Entscheidungsdatum: 11.05.2010
1. NV: Die behauptete unrichtige Beurteilung der Bekanntgabe eines Steuerbescheides stellt keinen Verfahrensfehler, sondern einen materiellrechtlichen Fehler des Finanzgerichts dar.
2. NV: Die Aufrechnung des FA gegen ein Steuerguthaben mit Steuerschulden setzt nicht den Abschluss von Rechtsbehelfsverfahren gegen den die Steuerschuld festsetzenden Steuerbescheid voraus, sondern nur dessen Vollziehbarkeit.
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) wendet sich mit der Nichtzulassungsbeschwerde gegen den Abrechnungsbescheid des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) vom 13. September 2006, mit dem das FA gegen einen Erstattungsanspruch der Klägerin aus dem Umsatzsteuerbescheid 1995 vom 10. Juli 2006 in Höhe von 260.268,02 € nebst Zinsen in Höhe von 144.439 € mit einer Steuerschuld aus dem Umsatzsteuerbescheid 1992 vom 24. Juli 2006 in Höhe von 260.267,66 € nebst Zinsen in Höhe von 62.459,96 € aufgerechnet hat, sodass sich ein verbleibender Erstattungsanspruch von 0,36 € an Umsatzsteuer und 81.979,04 € an Zinsen ergab.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren hat das Finanzgericht (FG) die Klage mit der Begründung abgewiesen, das FA sei zur Aufrechnung mit der Steuerschuld aus dem Umsatzsteuerbescheid 1992 befugt gewesen, da diese seit dem 24. Juli 2006 fällig gewesen sei. Die Einwendungen der Klägerin gegen die Rechtmäßigkeit des Umsatzsteuerbescheides 1992 vom 24. Juli 2006 seien unerheblich, weil dieser nicht nur vollziehbar, sondern nach Abweisung der Klage durch Urteil des FG vom 6. Dezember 2007 2 K 556/07 und Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 2. September 2008 V B 5/08 bestandskräftig geworden sei.
II. Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensfehlers nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zuzulassen, weil das FG nicht dadurch gegen den klaren Inhalt der Akten verstoßen hat, dass es die Wirksamkeit der Bekanntgabe des durch den Umsatzsteuerbescheid 1992 vom 24. Juli 2006 geänderten Ursprungsbescheides vom 3. Juli 1995 nicht untersucht hat. Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG den Sachverhalt von Amts wegen nur insoweit zu erforschen, soweit es nach dem materiell-rechtlichen Standpunkt des FG für den Streitfall entscheidungserheblich ist (z.B. BFH-Beschluss vom 24. Juli 2008 VIII B 181/07, BFH/NV 2008, 2007). Da über den der Steuerschuld zugrunde liegenden Umsatzsteuerbescheid 1992 vom 24. Juli 2006 bereits rechtskräftig entschieden worden ist, kam es auf weitere Ermittlungen zu den Änderungsvoraussetzungen nicht mehr an. Im Übrigen würde die unrichtige Beurteilung der Bekanntgabe eines Steuerbescheides keinen Verfahrensfehler, sondern einen materiell-rechtlichen Fehler des FG darstellen (BFH-Beschluss vom 4. Oktober 2006 X B 59/06, juris; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 24 und § 116 Rz 34).
2. Die Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Zum einen hat die Klägerin keine Rechtsfrage bezeichnet, deren Klärung nicht nur im Einzelfall, sondern im Interesse der Allgemeinheit geboten wäre ("Ist die Aufrechnung im Abrechnungsbescheid 1995 zulässig, wenn der Anspruch des FA bereits verjährt war?"), zum anderen kann die Revision im Verfahren gegen den Abrechnungsbescheid nicht zur Klärung einer Rechtsfrage zugelassen werden, wenn über den Steuerbescheid, aus dem sich die zur Aufrechnung geeignete Gegenforderung ergibt, bereits rechtskräftig entschieden worden ist. Die Rechtsfrage, ob das FA wegen Verwirkung am Erlass des Umsatzsteuerbescheides 1992 gehindert war, ist schon deshalb nicht von grundsätzlicher Bedeutung, weil der BFH mit Beschluss vom 2. September 2008 V B 5/08 in Sachen der Klägerin hierüber bereits entschieden hat.
3. Schließlich kann die Revision auch nicht wegen Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) zugelassen werden, weil --wie die Klägerin meint-- das FG hinsichtlich des Umsatzsteuerbescheides 1992 die Änderungsvorschriften der §§ 174, 175 der Abgabenordnung abweichend von der Rechtsprechung des BFH beurteilt habe. Eine (behauptete) Divergenz kann nicht entscheidungserheblich sein, wenn über die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheides bereits rechtskräftig entschieden worden ist. Im Übrigen ist das FG auch deshalb nicht "von der Rechtsprechung des BFH abgewichen", weil es für die allein entscheidungserhebliche Frage der Rechtmäßigkeit einer Aufrechnung nur auf die Vollziehbarkeit des Steuerbescheides, nicht aber auf den Abschluss eines Klageverfahrens ankommt (ständige Rechtsprechung seit dem BFH-Urteil vom 31. August 1995 VII R 58/94, BFHE 178, 306, BStBl II 1996, 55).