Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 08.03.2011


BFH 08.03.2011 - IV S 14/10

Bindung an die Entscheidung nach formloser Bekanntgabe der Urteilsformel an einen Beteiligten


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsdatum:
08.03.2011
Aktenzeichen:
IV S 14/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend BFH, 22. Juli 2010, Az: IV R 29/07, Urteilnachgehend BVerfG, 10. April 2018, Az: 1 BvR 1236/11, Urteil
Zitierte Gesetze

Leitsätze

1. NV: Das Gericht ist schon vor der Zustellung an seine aufgrund der mündlichen Verhandlung getroffenen Entscheidung gebunden, wenn die unterschriebene Urteilsformel binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle übergeben und anschließend einem Beteiligten formlos bekannt gegeben worden ist. Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung mit dem Ziel, erst nach der Verkündung veröffentlichte Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts bei der Entscheidung zu berücksichtigen, ist dann nicht mehr möglich .

2. NV: Mit der Anhörungsrüge kann nicht geltend gemacht werden, das Gericht habe in der Sache fehlerhaft entschieden .

Tatbestand

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I. Mit Urteil vom 22. Juli 2010 hat der angerufene Senat auf die Revision der Klägerin, Revisionsklägerin und Rügeführerin (Klägerin) gegen das Urteil des Finanzgerichts Bremen vom 7. Februar 2007  3 K 73/05 (5) die Vorentscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Gegen das am 5. Oktober 2010 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit der Anhörungsrüge und der Gegenvorstellung. Der entsprechende Schriftsatz ist am 19. Oktober 2010 beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Anhörungsrüge und die Gegenvorstellung sind unbegründet.

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1. Der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör wurde im Revisionsverfahren nicht verletzt.

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a) Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens das Recht, vor Gericht Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen, sofern das Vorbringen nicht nach den Prozessvorschriften ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben muss oder bleiben kann (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 14. Juni 1960  2 BvR 96/60, BVerfGE 11, 218; vom 27. Mai 1970  2 BvR 578/69, BVerfGE 28, 378; BVerfG-Beschluss vom 5. Oktober 1976  2 BvR 558/75, BVerfGE 42, 364).

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Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen eines Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat (BVerfG-Beschluss vom 15. April 1980  1 BvR 1365/78, BVerfGE 54, 43), zumal es nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht verpflichtet ist, sich mit jedem Vorbringen in der Begründung seiner Entscheidung ausdrücklich zu befassen (BVerfG-Beschlüsse vom 10. Juni 1975 2 BvR 1086/74, BVerfGE 40, 101, und vom 15. April 1980  2 BvR 827/79, BVerfGE 54, 86). Der Umstand allein, dass sich die Entscheidungsgründe mit einem bestimmten Gesichtspunkt nicht ausdrücklich auseinandersetzen, rechtfertigt grundsätzlich nicht die Annahme, das Gericht habe den Gesichtspunkt unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör übergangen (BFH-Beschlüsse vom 29. November 2005 X S 18/05, BFH/NV 2006, 595, und vom 3. November 2009 VI S 17/09, BFH/NV 2010, 226).

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Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt nur dann vor, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, dass das Gericht ein tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (BVerfG-Entscheidung vom 2. Dezember 1969  2 BvR 320/69, BVerfGE 27, 248; BVerfG-Beschluss vom 1. Februar 1978 1 BvR 426/77, BVerfGE 47, 182).

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b) Diese Voraussetzungen für eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegen im Streitfall nicht vor.

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aa) Der Senat hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör nicht dadurch verletzt, dass er sie vor seiner Entscheidung, die mündliche Verhandlung nicht nach § 93 Abs. 3 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wiederzueröffnen, nicht informiert bzw. gehört hat. Er hatte bereits vor der Veröffentlichung der BVerfG-Beschlüsse vom 7. Juli 2010  2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05 (Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2010, 1727), 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05 (DStR 2010, 1733), und 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06 (DStR 2010, 1736) sein Urteil verkündet, so dass eine Wiedereröffnung schon deswegen unzulässig war. Daher musste er der Klägerin nicht die Möglichkeit einräumen, zu etwaigen Auswirkungen der zwischenzeitlich veröffentlichten BVerfG-Beschlüsse auf die Beurteilung der zwischen den Beteiligten umstrittenen Rechtsfragen Stellung nehmen zu können.

