Entscheidungsdatum: 19.12.2012
1. NV: Sieht ein Gericht eines Mitgliedstaats der Europäischen Union eine im Streitfall entscheidungserhebliche Rechtsfrage des Unionsrechts in ihrer Beantwortung als zweifelhaft an, legt es diese Rechtsfrage dem EuGH vor und besteht die Möglichkeit, dass der EuGH die ihm vorgelegte Rechtsfrage anders beantwortet als der BFH, können nach den Verhältnissen des Streitfalls ernstliche Zweifel vorliegen, die eine AdV rechtfertigen können.
2. NV: Aufgrund der beim EuGH anhängigen Rechtssache PCF Clinic AB C-91/12 ist ernstlich zweifelhaft, ob ästhetische Operationen und ästhetische Behandlungen steuerpflichtig und nicht nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfrei sind.
I. Die Antragstellerin, Klägerin und Revisionsklägerin (Antragstellerin) betreibt eine Klinik, in der im Streitjahr 2002 durch approbierte Ärzte vorwiegend ästhetisch-chirurgische Maßnahmen wie Fettabsaugungen, Gesichts-, Hals- und Augenlid-Straffungen sowie Brustvergrößerungen, -verkleinerungen und -straffungen durchgeführt wurden. Die Antragstellerin ging davon aus, dass ihre Leistungen im Zusammenhang mit diesen Operationen nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG) steuerbefreit seien.
Demgegenüber war der Antragsgegner, Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt) der Auffassung, dass die Leistungen steuerpflichtig seien und behandelte die Umsätze in dem Umsatzsteuerbescheid vom 25. September 2003, geändert durch Bescheid vom 6. September 2004, als umsatzsteuerpflichtig. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
Für die Klageabweisung führte das Finanzgericht (FG) an, dass der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 15. Juli 2004 V R 27/03 (BFHE 206, 471, BStBl II 2004, 862) entschieden habe, dass es für die Umsatzsteuerfreiheit von Schönheitsoperationen nach § 4 Nr. 14 UStG nicht ausreiche, dass die Operationen nur von einem Arzt ausgeführt werden könnten. Die Operationen müssten vielmehr der medizinischen Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und damit dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienen. Die gebotene enge Auslegung des autonomen gemeinschaftsrechtlichen Begriffs der Heilbehandlung gebiete danach, dass nur diejenigen Leistungen steuerbefreit seien, deren Zweck der Schutz der menschlichen Gesundheit sei. Im Streitfall spreche bereits der erste Eindruck dagegen, dass das Hauptziel ihrer Leistungen der Schutz oder die Wiederherstellung der Gesundheit ihrer Kunden sei, wie sich aus dem Internet-Auftritt der Antragstellerin ergebe. Zu berücksichtigen sei, dass der Gegenstand der Leistung bei ästhetisch-plastischen Operationen gerade nicht die Behandlung oder Heilung einer Krankheit sei, sondern die optische Korrektur. Die Operation sei daher nicht Mittel der Behandlung, sondern der essenzielle Inhalt der vertraglichen Leistung. Die Revision wurde vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache und zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) zugelassen. Die von der Antragstellerin eingelegte Revision ist beim Senat unter dem Az: V R 16/12 anhängig. Einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) wies das FG mit Beschluss vom 6. Dezember 2004 als unbegründet zurück.
II. Der zulässige Antrag ist begründet.
1. Der Antrag ist zulässig. Zwar hat das FG die AdV durch Beschluss vom 6. Dezember 2004 abgelehnt und den gemäß § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO gestellten Änderungsantrag der Antragstellerin durch Beschluss vom 17. Mai 2010 als unzulässig verworfen. Demgegenüber ist der nunmehr beim Senat auf AdV ab Fälligkeit gestellte Antrag (§ 69 Abs. 6 Satz 2 FGO) zulässig.
a) Nach § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Nach der Rechtsprechung des BFH liegen solche Umstände vor, wenn entweder nachträglich eingetretene oder bekannt gewordene Gegebenheiten den Fall in tatsächlicher Hinsicht in einem neuen Licht erscheinen lassen (BFH-Beschluss vom 18. September 1996 I B 39/96, BFH/NV 1997, 247) oder wenn eine Gesetzesänderung oder eine zwischenzeitlich ergangene gerichtliche Entscheidung zu einer veränderten Beurteilung der maßgeblichen Rechtslage führen können (vgl. BFH-Beschlüsse vom 15. Januar 1991 IX S 6/90, BFH/NV 1991, 535, und vom 8. Mai 2008 IX S 30/07, BFH/NV 2008, 1499).
Bei der gerichtlichen Entscheidung, die zu einer veränderten Beurteilung der maßgeblichen Rechtslage führen kann, kann es sich auch um ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union handeln, das ein deutsches Gericht oder ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Bezug auf eine im Streitfall entscheidungserhebliche Rechtsfrage stellt (vgl. BFH-Beschlüsse vom 24. März 1998 I B 100/97, BFHE 185, 467; vom 14. Februar 2006 VIII B 107/04, BFHE 212, 285, BStBl II 2006, 523).
b) Im Streitfall liegen veränderte Umstände i.S. von § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO vor.
