Entscheidungsdatum: 18.06.2015
1. NV: Die objektive Beweislast (Feststellungslast) für die tatsächlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO trägt grundsätzlich die Finanzbehörde. Dies gilt jedoch nicht, soweit es um die Feststellungslast für die Verletzung der Ermittlungspflicht der Finanzbehörde geht. Diese trifft den Steuerpflichtigen .
2. NV: Die objektive Beweislast dafür, dass dem für die Veranlagung zuständigen Sachbearbeiter ausnahmsweise auch nicht aktenkundige Tatsachen dienstlich bekannt waren oder als bekannt zuzurechnen sind, trägt ebenfalls der Steuerpflichtige. Dies gilt insbesondere, wenn wegen des Unterlassens der Beiziehung "anderer" Akten die Verletzung der Ermittlungspflicht in Rede steht .
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Finanzgerichts des Saarlandes vom 13. März 2013 2 K 1503/08 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
I. Das Verfahren befindet sich im zweiten Rechtsgang.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Gesamtrechtsnachfolgerin ihres 2007 verstorbenen Ehemanns (E). In ihrer am 22. Oktober 2001 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) eingereichten Einkommensteuererklärung für das Streitjahr (2000) machten die Eheleute Unterhaltsaufwendungen für ihren Sohn (S) als außergewöhnliche Belastungen geltend. Aus der Erklärung ergab sich, dass S als Student in Frankreich lebte und dort einen gemeinsamen Haushalt mit Ehefrau und zwei Kindern unterhielt. Die Klägerin und E teilten die eigenen Einkünfte des S, die sich im Streitjahr tatsächlich auf 31.047 DM beliefen, durch vier und gaben sie in der Einkommensteuererklärung dementsprechend nur in Höhe von 7.762 DM an.
In dem am 24. Oktober 2001 vom zuständigen Sachbearbeiter (B) freigegebenen Einkommensteuerbescheid vom 7. November 2001 berücksichtigte das FA die Unterhaltsaufwendungen für S in Höhe von 6.938 DM als außergewöhnliche Belastungen. Das FA ging dabei von eigenen Einkünften des S in Höhe von 7.762 DM aus.
S hatte seine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr am 9. Oktober 2001 beim FA abgegeben. Er war ebenfalls von dem Sachbearbeiter B mit Bescheid vom 29. Oktober 2001 veranlagt worden, nachdem dieser am 12. Oktober 2001 die abschließende Zeichnung vorgenommen hatte. Der Gesamtbetrag der Einkünfte des S belief sich auf 31.047 DM.
Das FA änderte den Einkommensteuerbescheid vom 7. November 2001 am 19. Dezember 2002 --soweit es hier von Bedeutung ist-- gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO). Es ließ in diesem Bescheid wegen der Höhe der Einkünfte des S die Unterhaltsaufwendungen nicht mehr zum Abzug als außergewöhnliche Belastungen zu.
Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) im ersten Rechtsgang ab. Allerdings berücksichtigte das FA in dem während des Klageverfahrens gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geänderten Bescheid vom 2. Juli 2009 Unterhaltsaufwendungen als außergewöhnliche Belastungen in Höhe von 3.920 DM.
Mit Urteil vom 13. Juni 2012 VI R 85/10 (BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5) hob der Bundesfinanzhof (BFH) das FG-Urteil auf und verwies die Sache an das FG zurück. Das FG habe nicht aufgeklärt, ob der für die Veranlagung der Klägerin und des S zuständige Sachbearbeiter B im maßgeblichen Zeitpunkt, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen gewesen sei, positive Kenntnis von der Höhe der Einkünfte des S gehabt habe. Das FG müsse daher im zweiten Rechtsgang aufklären, ob B im Zeitpunkt der Veranlagung der Klägerin und des E aufgrund der wenige Tage zuvor erfolgten Bearbeitung des Steuerfalls des S positive Kenntnis von dessen verwandtschaftlichen Beziehungen zur Klägerin sowie von dessen Einkünften im Streitjahr besessen habe. Könne der Sachverhalt nicht (mehr) aufgeklärt werden, sei nach den Regeln der Beweislast zu entscheiden.
