Entscheidungsdatum: 18.05.2018
1. NV: Die Auslegung von Willenserklärungen ist objektiv willkürlich, wenn das Gericht anerkannte Auslegungsgrundsätze in einem Maße außer Acht lässt, dass seine Entscheidung nicht mehr nachvollziehbar ist.
2. NV: Die Auslegung eines Vertrags darf nicht widersprüchlich sein; sie darf sich auch nicht auf widersprüchliche Annahmen stützen. Beruht das Urteil auf zwei Annahmen, die sich gegenseitig ausschließen, ist es insgesamt nicht mehr nachvollziehbar.
Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, vom 19. Dezember 2017 11 K 3860/16 wird die Revision zugelassen.
1. Die Beschwerde ist zulässig. Mit ihr rügen die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sinngemäß einen schweren materiellen Rechtsfehler, der geeignet ist, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beschädigen.
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Fehler des Finanzgerichts (FG) bei der Anwendung des materiellen Rechts führen zwar grundsätzlich nicht zur Zulassung der Revision.
a) Etwas anderes gilt aber ausnahmsweise bei einem besonders schwerwiegenden Fehler, der geeignet ist, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beschädigen. Dann ist die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung zuzulassen. In diesem Sinne greifbar gesetzwidrig ist eine Entscheidung nur, wenn sie objektiv willkürlich und unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist (z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 1. September 2008 IV B 4/08, BFH/NV 2009, 35, m.w.N.). Für die Auslegung von Willenserklärungen kann von objektiver Willkür gesprochen werden, wenn das Gericht anerkannte Auslegungsgrundsätze in einem Maße außer Acht lässt, dass seine Entscheidung nicht mehr nachvollziehbar ist (vgl. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 1998 2 BvR 2939/93, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1998, 2810; vom 20. September 2000 1 BvR 441/00, NJW 2001, 1200).
b) Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Das FG hat u.a. entschieden, der Kläger könne die Zahlungen an seinen Bruder nicht als Sonderausgabe (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a des Einkommensteuergesetzes a.F.) abziehen, weil durch den Vertrag vom 2. Juli 2005 keine auf besonderen Verpflichtungsgründen beruhende Rente oder dauernde Last i.S. der Vorschrift begründet worden sei. Es hat dazu u.a. ausgeführt, es sei "völlig unklar, zu welchen Versorgungsleistungen (Höhe, Fälligkeit, Zahlungsart) der Kläger sich konkret verpflichtet hat". Der Senat könne "keine rechtlich verbindliche Verpflichtung des Klägers erkennen". Sodann hat das FG einen "Vermögensübergabevertrag" ausgeschlossen und dazu ausgeführt, "der Kläger hatte sich im Vertrag vom 2. Juli 2005 verpflichtet, für die Betreuung und Pflege seiner Geschwister und seiner Mutter einzustehen". Im Gegenzug habe er die von der Versicherung an den Bruder geleistete Entschädigungszahlung erhalten. Die Vertragsparteien seien davon ausgegangen, dass Leistung und Gegenleistung wirtschaftlich ausgewogen sind. Auf dieser Grundlage ist das FG zu dem Schluss gelangt: "Die Vertragsparteien haben somit ein entgeltliches Veräußerungsgeschäft abgeschlossen."
c) Beide Annahmen schließen sich gegenseitig aus. Das FG kann nicht die Entgeltlichkeit des Geschäfts bejahen, wenn es zugleich davon ausgeht, die eine Seite habe keine rechtlich verbindliche Verpflichtung übernommen. Die Auslegung eines Vertrags darf nicht widersprüchlich sein, sie darf sich auch nicht auf widersprüchliche Annahmen stützen. Andernfalls verletzt sie anerkannte Auslegungsgrundsätze. Eine Schlussfolgerung, die sich auf widersprüchliche Annahmen stützt, ist insgesamt nicht nachvollziehbar.
3. Für die weitere Sachbehandlung im Revisionsverfahren weist der Senat insbesondere die Klägerseite vorsorglich darauf hin, dass der die Zulassung der Revision begründende Rechtsfehler bei Durchführung des Revisionsverfahrens auch zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen wird. Weitere Ausführungen sind in der Revisionsbegründung deshalb nicht erforderlich.
Der BFH wird im Revisionsverfahren voraussichtlich auch keine weitere Frage klären, die der Fall aufwirft. Dabei hängt der Ausgang des Verfahrens maßgeblich von der Auslegung der Verträge vom 2. Juli 2005 und vom 21. Januar 2006 (Darlehensvertrag) ab. Es wird noch zu klären sein, ob der Kläger aufgrund des Vertrags vom 2. Juli 2005 Eigentümer der vom Bruder vereinnahmten Entschädigungszahlung der Versicherung geworden ist oder ob er bei Abschluss des Darlehensvertrags am 21. Januar 2006 als Betreuer und gesetzlicher Vertreter seines Bruders über dessen Geld (wenn auch --insoweit unzutreffend-- im eigenen Namen) verfügt hat. Wären die Verträge so auszulegen, dass der Bruder des Klägers den Darlehensvertrag vom 21. Januar 2006 mit der Klägerin abgeschlossen hat, wäre die Rechtslage insgesamt völlig anders zu beurteilen. Dahin geht das wohlverstandene Interesse der Kläger. Der BFH wird die Auslegung der Verträge jedoch voraussichtlich nicht selbst vornehmen können, weil das FG die Umstände, unter denen die Verträge zustande gekommen sind (von seinem bisherigen Standpunkt aus zu Recht) in tatsächlicher Hinsicht noch nicht aufgeklärt hat.