Der erkennende Senat ist in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass Schönheitsoperationen, die nicht nachweislich medizinisch indiziert sind, als steuerpflichtig anzusehen sind (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 206, 471, BStBl II 2004, 862).
Demgegenüber hat der schwedische Högsta förvaltningsdomstolen ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet, das bei diesem als Rechtssache PCF Clinic AB C-91/12 anhängig ist (vgl. Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2012, Nr. C 118, 19). Mit diesem beim EuGH am 17. Februar 2012 eingereichten Ersuchen sollen folgende Fragen geklärt werden:
"1. Ist Art. 132 Abs. 1 Buchst. b und c der Mehrwertsteuerrichtlinie so auszulegen, dass die dort aufgeführten Befreiungen von der Mehrwertsteuerpflicht Leistungen erfassen, die, wie im vorliegenden Rechtsstreit,
a) ästhetische Operationen
b) ästhetische Behandlungen
darstellen?
2. Ist die Beurteilung davon abhängig, ob die Operation oder Behandlung zu dem Zweck durchgeführt wird, Krankheiten, körperlichen Mängeln oder Verletzungen vorzubeugen oder diese zu behandeln?
3. Ist, wenn dem Zweck Bedeutung beizumessen ist, die Vorstellung des Patienten vom Zweck der Behandlung zu berücksichtigen?
4. Ist es für die Beurteilung von Bedeutung, ob die Maßnahmen von Personen durchgeführt wird, die zur Ausübung eines Heilberufs zugelassen sind, oder ob es solche Personen sind, die zum Zweck der Maßnahme Stellung nehmen?"
Damit liegen veränderte Umstände vor, die das FG weder bei seiner Ablehnung des Antrags auf Vollziehungsaussetzung durch Beschluss vom 6. Dezember 2004 noch bei seinem Beschluss vom 17. Mai 2010 berücksichtigen konnte.
2. Der Antrag ist auch begründet.
a) Nach § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung seit dem BFH-Beschluss vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182; BFH-Beschluss vom 8. April 2009 I B 223/08, BFH/NV 2009, 1437). Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (vgl. BFH-Beschluss vom 7. September 2011 I B 157/10, BFHE 235, 215, BStBl II 2012, 590, unter II.2., m.w.N.). Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (BFH-Beschluss in BFHE 235, 215, BStBl II 2012, 590, unter II.2.).
Darüber hinaus kann nach der Rechtsprechung des BFH die Anhängigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens beim EuGH sowie die Möglichkeit, dass dieser eine ihm vorgelegte Rechtsfrage, auf die es im Streitfall ankommt, anders als der BFH beantwortet, zur Bejahung ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids führen (BFH-Beschlüsse in BFHE 185, 467, und in BFHE 212, 285, BStBl II 2006, 523).
b) Im Streitfall ergeben sich die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids daraus, dass der EuGH aufgrund der bei ihm anhängigen Rechtssache PCF Clinic AB C-91/12 insbesondere über die Frage zu entscheiden hat, ob ästhetische Operationen und ästhetische Behandlungen als Heilbehandlungsleistung steuerfrei sind; weiter ist durch den EuGH zu klären, ob es für die Steuerfreiheit darauf ankommt, ob die Operation oder Behandlung zu dem Zweck durchgeführt wird, Krankheiten, körperlichen Mängeln oder Verletzungen vorzubeugen oder diese zu behandeln. Sieht ein Gericht eines Mitgliedstaats der Europäischen Union eine im Streitfall entscheidungserhebliche Rechtsfrage des Unionsrechts in ihrer Beantwortung als zweifelhaft an, legt es diese Rechtsfrage dem EuGH vor und besteht die Möglichkeit, dass der EuGH die ihm vorgelegte Rechtsfrage anders beantwortet als der BFH, liegen nach den Verhältnissen des Streitfalls ernstliche Zweifel vor, die eine AdV rechtfertigen.
3. Dem Antrag auf Aufhebung der Vollziehung war nur für den Zeitraum ab Veröffentlichung der Vorlageentscheidung im ABlEU ab 21. April 2012 stattzugeben.
a) Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine Aufhebung der Vollziehung mit Wirkung zum Fälligkeitszeitpunkt nur gerechtfertigt, wenn bereits zu diesem Zeitpunkt ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestanden haben (BFH-Beschluss vom 18. Juli 2012 X S 19/12, BFH/NV 2012, 2008, m.w.N.).
b) Im Streitfall ergeben sich die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerfestsetzung erst aus dem beim EuGH anhängigen Vorlageverfahren, nicht aber aus anderen Umständen. Daher kommt eine rückwirkende Aufhebung der Vollziehung nur ab dem Zeitpunkt in Betracht, in dem die Anhängigkeit dieser Rechtssache beim EuGH im ABlEU veröffentlicht worden ist.
4. Die Vollziehung war ohne Sicherheitsleistung auszusetzen, da die Antragstellerin nach ihrem unwidersprochenen Vortrag über eine gesicherte Vermögenslage verfügt und daher keine Gefahr von Steuerausfällen besteht.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO, da dem Antrag auf Aufhebung der Vollziehung für den Zeitraum vor Veröffentlichung der Vorlageentscheidung, die zur Anhängigkeit der PCF Clinic AB C-91/12 geführt hat, im ABlEU nicht stattzugeben war.