Entscheidungsdatum: 12.06.2018
NV: Werden vorübergehend verwahrte Waren auf dem Weg zum Zollamt der zollamtlichen Überwachung entzogen, wird Zollschuldner nach Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK diejenige Person, auf die infolge eines zuvor bewilligten Besitzwechsels die Vorführpflicht übergegangen ist.
Die Revision des Hauptzollamts gegen das Urteil des Finanzgerichts Bremen vom 8. Dezember 2016 4 K 31/14 (2) wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat das Hauptzollamt zu tragen.
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) verschiffte drei Kfz aus den USA in die Bundesrepublik Deutschland, meldete diese am 18. und 22. März 2010 an und verbrachte sie in ihr Verwahrungslager. Die Empfängerin der Kfz --ein in der Schweiz ansässiges Unternehmen-- beauftragte die Fa. S mit der zolltechnischen Abwicklung und dem Transport der Kfz in die Schweiz, die ihrerseits die Fa. W mit der Erstellung von NCTS-Versandanmeldungen zur Beförderung der Kfz im T1-Verfahren sowie die Fa. R mit dem eigentlichen Transport der Kfz vom Verwahrungslager der Klägerin in die Schweiz beauftragte. Der Fahrer der Fa. R holte die Kfz bei der Klägerin ab, was das Zollamt X zuvor telefonisch gestattet hatte. Der Fahrer gestellte die Kfz nicht erneut bei der Zollstelle, sondern transportierte sie direkt zur Schweizer Grenze.
Mit Einfuhrabgabenbescheid vom 28. April 2010 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt --HZA--) gegen die Klägerin Zoll und Einfuhrumsatzsteuer fest. Das Finanzgericht (FG) hob den Einfuhrabgabenbescheid auf. Es war der Auffassung, die Klägerin sei nicht Schuldnerin der Einfuhrabgaben geworden, weil die Verpflichtung zur Vorführung der Waren infolge der Übergabe der Kfz an den Fahrer auf diesen sowie die Fa. S übergegangen sei.
Mit seiner Revision macht das HZA geltend, das vom FG angeführte Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) United Antwerp Maritime Agencies und Seaport Terminals vom 15. September 2005 C-140/04 (EU:C:2005:556, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern --ZfZ-- 2005, 406) sei auf den Streitfall nicht anwendbar, weil kein Verwahrerwechsel stattgefunden habe, sondern nur der tatsächliche Besitz an den Waren übergegangen sei. Art. 184 Abs. 2 der Zollkodex-Durchführungsverordnung (ZKDVO) betreffe nach der Rechtsänderung im Jahr 2009 nur noch die Pflichten beim erstmaligen Verbringen von Waren in das Zollgebiet der Union. Bereits mit dem Verlassen des Firmengeländes seien die Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen worden, weil die Zollstelle dem Verlassen des Verwahrungsorts nur unter der Bedingung einer Beförderung zum Zollamt zugestimmt habe.
II.
Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das erstinstanzliche Urteil entspricht dem Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FG hat den Einfuhrabgabenbescheid vom 28. April 2010 zu Recht aufgehoben, weil die Klägerin nicht Schuldnerin der infolge des Entziehens der Kfz aus der zollamtlichen Überwachung entstandenen Einfuhrabgaben geworden ist.
1. Nach der Rechtsprechung des EuGH umfasst das Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung nach Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex (ZK) jede Handlung oder Unterlassung, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde, wenn auch nur zeitweise, am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und an der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 ZK vorgesehenen Prüfungen gehindert wird (vgl. EuGH-Urteile Honeywell Aerospace vom 20. Januar 2005 C-300/03, EU:C:2005:43, Rz 19, ZfZ 2005, 84, und AEBTRI vom 22. November 2017 C-224/16, EU:C:2017:88, Rz 93, ZfZ 2018, 61).