Im zweiten Rechtsgang wies das FG die Klage nach Vernehmung des B als Zeuge erneut ab. Die Beweisaufnahme habe nicht ergeben, dass der Zeuge B, an dessen Glaubwürdigkeit keine Zweifel bestünden, im Zeitpunkt der Veranlagung der Klägerin und des E aufgrund der wenige Tage zuvor erfolgten Bearbeitung des Steuerfalls des S positive Kenntnis von dessen verwandtschaftlichen Beziehungen zur Klägerin und von dessen Einkünften im Streitjahr besessen habe. B habe glaubhaft bekundet, dass er sich weder an den Namen der Klägerin und des S noch an den konkreten Fall erinnern könne.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Änderung des Einkommensteuerbescheids für 2000 vom 2. Juli 2009 die Einkommensteuer unter Berücksichtigung von weiteren außergewöhnlichen Belastungen in Höhe von 3.018 DM (1.543,08 €) festzusetzen.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass das FA den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid vom 7. November 2001 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO berichtigen durfte.
1. Im ersten Rechtsgang hat der beschließende Senat --für das FG bindend (§ 126 Abs. 5 FGO)-- entschieden, dass das FG im zweiten Rechtsgang aufklären müsse, ob B im Zeitpunkt der Veranlagung der Klägerin und des E aufgrund der wenige Tage zuvor erfolgten Bearbeitung des Steuerfalls des S positive Kenntnis von dessen verwandtschaftlichen Beziehungen zur Klägerin und von dessen Einkünften im Streitjahr besessen habe.
Das FG hat daraufhin im zweiten Rechtsgang unter Beachtung der Bindungswirkung des § 126 Abs. 5 FGO den B als Zeuge für die von dem beschließenden Senat als entscheidungserheblich erachtete Frage vernommen.
Das FG hat aufgrund der in der Sitzungsniederschrift über die mündliche Verhandlung wiedergegebenen Aussage des Zeugen B --insoweit nachvollziehbar-- festgestellt, dass sich der Zeuge B weder an den Namen der Klägerin oder des S noch sonst an den konkreten Fall erinnern konnte. Da dem Zeugen B der nach dem Senatsurteil in BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5 entscheidungserhebliche Sachverhalt bei seiner Vernehmung durch das FG somit überhaupt nicht mehr erinnerlich war, verbleibt es bei der auch für den Senat im zweiten Rechtsgang grundsätzlich bindenden rechtlichen Würdigung in dem zurückverweisenden Urteil (dazu BFH-Urteile vom 4. November 2004 III R 38/02, BFHE 208, 155, BStBl II 2005, 271, und vom 23. Oktober 1991 I R 52/90, BFH/NV 1992, 271), dass nach den Regeln der objektiven Beweislast zu entscheiden ist, wenn der Sachverhalt nicht (mehr) aufgeklärt werden kann.
Zwar hat das FG gegen die Bindungswirkung des § 126 Abs. 5 FGO verstoßen, indem es die Auffassung vertreten hat, dass die Regeln über die objektive Feststellungslast im Streitfall nicht maßgeblich seien. Die Vorentscheidung stellt sich jedoch aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar. Denn auch bei Anwendung der Regeln über die objektive Feststellungslast durfte das FA den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern.
2. Die objektive Beweislast (Feststellungslast) für die tatsächlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO trägt grundsätzlich das FA (BFH-Urteile vom 23. Januar 2002 XI R 55/00, BFH/NV 2002, 1009; vom 6. Dezember 1994 IX R 11/91, BFHE 176, 221, BStBl II 1995, 192; vom 22. April 1988 III R 89/86, BFH/NV 1988, 768, und vom 20. Dezember 1988 VIII R 121/83, BFHE 156, 339, BStBl II 1989, 585; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 53, 85). Dies gilt jedoch nicht, soweit es nicht um die objektive Beweislast für die "neue Tatsache", sondern um die Verletzung der Ermittlungspflicht des FA geht. Diese Feststellungslast trifft den Steuerpflichtigen (BFH-Urteil vom 19. Mai 1998 I R 140/97, BFHE 186, 124, BStBl II 1998, 599).
