Entscheidungsdatum: 19.05.2011
NV: Die Verletzung des § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO stellt einen im Revisionsverfahren auch ohne Rüge zu beachtenden Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens dar, der zur Aufhebung des angefochtenen Urteils zwingt.
I. Der Ehemann der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) erhielt das Kindergeld für die beiden gemeinsamen Kinder ausgezahlt. Er zog am 8. Mai 2006 aus dem Familienhaushalt aus. Seit Juni 2006 bezieht die Klägerin das Kindergeld. Mit Schreiben an die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) vom 7. September 2006 erklärte sich der Ehemann damit einverstanden, dass die Klägerin über das Kindergeld für den Monat Mai 2006 verfügen könne, und bat um Überweisung auf das Konto der Klägerin. Deren Antrag auf Kindergeld für die beiden Kinder für den Monat Mai 2006 lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom 18. Januar 2007 ab, da der Ehemann vorrangig kindergeldberechtigt sei. Den Einspruch der Klägerin wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 20. Februar 2007 als unbegründet zurück.
Im Klageverfahren stellte sich heraus, dass das streitige Kindergeld für den Monat Mai 2006 nicht an den Ehemann der Klägerin ausgezahlt worden war. Nachdem die Familienkasse das Kindergeld auf Weisung des Ehemannes auf das Konto der Klägerin überwiesen hatte, erklärte diese den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Die Familienkasse beantragte weiterhin Klageabweisung, da mit der Überweisung auf das vom Ehemann benannte Konto dessen Kindergeldanspruch erfüllt worden sei.
Das Finanzgericht (FG) hob den Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung auf und verpflichtete die Familienkasse, der Klägerin Kindergeld für die beiden Kinder für den Monat Mai 2006 zu gewähren.
Mit der Revision rügt die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung des § 64 Abs. 2 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes durch das FG. Da das Kindergeld zugunsten des Ehemannes festgesetzt worden sei, habe die Berechtigtenbestimmung nicht mehr geändert werden können.
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG hat gegen die Grundordnung des Verfahrens verstoßen, indem es seinem Urteil ein Klagebegehren zugrunde gelegt hat, das mit dem tatsächlichen Begehren der Klägerin nicht übereinstimmt (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO).
Das FG hat nicht über den von der Klägerin im Verfahren zuletzt gestellten und daher maßgeblichen Erledigungsantrag entschieden, sondern über einen Verpflichtungsantrag, den die Klägerin nach Auszahlung des Kindergeldes nicht mehr aufrechterhalten hatte.
Erklärt der Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt, verfolgt er seinen ursprünglichen Sachantrag nicht mehr weiter. Er behauptet vielmehr, dieser Antrag sei durch ein nachträglich eingetretenes Ereignis gegenstandslos geworden, so dass nur noch über die Kosten entschieden werden müsse. Bestreitet der Beklagte die Erledigung und beantragt Klageabweisung, beschränkt sich der Rechtsstreit nurmehr auf die Erledigungsfrage. An die Stelle des durch den ursprünglichen Klageantrag bestimmten Streitgegenstands tritt der Streit über die Behauptung des Klägers, seinem Klagebegehren sei durch ein die Hauptsache erledigendes Ereignis die Grundlage entzogen worden. Kommt das Gericht zu der Auffassung, dass die Hauptsache erledigt ist, ist die Erledigung im Urteil festzustellen und über die Kosten nach § 138 FGO zu befinden. Ist die Hauptsache dagegen nicht erledigt, ist das Begehren des Klägers, die Erledigung festzustellen, unbegründet. Das Erledigungsbegehren ist dann mit einer Kostenentscheidung zu Lasten des Klägers abzuweisen (z.B. Senatsbeschluss vom 20. März 2003 III B 74/01, BFH/NV 2003, 935, m.w.N.).
Das FG hat im Streitfall § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO verletzt. Denn es hat über etwas entschieden, was die Klägerin ausweislich ihres Erledigungsbegehrens nicht (mehr) zur Entscheidung gestellt hatte. Dieses prozessuale Vorgehen des FG stellt einen im Revisionsverfahren vom Bundesfinanzhof (BFH) auch ohne Rüge zu beachtenden Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens dar, der zur Aufhebung des angefochtenen Urteils zwingt (vgl. BFH-Urteil vom 13. Dezember 1994 VII R 18/93, BFH/NV 1995, 697). Das FG wird im zweiten Rechtsgang über den Erledigungsantrag der Klägerin zu entscheiden haben.