Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 06.08.2014


BFH 06.08.2014 - VI B 38/14

Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls bei Ermittlung des Lebensmittelpunktes eines Arbeitnehmers - Verfahrensmangel durch Übergehen eines Beweisantrags


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsdatum:
06.08.2014
Aktenzeichen:
VI B 38/14
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend FG München, 27. Januar 2014, Az: 7 K 1543/12, Urteil
Zitierte Gesetze
EStG VZ 2006

Leitsätze

1. NV: Ob die außerhalb des Beschäftigungsorts liegende Wohnung des Arbeitnehmers als dessen Lebensmittelpunkt anzusehen ist und deshalb seinen Hausstand darstellt, ist anhand einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen .

2. NV: Der Antrag, einen Zeugenbeweis zum überwiegenden Verbringen der Wochenenden in der außerhalb des Beschäftigungsorts liegenden Wohnung des Arbeitnehmers zum Beleg der Tatsache zu erheben, dass sich dort der Lebensmittelpunkt befinde, ist nicht unsubstantiiert .

Tatbestand

1

I. Im finanzgerichtlichen Verfahren stritten die Beteiligten um die einkommensteuerliche Anerkennung von Kosten einer doppelten Haushaltsführung als Werbungskosten.

2

Der 1978 geborene Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erklärte im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr (2006) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Dabei machte er Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, für Telekommunikation sowie für doppelte Haushaltsführung geltend. Zur doppelten Haushaltsführung erklärte er 44 Familienheimfahrten und machte Unterkunftskosten am Beschäftigungsort in A geltend; dazu erläuterte er, zu 75 % teilzeitbeschäftigt zu sein, an 177 Tagen in A gearbeitet zu haben und an 44 Wochen jeweils am Donnerstag in seinen 268 km entfernt liegenden Heimatort B gefahren zu sein. Sonntagabends sei er jeweils wieder nach A gefahren. Er habe in A zum 1. Oktober 2005 eine zeitlich befristete Stelle zum Abschluss seiner Promotion angetreten und dort eine 50 qm große Wohnung, bestehend aus zwei Zimmern, Abstellkammer, Küche, Flur, WC und Dusche gemietet. Sein Lebensmittelpunkt sei aber weiterhin in B, dort wohnten Eltern, Bruder, Tante und Onkel. Im Elternhaus habe er die Dachgeschosswohnung bestehend aus Wohn-/Schlafzimmer, Bad gemietet. In B habe er auch weiterhin seinen Freundeskreis unterhalten.

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Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) ließ die Aufwendungen für die doppelte Haushaltsführung unberücksichtigt.

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Im Klageverfahren wiederholte der Kläger sein Vorbringen, dass sich sein Lebensmittelpunkt weiterhin in B befinde, dass der Aufenthalt in A vorübergehend sei und es keine Anhaltspunkte für eine Verlagerung des Lebensmittelpunkts nach A gebe. Auf der Grundlage einer Aufklärungsanordnung des Finanzgerichts (FG) legte der Kläger weitere Unterlagen vor und beantragte unter anderem zum Beweis für das überwiegende Verbringen der Wochenenden in B seinen Vater, im Schriftsatz namentlich und mit Anschrift benannt, dazu als Zeugen zu hören. Diesen Antrag wiederholte der Kläger ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 27. Januar 2014 ausdrücklich.

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Das FG wies die Klage mit Urteil vom 27. Januar 2014 ab. Es führte unter Bezugnahme auf das Urteil des beschließenden Senats vom 16. Januar 2013 VI R 46/12 (BFHE 240, 241, BStBl II 2013, 627) unter anderem aus, dass bei einem ledigen Arbeitnehmer, je länger die Auswärtstätigkeit dauere, immer mehr dafür spreche, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen an den Beschäftigungsort verlagert wurde und die Heimatwohnung nur noch für Besuchszwecke vorgehalten werde. Entspreche die Wohnsituation am Heimatort der Wohnung am Beschäftigungsort in Größe und Ausstattung, sei dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Mittelpunkt der Lebensführung nicht an den Beschäftigungsort verlegt worden sei, sondern der Haupthausstand dort fortgeführt werde. Bedeutsam sei auch die Dauer des Aufenthalts am Beschäftigungsort, die Entfernung beider Wohnungen sowie die Zahl der Heimfahrten und der Umstand, zu welchem Wohnort die engeren persönlichen Beziehungen bestünden. Das FG gelangte danach zu der Würdigung, dass bei objektiver Betrachtung die Wohnung am Beschäftigungsort A nicht nur die Schlafstätte sei. Der Kläger habe nicht nachweisen können, dass sich sein Lebensmittelpunkt im Streitjahr in B befunden habe. Er habe auch nicht glaubhaft darlegen können, wie oft er tatsächlich nach B gefahren sei. Das FG lehnte die Zeugeneinvernahme des Vaters des Klägers ab, weil der Kläger kein konkretes Beweisthema genannt und im Einzelfall nicht angegeben habe, welche konkreten Tatsachen durch den Vater hätten bezeugt werden sollen. Nach § 82 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 373 der Zivilprozessordnung (ZPO) werde der Zeugenbeweis durch die Bezeichnung der Tatsachen angetreten, über welche die Vernehmung der Zeugen stattfinden solle. Das FG sei nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen nachzugehen. Das FG hat die Revision nicht zugelassen.

