Entscheidungsdatum: 04.07.2012
1. NV: Im Falle einer Entführung des Kindes enden dessen inländischer Wohnsitz und dessen Zugehörigkeit zum Haushalt des betroffenen Elternteils nicht "automatisch" zum "Entführungszeitpunkt" .
2. NV: Lebte das Kind vor der Entführung nicht im Haushalt des von der Entführung betroffenen Elternteils, dann kann die widerrechtliche Weigerung des "entführenden" Elternteils, das Kind an den sorgeberechtigten Elternteil herauszugeben, rechtlich nicht so behandelt werden, als sei es tatsächlich zur Aufnahme des Kindes in den Haushalt des betroffenen Elternteils gekommen .
3. NV: Der Aspekt der Kindeswohlgefährdung gehört zum Sorgerecht und Umgangsrecht, dessen Bedeutung für die Frage der Haushaltsaufnahme bereits geklärt ist .
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist der Vater des 1999 geborenen Kindes S. Die Kindsmutter, eine polnische Staatsangehörige, war mit dem Kläger verheiratet. Seit der Trennung der Eheleute im Jahr 2003 lebte S bei seiner Mutter. Die Eltern ließen sich im August 2005 scheiden. Seitdem bezieht die Kindsmutter laufend das Kindergeld für S. Sie verweigerte bereits seit der Trennung jeden Umgangskontakt zwischen Vater und Sohn. Dies führte zu familiengerichtlichen Auseinandersetzungen, die darin gipfelten, dass das zuständige Amtsgericht im Sommer 2007 im Wege der einstweiligen Anordnung die alleinige elterliche Sorge dem Kläger übertrug. Der Mutter wurde aufgegeben, S an den Kläger herauszugeben. Hierzu kam es aber nicht mehr, weil diese das Kind nach Polen entführte. Dort besucht es die Schule und lebt im Haushalt der Kindsmutter. Der Kläger bemühte sich in der Folgezeit --unter anderem durch Einschaltung polnischer Gerichte-- vergeblich um die Rückführung seines Sohnes.
Dem Antrag des Klägers, ihm rückwirkend ab November 2007 Kindergeld zu gewähren, entsprachen weder die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) noch das Finanzgericht (FG).
II. Die Beschwerde ist unzulässig und wird durch Beschluss verworfen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO).
Die Beschwerdebegründung genügt nicht den Anforderungen an die Darlegung eines Grundes für die Zulassung der Revision gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO.
1. a) Die vom Kläger begehrte Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO oder wegen der Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine hinreichend bestimmte Rechtsfrage herausstellt, deren Klärung im Interesse der Allgemeinheit an der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Fortentwicklung des Rechts erforderlich ist und die im konkreten Streitfall klärbar ist. Dazu ist auszuführen, ob und in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Rechtsfrage umstritten ist. Vor allem sind, sofern zu dem Problemkreis Rechtsprechung und Äußerungen im Fachschrifttum vorhanden sind, eine grundlegende Auseinandersetzung damit sowie eine Erörterung geboten, warum durch diese Entscheidungen die Rechtsfrage noch nicht als geklärt anzusehen ist bzw. weshalb sie ggf. einer weiteren oder erneuten Klärung bedarf (z.B. BFH-Beschlüsse vom 22. Oktober 2003 III B 14/03, BFH/NV 2004, 224; vom 15. Oktober 2008 II B 74/08, BFH/NV 2009, 125, m.w.N.).
b) Diesen Vorgaben genügen die Ausführungen in der Beschwerdeschrift nicht.
aa) Soweit der Kläger es für klärungsbedürftig hält, "wann die Sonderkonstellation der Kindesentführung eine Anwendung der Grundsätze zur Auslegung des Begriffs der Haushaltsaufnahme nach § 64 EStG einschränkt", fehlt es an der Auseinandersetzung mit der reichhaltigen Rechtsprechung und Literatur zur Frage der Kindergeldberechtigung in "Entführungsfällen" und bei Sorgerechtsverstößen (hierzu BFH-Urteile vom 19. März 2002 VIII R 62/00, BFH/NV 2002, 1146; vom 19. März 2002 VIII R 52/01, BFH/NV 2002, 1148; vom 30. Oktober 2002 VIII R 86/00, BFH/NV 2003, 464; vom 25. Juni 2009 III R 2/07, BFHE 225, 438, BStBl II 2009, 968; Urteil des FG Düsseldorf vom 27. August 2004 18 K 7715/00 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2005, 124; aus der Literatur z.B. Blümich/Treiber, § 64 EStG Rz 21). Mit dieser Rechtsprechung, der sich entnehmen lässt, dass im Falle einer Entführung des Kindes dessen inländischer Wohnsitz und dessen Zugehörigkeit zum Haushalt des betroffenen Elternteils nicht "automatisch" zum "Entführungszeitpunkt" endet, wenn Letzterer umgehend rechtliche Schritte für die Rückführung des Kindes einleitet, hätte sich der Kläger näher befassen müssen. Die Beschwerde vermeidet mit dieser Unterlassung die gebotene Stellungnahme dazu, ob die Rechtsfrage der Kindergeldberechtigung in "Entführungsfällen" nicht bereits als hinreichend geklärt anzusehen ist und folglich von einer --vorübergehend-- fortbestehenden Haushaltszugehörigkeit ohnehin nicht ausgegangen werden kann, wenn das Kind, wie im Streitfall, vor der Entführung gar nicht im Haushalt des betroffenen Elternteils gelebt hat. Die widerrechtliche Weigerung des "entführenden" Elternteils, das Kind herauszugeben, kann rechtlich nicht so behandelt werden, als sei es tatsächlich zur Aufnahme des Kindes in den Haushalt des betroffenen Elternteils gekommen. Mit der Fortwirkung eines bestehenden Obhutsverhältnisses hätte dies nichts mehr zu tun. Vielmehr handelte es sich um die Fiktion einer tatsächlich nie erfolgten Haushaltsaufnahme.