Vorliegend befanden sich die Kfz gemäß Art. 55 ZK i.V.m. Art. 50 ZK in vorübergehender Verwahrung und damit gemäß Art. 37 Abs. 2 ZK unter zollamtlicher Überwachung. Sie wurden in dem Zeitpunkt der zollamtlichen Überwachung entzogen (Art. 203 Abs. 2 ZK), als der Fahrer entgegen der telefonischen Absprache mit dem Zollamt X den Weg zur Zollstelle verlassen hat, ohne die Waren dort zur Eröffnung eines Versandverfahrens nach Art. 91 Abs. 1 Buchst. a ZK zu gestellen. Ab diesem Moment waren die Zollbehörden nicht mehr über den Verbleib der Kfz informiert.
Die Kfz wurden nicht bereits mit deren Herausgabe an den Fahrer der Fa. R der zollamtlichen Überwachung entzogen. Das FG hat zutreffend darauf abgestellt, dass das zuständige Zollamt den Ortswechsel telefonisch gestattet hatte und diesem somit bekannt war, dass sich die Kfz auf dem Weg zur zollrechtlichen Abfertigung befanden (vgl. auch Senatsbeschluss vom 29. Oktober 2007 VII B 352/06, BFH/NV 2008, 629, m.w.N.).
2. Die Klägerin ist nicht gemäß Art. 203 Abs. 3 ZK Schuldnerin der Einfuhrabgaben geworden.
a) Eine Schuldnerschaft der Klägerin gemäß Art. 203 Abs. 3 Anstrich 1 ZK scheidet aus, weil der Fahrer der Fa. R am Zollamt X vorbeigefahren und die Kfz dadurch der zollamtlichen Überwachung entzogen hat.
b) Die Klägerin ist auch nicht nach Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK Abgabenschuldner geworden.
aa) Danach kommt als Schuldner gegebenenfalls die Person in Betracht, welche die Verpflichtungen einzuhalten hatte, die sich aus der vorübergehenden Verwahrung einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware ergeben. Nach der Rechtsprechung des EuGH betrifft Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK nur die Verpflichtungen, die mit dem Verbleib der Waren in vorübergehender Verwahrung zusammenhängen (EuGH-Urteil United Antwerp Maritime Agencies und Seaport Terminals, EU:C:2005:556, Rz 38, ZfZ 2005, 406). Dazu gehört die Verpflichtung, die Ware auf Verlangen der Zollbehörden diesen jederzeit vorzuführen. Welche Person die Vorführpflicht zu erfüllen hat, ergibt sich im Einzelnen aus Art. 184 ZKDVO. Solange die Waren noch nicht vom Beförderungsmittel abgeladen wurden, trifft diese Pflicht nach Art. 184 Abs. 1 ZKDVO die Person, die die summarische Anmeldung abgegeben hat. Art. 184 Abs. 2 ZKDVO bestimmt demgegenüber, dass die Verpflichtung, die Waren den Zollbehörden auf Verlangen vollständig vorzuführen, nach dem Abladen der Waren auf jede Person übergeht, die diese zwecks Beförderung oder Lagerung im Besitz hat.
Haben die Waren demnach das Beförderungsmittel verlassen, kommt es für die Bestimmung der zur Vorführung verpflichteten Person maßgeblich auf den Besitz der Waren an. Denn es ist der Besitzer, der die Waren in seiner Obhut hat und sie auf Verlangen vorführen kann, während die Person, die die summarische Anmeldung unterzeichnet hat, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die Sachherrschaft über die Waren ausübt (EuGH-Urteil United Antwerp Maritime Agencies und Seaport Terminals, EU:C:2005:556, Rz 35, ZfZ 2005, 406; bestätigt durch EuGH-Urteil SEK Zollagentur vom 12. Juni 2014 C-75/13, EU:C:2014:1759, Rz 36, ZfZ 2014, 278; vgl. auch Senatsbeschluss vom 6. Mai 2013 VII B 195/12, BFH/NV 2013, 1462). Demnach ist entscheidend, wer die Möglichkeit hat, tatsächlich auf die Ware einzuwirken und den Zollbehörden den Zugang zu der vorübergehend verwahrten Ware zu verschaffen.
