenden Schriftsatzes in der mündlichen Verhandlung verletzt daher grundsätzlich das rechtliche Gehör, jedenfalls dann, wenn dieser für die Entscheidung des FG erheblich gewesen sein kann (vgl. BFH-Beschluss vom 19. November 2003 I R 41/02, BFH/NV 2004, 604, mit Einschränkungen wegen der Frage der Entscheidungserheblichkeit für wiederholende Schriftsätze, unter II.2.; BFH-Beschluss vom 24. Februar 2005 IX B 179/03, BFH/NV 2005, 1128).
b) Das FG hat es sowohl nach Lage der Akten als auch nach dem Vortrag des FA zunächst unterlassen, den Schriftsatz vom 11. Oktober 2016 dem FA zur Kenntnis zu bringen, und so das Urteil erlassen, ohne dem FA eine Stellungnahme zu ermöglichen. Der Schriftsatz wurde erst am 10. November 2016 dem FA übermittelt. Das FA hat zwar in seiner Beschwerdebegründung formuliert, es habe ihn am 10. Oktober 2016 per Fax erhalten. Da der Schriftsatz allerdings auf den 11. Oktober 2016 datiert, wäre eine Übermittlung aufgrund des beschriebenen Geschehensablaufs am 10. Oktober 2016 schlechthin unmöglich. Das FA hat sich offenkundig hinsichtlich des Monats verschrieben. Die Übermittlung am 10. November 2016 ist zudem durch den Absendevermerk belegt.
c) Nach § 119 FGO wird bei einer Verletzung rechtlichen Gehörs grundsätzlich vermutet, dass das Urteil i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO auf dem Verfahrensmangel beruht. Jedoch schränkt der BFH die Kausalitätsvermutung auf diejenigen Fälle ein, in denen sich die Verletzung rechtlichen Gehörs auf das Gesamtergebnis des Verfahrens bezieht. Betrifft sie nur einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte, hat der Beschwerdeführer darzulegen, was er im Falle der Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte und inwiefern bei Berücksichtigung dieses Vorbringens eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre (vgl. zum hergebrachten Streitstand grundlegend Beschluss des Großen Senats des BFH vom 3. September 2001 GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802, unter C.III.1.a, m.w.N.; zur aktuellen Rechtsprechung etwa BFH-Beschlüsse vom 30. Juli 2013 IV B 107/12, BFH/NV 2013, 1928, unter II.2.a; vom 14. April 2015 IV B 115/13, BFH/NV 2015, 1256, unter 1.d; Senatsbeschluss vom 28. Januar 2016 X B 128/15, BFH/NV 2016, 771, unter III.2.).
Im Streitfall bezieht sich die gerügte Verletzung rechtlichen Gehörs zwar nicht auf das gesamte Verfahren, jedoch auf einen selbständigen Streitgegenstand (die Änderung der Einkommensteuer für das Streitjahr 2009), der seinerseits von der in dem nicht übermittelten Schriftsatz enthaltenen Antragsänderung insgesamt betroffen ist. Ungeachtet der Frage, ob ihm dies überhaupt oblag, hat das FA aber auch in der Beschwerdebegründung geltend gemacht, dass es zu der Zulässigkeit des Antrags des Klägers, im Streitjahr 2009 weitere Betriebsausgaben zu berücksichtigen, vorgetragen hätte, wenn es hierzu die Gelegenheit gehabt hätte. Das FG hätte sich sodann mit dem Einwand, dass für das den Betrag von 1.863 € übersteigende Begehren verfahrensrechtlich keine Änderungsvorschrift zur Verfügung gestanden habe, auseinandersetzen müssen.
2. Zur Straffung des Verfahrens verweist der Senat den Rechtsstreit nach § 116 Abs. 6 FGO bereits im Beschwerdeverfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
3. Die Entscheidung über die Übertragung der Kosten folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.