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Ein aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangenes Urteil ist nach § 104 Abs. 1 FGO mit seiner Verkündung wirksam erlassen. Statt der Verkündung ist nach § 104 Abs. 2 FGO die Zustellung des Urteils zulässig; es ist dann binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle zu übermitteln. Dieser Vorschrift ist auch dann genügt, wenn zunächst die unterschriebene Urteilsformel der Geschäftsstelle übergeben wird. Mit der anschließenden formlosen Bekanntgabe der Urteilsformel an einen Beteiligten gilt die Entscheidung als verkündet (BFH-Urteile vom 6. November 1985 II R 217/85, BFHE 145, 120, BStBl II 1986, 175; vom 28. November 1995 IX R 16/93, BFHE 179, 8, BStBl II 1996, 142; BFH-Beschluss vom 24. November 1994 X B 146-149/94, BFH/NV 1995, 692). Das Gericht ist ab diesem Zeitpunkt --und nicht erst mit der Zustellung des Urteils-- an seine Entscheidung gebunden. Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ist dann nicht mehr möglich (BFH-Beschluss vom 6. Juni 2001 X B 169/00, BFH/NV 2001, 1143; BFH-Urteil vom 23. Oktober 2003 V R 24/00, BFHE 203, 523, BStBl II 2004, 89).

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Im Streitfall erging in der mündlichen Verhandlung vom 22. Juli 2010 der Beschluss, dass die Entscheidung den Beteiligten zugestellt werden soll. Die schriftlich niedergelegte und unterschriebene Urteilsformel wurde am 3. August 2010 der Geschäftsstelle des Senats übermittelt und am 5. August 2010 dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt) telefonisch bekanntgegeben. Damit war der Senat bereits vor der Veröffentlichung der BVerfG-Beschlüsse in DStR 2010, 1727, in DStR 2010, 1733, und in DStR 2010, 1736 am 19. August 2010 an sein Urteil gebunden.

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Da eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht in Betracht kam, blieb es dabei, dass --wie der Senat in den Entscheidungsgründen unter II.C. mit Hinweis auf § 96 FGO ausgeführt hat-- die Urteilsgründe die wesentlichen Erwägungen wiedergeben, die im Anschluss an die mündliche Verhandlung vom 22. Juli 2010 für die Entscheidung aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens maßgeblich waren. Die erst am 19. August 2010 veröffentlichten BVerfG-Beschlüsse in DStR 2010, 1727, in DStR 2010, 1733, und in DStR 2010, 1736 haben folglich im Urteil keine Berücksichtigung gefunden. Damit scheidet auch eine Überraschungsentscheidung aus.

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bb) Auch die Rüge der Klägerin, der Senat habe --näher bestimmten-- Sach- und Rechtsvortrag der Klägerin nicht ausreichend zur Kenntnis genommen und gewürdigt, ist nicht begründet.

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Die Vereinbarkeit des § 7 Satz 2 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und die Zulässigkeit der rückwirkenden Gesetzesänderung waren Gegenstand der vorbereitenden Schriftsätze. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 22. Juli 2010 fand ferner ein ausführliches Rechtsgespräch statt, in dem auch die jetzt mit der Gehörsrüge von der Klägerin geltend gemachten Gesichtspunkte angesprochen und erörtert wurden. Das gilt insbesondere für die sich durch die zeitliche Abfolge des Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetzes (UntStFG) vom 20. Dezember 2001 (BGBl I 2001, 3858), des Solidarpaktfortführungsgesetzes vom 20. Dezember 2001 (BGBl I 2001, 3955) und des Fünften Gesetzes zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes und zur Änderung von Steuergesetzen (StBAÄG) vom 23. Juli 2002 (BGBl I 2002, 2715) ergebende Rückwirkungsproblematik und hier vor allem für den Zeitpunkt, zu dem die veräußernden Kommanditisten die schützenswerten Dispositionen getroffen haben.