bb) Auch soweit vom Kläger sinngemäß die Rechtsfrage aufgeworfen wird, ob ein Elternteil, der das Kind unter Aufgabe der inländischen Wohnung in das EU-Ausland entführt und dort zusammen mit dem Kind einen neuen Wohnsitz begründet, durch Haushaltsaufnahme eine vorrangige Kindergeldberechtigung i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes erlangen kann, fehlt es an der substantiierten Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Das FG hat in der angegriffenen Entscheidung ausdrücklich auf die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), sowie die hierzu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 26. November 2009 C-363/08, Slanina, Slg. 2009, I-11111) abgestellt und ausführlich begründet, weshalb der Kindsmutter im Streitfall der Kindergeldanspruch auch für die Zeit nach der Entführung zusteht. Weder damit noch mit der sonstigen zu diesem Problemkreis ergangenen Rechtsprechung (vgl. z.B. Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 23. März 2011 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323; BFH-Beschluss vom 14. November 2008 III B 17/08, BFH/NV 2009, 380) hat sich der Kläger näher befasst. Allein mit dem Aufwerfen einer Rechtsfrage oder dem Vorbringen, das FG habe eine Rechtsfrage unzutreffend beurteilt, oder der Behauptung, eine höchstrichterliche Aussage zu einer bestimmten Rechtsfrage liege noch nicht vor (hierzu z.B. BFH-Beschluss vom 5. Dezember 2007 VIII B 79/07, BFH/NV 2008, 732), kann die Zulassung der Revision wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung nicht erreicht werden.
cc) Der Kläger hält es außerdem für klärungsbedürftig, "ob eine gerichtliche Entscheidung auf Herausgabe des Kindes an den anderen, allein erziehungsberechtigten Elternteil zum Ende der Haushaltsaufnahme" --beim bisher sorgeberechtigten Elternteil-- "führt, wenn das Gericht seine Entscheidung mit der Gefährdung des Kindeswohls begründet". Zu dieser Frage hat sich die Rechtsprechung ebenfalls bereits geäußert. Danach sind für die Beurteilung der Haushaltsaufnahme die tatsächlichen Verhältnisse maßgeblich. Formale Gesichtspunkte, wie etwa die vom Familiengericht getroffene Sorgerechtsregelung, können bei der Beurteilung, in welchem Haushalt das Kind aufgenommen ist, allenfalls unterstützend herangezogen werden (BFH-Urteil in BFHE 225, 438, BStBl II 2009, 968). Das Argument der Kindeswohlgefährdung, auf das die Beschwerde abhebt, begründet keinen neuerlichen Klärungsbedarf. Die oberste Richtschnur für die elterliche Sorge bildet das Kindeswohl (vgl. nur §§ 1626 Abs. 3 Satz 1 und 1684 Abs. 4 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs; Erman/Michalski/Döll, BGB, 13. Aufl., § 1626 Rz 3). Bei der gerichtlichen Regelung der elterlichen Sorge steht das Kindeswohl oder --negativ gewendet-- dessen mögliche Gefährdung demnach stets im Mittelpunkt der rechtlichen Beurteilung. Der Aspekt der Kindeswohlgefährdung gehört somit zum Sorge- und Umgangsrecht, dessen Bedeutung für die Frage der Haushaltsaufnahme aber bereits geklärt ist.
2. Die Darlegung, "dass das Finanzgericht den Sachverhalt nicht hinreichend ermittelt, seiner Entscheidung einen unzutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt und den Sachverhalt unzutreffend gewürdigt" habe, vermag den Erfolg der Beschwerde nicht zu begründen.
a) Die Rüge, der Sachverhalt sei unzutreffend gewürdigt worden, ist revisionsrechtlich nach ständiger Rechtsprechung dem materiellen Recht zuzuordnen (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 77 und 83, m.w.N.). Daher kann mit dieser Rüge die Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO nicht erreicht werden.
b) Eine schlüssige Rüge, das FG habe gegen seine Verpflichtung zur Sachverhaltsaufklärung --auch ohne entsprechenden Beweisantritt seitens des Beschwerdeführers-- verstoßen (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO), erfordert die Darlegung, zu welchen konkreten Tatsachen weitere Ermittlungen geboten waren, welche Beweise zu welchem Beweisthema das FG von Amts wegen hätte erheben müssen, aus welchen Gründen sich ihm die Notwendigkeit einer weiteren Sachverhaltsaufklärung oder einer Beweiserhebung auch ohne Antrag hätte aufdrängen müssen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich bei einer weiteren Sachaufklärung oder Beweisaufnahme voraussichtlich ergeben hätten und inwiefern die unterlassene Ermittlungsmaßnahme oder Beweiserhebung auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 19. Januar 2005 VII B 61/04, BFH/NV 2005, 921; vom 10. April 2006 X B 209/05, BFH/NV 2006, 1461, und vom 21. November 2008 IV B 150/07, BFH/NV 2009, 358; Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz 69, 70, m.w.N.).
An einem solchen Vorbringen fehlt es. Außerdem hat der fachkundig vertretene Kläger auf die mündliche Verhandlung verzichtet. Damit hat er zu erkennen gegeben, dass er eine der weiteren Sachaufklärung dienende Erörterung des Sachverhalts oder eine Beweisaufnahme, die jeweils eine mündliche Verhandlung voraussetzen, nicht für erforderlich hält.