Davon ausgehend übte im Streitfall der Fahrer der Fa. R, gegebenenfalls dessen Arbeitgeber, in dem Zeitpunkt, in dem die Kfz der zollamtlichen Überwachung entzogen wurden, die Sachherrschaft über die Waren aus, weil er die Kfz beförderte. Dagegen hatte die Klägerin keinen unmittelbaren Zugriff mehr auf die Kfz.
Ob eine Besitzdienerschaft oder mittelbarer Besitz im Sinne des nationalen zivilrechtlichen Verständnisses (§ 855 bzw. § 868 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) ausreicht, um die vom EuGH bei der Auslegung des Art. 184 Abs. 2 ZKDVO für entscheidend gehaltene Sachherrschaft bejahen zu können, kann im Streitfall dahinstehen. Das FG hat weder ein Besitzmittlungsverhältnis noch mittelbaren Besitz der Klägerin festgestellt noch bestehen dafür Anhaltspunkte. Der Fahrer bzw. die Fa. R wurden von der Fa. S und diese wiederum von der Schweizer Empfängerin mit dem Transport der Kfz in die Schweiz beauftragt. Die Klägerin war dagegen nicht befugt, dem Fahrer Weisungen zu erteilen.
bb) Entgegen der Auffassung des HZA ist Art. 184 Abs. 2 ZKDVO in der im Streitfall maßgeblichen Fassung nicht auf Fälle der erstmaligen Entladung nach der Ankunft des Beförderungsmittels im Zollgebiet beschränkt.
Zwar wurde Art. 184 ZKDVO nach der Änderung der ZKDVO mit Wirkung vom 1. Juli 2009 durch die Verordnung (EG) Nr. 1875/2006 der Kommission vom 18. Dezember 2006 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- Nr. L 360/64) in Titel VI Kapitel 1 Abschnitt 2 mit Regelungen zur Abgabe einer summarischen Eingangsanmeldung verschoben.
Die streitgegenständlichen Einfuhren vom März 2010 fanden jedoch während der Übergangsfrist vom 1. Juli 2009 bis zum 31. Dezember 2010 statt, in der nach der Verordnung (EG) Nr. 273/2009 der Kommission vom 2. April 2009 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften zur Abweichung von einigen Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission --VO Nr. 273/2009-- (ABlEU Nr. L 91/14) die summarische Eingangsanmeldung noch nicht zwingend vorgeschrieben war. Wurde --wie im Streitfall-- keine summarische Eingangsanmeldung abgegeben, galten gemäß Art. 1 Unterabs. 4 VO Nr. 273/2009 noch die bis zum 30. Juni 2009 anwendbaren Bestimmungen für in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbrachte Waren. Somit gilt im Streitfall die Rechtslage, die auch der EuGH in seinem Urteil United Antwerp Maritime Agencies und Seaport Terminals (EU:C:2005:556, ZfZ 2005, 406) zu beachten hatte.
Darüber hinaus verlagert Art. 184 Abs. 2 ZKDVO die Vorführpflicht ausdrücklich auf jede Person, die die Waren zwecks Beförderung oder Lagerung im Besitz hat. Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift auf den ersten Besitzer der Waren nach deren Entladung vom Beförderungsmittel ist somit auch dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu entnehmen.
Ob Art. 184 Abs. 2 ZKDVO nach dem Normverständnis des HZA nach der Rechtsänderung zum 1. Juli 2009 überhaupt noch einen Anwendungsbereich hätte, weil eine Entladung der Ware erst nach der Ankunftsmeldung gemäß Art. 184g ZKDVO (und einer entsprechenden Zustimmung der Zollstelle gemäß Art. 46 Abs. 1 ZK) zulässig ist, aber diese Vorschrift chronologisch später in der ZKDVO eingeordnet ist, kann aufgrund der Geltung der alten Rechtslage im Streitfall offenbleiben.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.