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Die Ausführungen der Klägerin zu diesen Punkten laufen im Ergebnis auf die Rüge hinaus, der Senat habe in der Sache fehlerhaft entschieden. Das betrifft auch den weiteren Einwand, der Senat habe die durch das StBAÄG geschaffene Rückwirkung damit gerechtfertigt, dass der Steuerpflichtige mit einer Gesetzesänderung rechnen musste, ohne auf die Frage nach dem Bestehen einer verworrenen Rechtslage einzugehen. Ebenfalls eine Rüge der materiellen Unrichtigkeit enthält der Vorwurf, der Senat habe bei der Abwägung zwischen dem Vertrauen des Steuerpflichtigen und dem Anliegen des Gesetzgebers einem außerparlamentarischen Papier Bedeutung beigemessen. Schließlich übt die Klägerin auch mit ihrem Vorbringen, der Senat hätte das BFH-Urteil vom 3. April 2008 IV R 54/04 (BFHE 220, 495, BStBl II 2008, 742) nicht auf den Streitfall übertragen dürfen, letztlich lediglich Kritik an der Richtigkeit der Entscheidung. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird aber nicht dadurch verletzt, dass das Gericht der Rechtsansicht eines Beteiligten nicht folgt. Es ist mit der Funktion der Anhörungsrüge nicht vereinbar, die in einem abgeschlossenen Verfahren nicht im Sinne des Rechtsmittelführers entschiedenen Rechtsfragen nochmals in vollem Umfang zu überprüfen (BFH-Beschlüsse vom 4. Juli 2007 VIII S 8/07, BFH/NV 2007, 2298; vom 9. Juni 2008 V S 40/07, BFH/NV 2008, 1854, und vom 11. März 2009 VI S 2/09, BFH/NV 2009, 1131). Auch eine Ergänzung der Entscheidungsgründe kann mit der Anhörungsrüge nicht erreicht werden (BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 2298).

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Im Übrigen ist der Senat in den Entscheidungsgründen entgegen der Behauptung der Klägerin in angemessenem Umfang auf ihre Rechtsausführungen eingegangen. So hat er sich ausdrücklich gegen ihre Ansicht gewandt, das Gesetzgebungsverfahren zum UntStFG sei unbeachtlich, indem er darauf hinwies, dass dieses verkündet worden und die Änderung selbst in Kraft getreten sei (unter II.B.3.b bb der Gründe). Der Senat hat sich auch dazu geäußert, dass das Vertrauen der veräußernden Kommanditisten in den Fortbestand der Rechtslage nicht dadurch überwog, dass § 7 Satz 2 GewStG erst aufgrund der Empfehlung des Finanzausschusses vom 7. November 2001 die endgültige Fassung erhalten habe (unter II.B.3.c dd (2)(c) der Gründe). Mit der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen unter dem Aspekt der folgerichtigen Ausgestaltung der Gewerbesteuer als Objektsteuer hat er sich ebenfalls befasst (unter II.B.3.c dd (5) der Gründe). Da der Senat es zudem abgelehnt hat, eine vertrauensschützende Disposition bereits in dem Abschluss des "Sale Agreement" zu sehen (unter II.B.3.c cc der Gründe), erübrigte sich --selbst auf der Grundlage der Vorlagebeschlüsse des BFH (vom 6. November 2002 XI R 42/01, BFHE 200, 560, BStBl II 2003, 257; vom 16. Dezember 2003 IX R 46/02, BFHE 204, 228, BStBl II 2004, 284; vom 2. August 2006 XI R 34/02, BFHE 214, 386, BStBl II 2006, 887, und XI R 30/03, BFHE 214, 406, BStBl II 2006, 895)-- die Prüfung einer echten Rückwirkung bei isolierter Betrachtung des UntStFG.

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2. Auch die Gegenvorstellung hat keinen Erfolg.

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Der Senat kann offenlassen, ob die gesetzlich nicht geregelte Gegenvorstellung --mit dem Ziel der materiell-rechtlichen Überprüfung einer mit ordentlichen Rechtsbehelfen nicht mehr anfechtbaren Gerichtsentscheidung-- überhaupt statthaft ist. Als außerordentlicher Rechtsbehelf kann sie nur auf schwerwiegende Rechtsverstöße, also darauf gestützt werden, dass die angegriffene Entscheidung auf einer gravierenden Verletzung von Grundrechten beruhe oder jeglicher gesetzlicher Grundlage entbehre (BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 226). Im Streitfall ist ein solcher Verstoß nicht erkennbar. Der Senat hat in seinem Urteil die Vereinbarkeit des § 7 Satz 2 GewStG mit dem Gleichheitssatz und die Zulässigkeit der rückwirkenden Gesetzesänderung unter Berücksichtigung der --bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung bekannten-- Rechtsprechung des BVerfG eingehend geprüft und bejaht.

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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO. Für die Entscheidung über die Anhörungsrüge wird eine Gebühr in Höhe von 50 € erhoben (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes, Teil 6, Nr. 6400). Die Entscheidung über die Gegenvorstellung ergeht gerichtsgebührenfrei.