Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 05.05.2011


BFH 05.05.2011 - V R 39/10

Billigkeitserlass bei Vollverzinsung - Kein rückwirkendes Ereignis bei nachträglichem Verzicht auf Steuerfreiheit einer Grundstücksvermietung


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsdatum:
05.05.2011
Aktenzeichen:
V R 39/10
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 1. September 2010, Az: 7 K 7199/07, Urteil
Zitierte Gesetze
Abschn 148 Abs 3 S 6 UStR 1996

Leitsätze

1. NV: Ein Verstoß gegen § 233a Abs. 2a AO ist im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens gegen die Zinsfestsetzungen geltend zu machen, nicht aber im Verfahren des Billigkeitserlasses nach § 227 AO .

2. NV: Der nachträgliche Verzicht auf die Steuerfreiheit einer Grundstücksvermietung ist kein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO und § 233a Abs. 2a AO .

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) vermietete in den Jahren 1994 bis 1997 Teile eines Gebäudes an die Betreiber einer Tennishalle, eines Restaurants und eines Fitnessbereichs nach § 4 Nr. 12 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG) steuerfrei. Sie erklärte in ihren Umsatzsteuerjahreserklärungen 1994 bis 1997, die gemäß § 164 der Abgabenordnung (AO) unter Vorbehalt der Nachprüfung standen, steuerfreie Vermietungsumsätze.

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Am 11. Juni 2001 reichte die Klägerin im Rahmen einer Außenprüfung berichtigte Umsatzsteuerjahreserklärungen 1994 bis 1997 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) ein. Diese führten nach den vom Finanzgericht (FG) getroffenen Feststellungen aufgrund eines teilweisen Verzichts auf die Steuerfreiheit der Vermietungsumsätze nach § 9 UStG zu erhöhten Umsatzsteuerfestsetzungen.

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Aufgrund der berichtigten Umsatzsteuererklärungen und den sich hieraus ergebenden Nachzahlungen erließ das FA am 10. September 2001 Zinsbescheide zur Umsatzsteuer 1994 bis 1997, mit denen es Zinsen zur Umsatzsteuer auf 10.209 DM für 1994, 5.500 DM für 1995, 1.881 DM für 1996 und 1.014 DM für 1997 festsetzte. Die Zinsbescheide wurden bestandskräftig.

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Am 4. Oktober 2001 beantragte die Klägerin beim FA den Erlass dieser Nachzahlungszinsen. Das FA lehnte den Erlassantrag mit Bescheid vom 25. Oktober 2001 ab. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.

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Das FG stützte die Klageabweisung darauf, dass für einen Zinserlass kein sachlicher Billigkeitsgrund vorliege. Die Zinsfestsetzung entspreche dem Zweck des § 233a AO. Der erst in 2001 für die Streitjahre erklärte Verzicht auf die Steuerfreiheit führe rückwirkend zu einer Steuerpflicht der Vermietungsumsätze. Es handele sich nicht um ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 233a Abs. 2a AO. Mit der rückwirkenden Option zur Steuerpflicht habe die Klägerin ein Wahlrecht ausgeübt.

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Das Urteil des FG ist in "Entscheidungen der Finanzgerichte" 2010, 2047 veröffentlicht.

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Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Revision, die sie auf die Verletzung materiellen Rechts stützt. Ihre Umsätze seien bis zur Rechtsprechungsänderung durch das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 31. Mai 2001 V R 97/98 (BFHE 194, 555, BStBl II 2001, 658) steuerfrei und danach als steuerpflichtig anzusehen gewesen. Entsprechend der geänderten Rechtsprechung habe sie ihre Umsätze nachträglich versteuert und dabei nachträglich den Vorsteuerabzug in Anspruch genommen. Zahlungen der Mieter aufgrund von Rechnungen mit Steuerausweis seien erst in 2001 erfolgt. Sie habe keinerlei Liquiditätsvorteil aufgrund der geänderten Steuerfestsetzung gehabt.

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Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die festgesetzten Zinsen aus Billigkeitsgründen zu erlassen.

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Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

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Es bestehe kein Anspruch auf Billigkeitserlass, da die Klägerin den Vorteil erlangt habe, dass die Steuer erst nachträglich festgesetzt worden sei.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision der Klägerin ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Der Klägerin steht kein Anspruch auf Erlass der Nachzahlungszinsen zu.

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1. Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehören auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen wie z.B. Zinsfestsetzungen (§ 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 3 AO).

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Die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme nach § 227 AO ist eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur in den Grenzen des § 102 FGO nachprüfbar ist. Zu prüfen ist daher bei einer Erlassablehnung nur, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Nur im Falle einer sog. Ermessensreduzierung auf null kann das Gericht eine Verpflichtung der Finanzbehörde zum Erlass aussprechen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 23. Oktober 2003 V R 2/02, BFHE 203, 410, BStBl II 2004, 39, unter II.1.).