a) Nach ständiger Rechtsprechung gilt dem FA der Inhalt der Akten als bekannt, die in der zuständigen Dienststelle für den zu veranlagenden Steuerpflichtigen geführt werden (Senatsurteil in BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5, unter II.2.c, m.w.N.). Dagegen gelten Tatsachen, die sich aus den Akten anderer Steuerpflichtiger ergeben, auch dann nicht als bekannt, wenn für deren Bearbeitung dieselbe Person zuständig ist. Nach diesen Maßstäben war die tatsächliche Höhe der Einkünfte des S in Bezug auf die Einkommensteuerfestsetzung der Klägerin und des E im Grundsatz eine neue steuererhöhende Tatsache, die das FA grundsätzlich zum Erlass des angefochtenen Änderungsbescheids gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO berechtigte. Denn nach den nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffenen und den Senat daher nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG ergaben sich die von S im Streitjahr tatsächlich erzielten Einkünfte nicht aus den für die Klägerin und E beim FA geführten Steuerakten.
b) Allerdings muss sich der zuständige Bearbeiter das Wissen aus einem anderen steuerlichen Verfahren zurechnen lassen, wenn zur Hinzuziehung des entsprechenden Vorgangs nach den Umständen des Falles, insbesondere nach dem Inhalt der zu bearbeitenden Steuererklärung oder der präsenten Akten, eine besondere Veranlassung bestand. Denn andernfalls zöge das Unterlassen der Beiziehung eine Verletzung der Ermittlungspflicht nach sich. Deshalb hat der beschließende Senat dem FG in dem zurückverweisenden Urteil aufgegeben aufzuklären, ob der für die Veranlagung der Klägerin und des S zuständige Sachbearbeiter in sonstiger Weise im maßgeblichen Zeitpunkt positive Kenntnis von der Höhe der Einkünfte des S hatte.
c) Die Beweislast dafür, dass dem für die Veranlagung des Steuerpflichtigen zuständigen Sachbearbeiter ausnahmsweise auch nicht aktenkundige Tatsachen dienstlich bekannt waren oder nach dem Inhalt der zu bearbeitenden Steuererklärung oder der präsenten Akten als bekannt zuzurechnen sind, trägt jedoch der Steuerpflichtige. Dies gilt insbesondere dann, wenn wegen des Unterlassens der Beiziehung "anderer" Akten die Verletzung der Ermittlungspflicht in Rede steht. Lassen sich entsprechende Umstände oder ein dahingehendes Fehlverhalten --wie im Streitfall-- nicht nachweisen, gelten nicht aktenkundige Tatsachen folglich nicht als bekannt und erlauben dem FA eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.
Da der Zeuge B im Streitfall bei seiner Vernehmung durch das FG keinerlei Erinnerung mehr an den konkreten Steuerfall der Klägerin und des S hatte, lässt sich nicht mehr feststellen, ob dem Zeugen B als dem damals zuständigen Sachbearbeiter im Zeitpunkt der Veranlagung der Klägerin und des E die verwandtschaftlichen Beziehungen der Klägerin zu S und die Einkünfte des S im Streitjahr bekannt waren. Es ist somit auch nicht mehr feststellbar, ob der Zeuge B seinerzeit bei der Veranlagung der Klägerin und des E eine besondere Veranlassung hatte, hinsichtlich der Höhe der Einkünfte des S dessen Steuerakten beizuziehen. Folglich kann auch nicht (mehr) festgestellt werden, ob der Zeuge B durch das Unterlassen der Beiziehung der Steuerakten des S seine Ermittlungspflicht verletzt hat. Der Umstand, dass hiernach eine Verletzung der Ermittlungspflicht des FA im Streitfall nicht feststellbar ist, geht nach den oben dargelegten Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten der Klägerin.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.