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Der Kläger wendet sich dagegen mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Er macht mit der Beschwerde Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend. Das FG habe einen entscheidungserheblichen Beweisantrag übergangen und den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt und wesentliche Bestandteile der Akte nicht vollständig und einwandfrei berücksichtigt.

Entscheidungsgründe

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II. Die Beschwerde ist begründet. Die Vorentscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO. Das angefochtene finanzgerichtliche Urteil wird gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

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1. Das FG hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt und damit gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen.

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a) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und gemäß § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO die erforderlichen Beweise zu erheben. Dabei hat es den entscheidungserheblichen Sachverhalt so vollständig wie möglich und bis zur Grenze des Zumutbaren, d.h. unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel aufzuklären. Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das FG grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will (vgl. auch Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 21. Dezember 2005 I B 249/04, BFH/NV 2006, 780). Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar ist oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsentscheidungen vom 13. November 2007 VI B 100/07, BFH/NV 2008, 219; vom 1. Februar 2007 VI B 124/06, BFH/NV 2007, 956; vom 16. November 2005 VI R 71/99, BFH/NV 2006, 753; jeweils m.w.N.). Ferner ist das FG nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen nachzugehen (z.B. BFH-Beschlüsse vom 2. August 2006 IX B 58/06, BFH/NV 2006, 2117; vom 2. März 2006 XI B 79/05, BFH/NV 2006, 1132; vom 10. März 2005 X B 66/04, BFH/NV 2005, 1339; BFH-Urteil vom 21. Juni 1988 VII R 135/85, BFHE 153, 393, BStBl II 1988, 841).

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b) Nach diesem Rechtsmaßstab hätte das FG den schon schriftsätzlich angebotenen und in der mündlichen Verhandlung erneut beantragten Zeugenbeweis zu der Frage erheben müssen, ob der Kläger seinen Lebensmittelpunkt noch in B gehabt habe und dazu den als Zeugen benannten Vater des Klägers hören müssen.

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aa) Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Zwischen dem Wohnen in einer Zweitwohnung am Beschäftigungsort und dem Unterhalten eines eigenen Hausstandes außerhalb dieses Ortes ist zu unterscheiden. Mit dem "Hausstand" ist der Ersthaushalt (Hauptwohnung) umschrieben, an dem sich der Arbeitnehmer --abgesehen von den Zeiten der Arbeitstätigkeit und ggf. Urlaubsfahrten-- regelmäßig aufhält, den er fortwährend nutzt und von dem aus er sein Privatleben führt, also seinen Lebensmittelpunkt hat. Das Vorhalten einer Wohnung außerhalb des Beschäftigungsortes für gelegentliche Besuche oder für Ferienaufenthalte ist dagegen nicht als Unterhalten eines Hausstandes zu werten.

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bb) Ob die außerhalb des Beschäftigungsortes liegende Wohnung des Arbeitnehmers als dessen Lebensmittelpunkt anzusehen ist und deshalb dessen Hausstand darstellt, ist anhand einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles festzustellen (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteile vom 22. Februar 2001 VI R 192/97, BFH/NV 2001, 1111; vom 9. August 2007 VI R 10/06, BFHE 218, 380, BStBl II 2007, 820; jeweils m.w.N.). Dementsprechend erfordert die Entscheidung über den Lebensmittelpunkt eine tatrichterliche Würdigung aller Umstände des Einzelfalles, die sich aus einer Zusammenschau mehrerer Einzeltatsachen ergibt (u.a. Verhältnisse des Steuerpflichtigen, Art und Intensität der sozialen Kontakte, Vereinszugehörigkeiten und andere Aktivitäten). Eine Pflicht zur Angabe aller dieser Einzeltatsachen in einem Beweisantrag würde eine überspitzte Anforderung an die Zulässigkeit des Beweisantrags darstellen (vgl. hierzu ausführlich zuletzt BFH-Beschluss vom 1. Februar 2007 VI B 118/04, BFHE 216, 409, BStBl II 2007, 538, m.w.N.). Die Angaben des Klägers waren mithin entgegen der Auffassung des FG auch hinreichend substantiiert und ausreichend bestimmt, um dem Gericht eine Grundlage für seine Beweiserhebung zu geben, nämlich den "Gegenstand der Vernehmung" (§ 377 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

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cc) Der vom Kläger gestellte Beweisantrag war auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das FG bei ordnungsgemäßer Behandlung des Beweisantrags zu einem anderen Ergebnis in der Sache gelangt wäre.

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2. Der Senat hält es für angezeigt, im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren. Er hebt deshalb das Urteil der Vorinstanz auf und verweist die Sache an das FG zurück, damit dieses die erforderlichen Feststellungen nachholen kann.

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3. Die Entscheidung über die Kosten wird nach § 143 Abs. 2 FGO dem FG übertragen.