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2. Das FG hat nach diesem Prüfungsmaßstab zu Recht eine fehlerhafte Ermessensausübung verneint.

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a) Unbilligkeit aus sachlichen Gründen i.S. des § 227 AO ist gegeben, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, jedoch nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft. Härten, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Vorschrift bewusst in Kauf genommen hat, stehen dabei dem Erlass entgegen. Dies gilt auch für den Erlass nach § 233a AO festgesetzter Zinsen (BFH-Urteil in BFHE 203, 410, BStBl II 2004, 39, unter II.2.a).

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b) Im Streitfall widerspricht die Festsetzung der Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer 1994 bis 1997 nicht den der Verzinsungsregelung des § 233a AO zugrunde liegenden Wertungen.

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aa) Nach § 233a Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuernachforderung, die sich aus einer Umsatzsteuerfestsetzung ergibt, zu verzinsen. Der Zinslauf beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist (§ 233a Abs. 2 Satz 1 AO). Wird die Umsatzsteuerfestsetzung --wie im Streitfall-- geändert, ist der Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten Steuer und der vorher festgesetzten Steuer maßgebend für die Zinsberechnung (§ 233a Abs. 5 Sätze 1 und 2 AO).

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Zweck der Regelungen in § 233a AO ist es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Liquiditätsvorteile, die dem Steuerpflichtigen oder dem Fiskus aus dem verspäteten Erlass eines Steuerbescheids typischerweise entstanden sind, sollen mit Hilfe der sog. Vollverzinsung ausgeglichen werden. Ob die möglichen Zinsvorteile tatsächlich bestanden, ist grundsätzlich unbeachtlich (BFH-Urteil in BFHE 203, 410, BStBl II 2004, 39, unter II.2.b aa). Unerheblich ist deshalb, dass die Klägerin die Vorsteuer aufgrund des Verzichts erst später geltend machen konnte und auch die Mieter erst aufgrund der geänderten Rechnungen den Vorsteuerabzug erhielten.

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bb) Im Streitfall beruht die nachträgliche Erhöhung der für 1992 festgesetzten Umsatzsteuer darauf, dass die Klägerin erst im Jahr 2001 auf die Steuerfreiheit der im Zeitraum 1994 bis 1997 erbrachten Vermietungsleistungen verzichtet hat (§ 4 Nr. 12 i.V.m. § 9 Abs. 1 UStG).

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Wegen der Bestandskraft der Umsatzsteueränderungsfestsetzungen, der aufgrund des Verzichts steuerpflichtige Vermietungsleistungen der Klägerin zugrunde liegen, ist im Streitfall nicht zu entscheiden, ob die Klägerin noch wirksam verzichten konnte oder ob der Verzicht nach Eintritt der Unabänderbarkeit der Steuerfestsetzung (vgl. Abschn. 148 Abs. 3 Satz 6 der Umsatzsteuer-Richtlinien 1992/1996) nicht mehr möglich war.

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cc) Ein Anspruch auf Billigkeitserlass ergibt sich auch nicht aus § 233a Abs. 2a AO. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift wäre im Rahmen eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen die Zinsfestsetzungen geltend zu machen, nicht aber im Verfahren eines Billigkeitserlasses nach § 227 AO. Denn nach ständiger Rechtsprechung sind bestandskräftig festgesetzte Steuern nur dann im Billigkeitsverfahren zu erlassen (§ 227 AO), wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich hiergegen in dem dafür vorgesehenen Festsetzungsverfahren rechtzeitig zu wehren (BFH-Urteile vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460; vom 14. November 2007 II R 3/06, BFH/NV 2008, 574; BFH-Beschluss vom 5. Juni 2009 V B 52/08, BFH/NV 2009, 1593). Nichts anderes gilt für die Frage eines Billigkeitserlasses bestandskräftig festgesetzter Zinsen. Unabhängig hiervon ist der nachträgliche Verzicht auf die Steuerfreiheit einer Grundstücksvermietung nach der Rechtsprechung des Senats auch kein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO und § 233a Abs. 2a AO (BFH-Urteil vom 28. November 2002 V R 54/00, BFHE 200, 38, BStBl II 2003, 175, unter II.2.b).

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3. Der Vortrag der Klägerin im Revisionsverfahren, dass die Nachversteuerung der Vermietungsleistungen nicht auf einem Verzicht nach § 9 UStG, sondern auf dem BFH-Urteil in BFHE 194, 555, BStBl II 2001, 658 beruht habe, war als neuer Sachvortrag im Hinblick auf die Bindung an die Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) im Revisionsverfahren nicht zu berücksichtigen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 6. Dezember 2007 V R 24/05, BFHE 219, 476, BStBl II 2009, 490, unter II.1.e dd).