Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 28.11.2016


BFH 28.11.2016 - VIII B 47/16

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör wegen abgelehnter Terminsverlegung; Verzicht auf mündliche Verhandlung; Gebot rechtsschutzwahrender Auslegung


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsdatum:
28.11.2016
Aktenzeichen:
VIII B 47/16
ECLI:
ECLI:DE:BFH:2016:B.281116.VIIIB47.16.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend FG Köln, 20. April 2016, Az: 9 K 3675/13, Urteil
Zitierte Gesetze

Leitsätze

NV: Aus dem Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 90 Abs. 2 FGO folgt nicht, dass im Krankheitsfall auf die Teilnahme an einer trotz des Verzichts durchgeführten mündlichen Verhandlung verzichtet wird.

Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 20. April 2016  9 K 3675/13 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Köln zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wenden sich mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts (FG) Köln vom 20. April 2016  9 K 3675/13.

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1. Das FG lud die Kläger zur mündlichen Verhandlung am 20. April 2016. Die Ladung wurde den Klägern am 10. März 2016 zugestellt. Mit Schreiben vom selben Tag teilten die Kläger dem FG mit, dass sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen würden, da der Kläger, der zugleich als Bevollmächtigter der Klägerin auftrat, hierzu aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sei. Mit Schreiben vom 8. April 2016 teilte der Kläger dem FG mit, dass er für unbestimmte Zeit verhandlungsunfähig sei. Zugleich legte er dem FG ein ärztliches Attest eines Internisten vom 8. April 2016 vor. In diesem wurde bescheinigt, dass der Kläger wegen einer terminalen, dialysepflichtigen chronischen Niereninsuffizienz (Urämie) bis auf weiteres nicht verhandlungsfähig sei. Der Kläger wiederholte seinen Antrag auf Verzicht auf mündliche Verhandlung und forderte das FG auf, kurzfristig über die Klage zu entscheiden.

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Zu der vom FG am 20. April 2016 durchgeführten mündlichen Verhandlung erschien für die Kläger niemand. Das FG wies die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, es habe auch ohne die Teilnahme der ordnungsgemäß geladenen Kläger an der mündlichen Verhandlung entscheiden können. Es sei zwar ein ärztliches Attest vorgelegt worden, nachdem der Kläger verhandlungsunfähig gewesen sei. Die Kläger hätten jedoch keine Verlegung des Termins beantragt, sondern lediglich mitgeteilt, dass sie zu dem Termin nicht erscheinen würden. Zudem hätten sie erklärt, dass sie auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichten würden und das Gericht aufgefordert, kurzfristig zu entscheiden. Das Gericht sei danach mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung dem ausdrücklichen klägerischen Begehren nachgekommen.

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2. Mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision machen die Kläger u.a. geltend, dass das FG ohne mündliche Verhandlung entschieden und dadurch ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) verletzt habe. Der Kläger habe mit dem von ihm erklärten Verzicht auf eine mündliche Verhandlung nicht zugleich darauf verzichtet, an einer solchen teilzunehmen, wenn diese tatsächlich durchgeführt wird.

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3. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung des FG (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die angegriffene Entscheidung verletzt den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör und stellt eine Rechtsverletzung i.S. von § 119 Nr. 3 FGO dar.

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1. Das FG hat den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es trotz ärztlich bescheinigter Verhandlungsunfähigkeit des Klägers, der zugleich Bevollmächtigter der Klägerin war, und des konkludent gestellten Antrags auf Terminsverlegung die mündliche Verhandlung in Abwesenheit der Kläger durchführte (§ 119 Nr. 3 FGO).

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a) Nach § 155 FGO i.V.m. § 227 der Zivilprozessordnung kann ein Termin aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt werden. Liegen erhebliche Gründe vor, verdichtet sich die in dieser Vorschrift eingeräumte Ermessensfreiheit zu einer Rechtspflicht. Der Termin muss dann zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs aufgehoben oder verlegt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits durch die Aufhebung oder Verlegung des Termins verzögert wird (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH--, vgl. z.B. Beschluss vom 3. Juli 2001 II B 132/00, BFH/NV 2002, 30).

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b) Danach hätte das FG den Termin zur mündlichen Verhandlung am 20. April 2016 wegen der Erkrankung des Klägers verlegen müssen. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Kläger mit dem erklärten Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung auch darauf verzichtet haben, an einer solchen trotz ärztlich bescheinigter Verhandlungsunfähigkeit teilzunehmen.

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aa) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sind Prozesserklärungen wie sonstige Willenserklärungen auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung. Dabei können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände berücksichtigt werden. Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 GG) Rechnung (vgl. BFH-Beschluss vom 17. September 2014 VI B 75/14, BFH/NV 2015, 51, m.W.N.).

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bb) Danach ist der Vortrag der nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertretenen Kläger in den Schreiben vom 10. März 2016 und vom 8. April 2016 dahingehend zu verstehen, dass für den Fall der Durchführung einer mündlichen Verhandlung aufgrund der Erkrankung des Klägers eine Terminsänderung beantragt wird. Entgegen der Auffassung des FG folgt aus dem Verzicht der Kläger auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 90 Abs. 2 FGO nicht, dass die Kläger auf jegliche Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichteten. Die Erklärung kann nach den gesetzlichen Vorgaben des § 90 Abs. 2 FGO nur dahingehend verstanden werden, dass sie auf eine mündliche Verhandlung für den Fall verzichten, dass auch die andere Partei ihr Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Dies war vorliegend nicht der Fall.

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c) Der Antrag auf Terminsverlegung war nach dem vom Kläger vorgelegten ärztlichen Attest auch begründet (vgl. BFH-Beschluss vom 17. September 2014 IX B 44/14, BFH/NV 2015, 52).

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2. Von einer weitergehenden Begründung --auch hinsichtlich der weiteren von den Klägern gerügten Verfahrensfehler-- wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen. Auf den Verfahrensfehler ist das FG-Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.