Entscheidungsdatum: 19.06.2015
NV: Ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten i.S. des § 9 Satz 2 AO kann auch dann vorliegen, wenn ein Arbeitnehmer während dieses Zeitraums mehrfach aufeinander folgend in das Inland entsandt wird, sofern objektive Umstände vorliegen, die für einen solchen Zusammenhang und eine Fortdauer des Anlasses sprechen .
Die Beschwerde der Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 24. Oktober 2014 4 K 4498/11 Kg wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
I. Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger. Seine Ehefrau und die beiden im Dezember 1989 und August 1994 geborenen Söhne leben am gemeinsamen Familienwohnsitz in Polen. Der ältere Sohn befand sich im streitigen Zeitraum April und Mai 2009 in einer Berufsausbildung.
Der Kläger stand in einem Arbeitsverhältnis zu einer polnischen Firma, das ab 1. März 2002 zunächst auf sechs Monate befristet, anschließend unbefristet und vom 18. September 2009 bis 17. September 2011 erneut befristet war. Von seiner Arbeitgeberin wurde der Kläger vom 1. Juni 2004 bis 20. März 2009, 1. Juni 2009 bis 31. März 2011, 1. Juni 2011 bis 31. März 2013 und 1. Juni 2013 bis 31. Mai 2015 zu jeweils demselben Betrieb in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) entsandt. Er wohnte während dieser Zeiten in einer Sammelunterkunft, die während der Unterbrechungszeiten anderen Arbeitnehmern zur Verfügung stand. Sozialversichert war der Kläger dabei weiterhin in Polen. Im Jahr 2009 bezog der Kläger bis einschließlich März und wieder ab Juni Gehalt. Auf der Lohnsteuerbescheinigung bescheinigte der Arbeitgeber ein ganzjähriges Arbeitsverhältnis. Der Bruttoarbeitslohn 2009 betrug 24.892,16 €. Das zuständige Finanzamt in Deutschland veranlagte den Kläger für 2009 zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer.
Nachdem die Beklagte und Beschwerdeführerin (Familienkasse) zunächst u.a. für das gesamte Jahr 2009 kein Kindergeld gewährt hatte, bewilligte sie im hiergegen gerichteten Klageverfahren durch Teilabhilfebescheid volles Kindergeld für Januar bis März und Juni bis Dezember 2009. Das Finanzgericht (FG) gab der danach auf das Kindergeld für die Monate April und Mai 2009 beschränkten Klage in vollem Umfang statt. Zur Begründung verwies es im Wesentlichen darauf, dass der Kläger auch in diesem Zeitraum seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt habe und ein Anspruch auf Familienleistungen in Polen ausscheide, da das Einkommen des Klägers die maßgebliche Grenze überschritten habe.
Mit der hiergegen gerichteten Beschwerde begehrt die Familienkasse die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
II. Die Beschwerde ist --bei Bedenken gegen ihre Zulässigkeit-- jedenfalls unbegründet und wird daher durch Beschluss zurückgewiesen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO).
1. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das (abstrakte) Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Außerdem muss die Rechtsfrage klärungsbedürftig und in einem künftigen Revisionsverfahren klärungsfähig sein (BFH-Beschluss vom 23. Januar 2013 X B 84/12, BFH/NV 2013, 771). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen muss in der Beschwerdebegründung schlüssig und substantiiert dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Dafür ist erforderlich, dass der Beschwerdeführer die entscheidungserhebliche Rechtsfrage hinreichend konkretisiert; nicht ausreichend ist eine Fragestellung, deren Beantwortung von den Umständen des Einzelfalls abhängt (Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 116 FGO Rz 171). Des Weiteren muss in der Beschwerdebegründung schlüssig und substantiiert unter Auseinandersetzung mit den zur aufgeworfenen Rechtsfrage in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen dargetan werden, weshalb die für bedeutsam gehaltene Rechtsfrage im Allgemeininteresse klärungsbedürftig und im Streitfall klärbar ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 20. März 2007 X B 185/06, BFH/NV 2007, 1181; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 32, 35, m.w.N.). Insbesondere muss sich der Beschwerdeführer auch mit der bereits vorhandenen Rechtsprechung auseinandersetzen und substantiiert darlegen, weshalb nach seiner Ansicht diese Rechtsprechung keine Klärung herbeigeführt habe (z.B. BFH-Beschluss vom 17. März 2010 X B 10/10, BFH/NV 2012, 953, m.w.N.).
2. Die Familienkasse hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob eine kurzfristige und damit unbeachtliche Unterbrechung des gewöhnlichen Aufenthalts vorliegt, wenn ein Arbeitnehmer kurze Zeit nach Beendigung seiner Entsendung ins Inland erneut hierhin entsendet wird.
Indessen legt die Familienkasse insoweit schon nicht dar, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Rechtsfrage umstritten ist. Sie setzt sich auch nicht hinreichend mit der einschlägigen Norm des § 9 der Abgabenordnung (AO) und der hierzu ergangenen BFH-Rechtsprechung auseinander.
Nach § 9 Satz 1 AO hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als gewöhnlicher Aufenthalt ist dabei stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten Dauer anzusehen; kurzfristige Unterbrechungen bleiben unberücksichtigt (§ 9 Satz 2 AO). Nach dem vom FG und der Familienkasse in Bezug genommenen BFH-Urteil vom 22. Juni 2011 I R 26/10 (BFH/NV 2011, 2001) ist ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten i.S. des § 9 Satz 2 AO dann gegeben, wenn der Aufenthalt über diese Zeitspanne hinaus erfolgt; kurzfristige Unterbrechungen werden bei der Berechnung der Frist mitgerechnet. Der "äußerlich erkennbare Zusammenhang" dieses Aufenthalts ist nicht durch eine konkrete und in ihrem Maß an der Sechsmonats-Grenze orientierte Zeitgrenze für die (unschädliche) Abwesenheit zu ergänzen. Vielmehr ist eine einzelfallbezogene zeitliche Gewichtung der kurzfristigen Unterbrechung unter Berücksichtigung der Dauer des Gesamtaufenthalts maßgebend.
Aus den Ausführungen der Familienkasse wird nicht deutlich, weshalb der äußerlich erkennbare Zusammenhang eines Aufenthalts im Falle aufeinanderfolgender Entsendungen --in Abweichung von diesen Grundsätzen-- nicht unter einzelfallbezogener zeitlicher Gewichtung der Gesamtaufenthaltsdauer auf der einen und der Unterbrechungsdauer auf der anderen Seite beurteilt werden soll. Vielmehr stellt die Familienkasse lediglich einerseits die Behauptung auf, dass eine Entsendung immer nur vorübergehenden Charakter habe, während sie andererseits Unterbrechungsgründe (z.B. Urlaub, Abbau von Überstunden) darlegt, die eher gegen einen vorübergehenden Aufenthalt sprechen. Ein weiterer Klärungsbedarf lässt sich auch nicht aus dem Argument ableiten, dass durch eine dem Verständnis der Familienkasse widersprechende Auslegung des § 9 Satz 2 AO eine Umgehung der Sozialversicherungspflicht gefördert werde. Insoweit wird aus dem Vortrag der Familienkasse nicht deutlich, weshalb es Aufgabe des einkommensteuerrechtlichen Kindergeldrechts sein sollte, auf solche Gestaltungen zu reagieren, obwohl das Sozialversicherungsrecht dies offenbar nicht tut.
Im Übrigen hat der BFH im Urteil vom 14. Mai 2014 XI R 56/10 (BFH/NV 2015, 169, Rz 37) indirekt bestätigt, dass auch mehrere aufeinanderfolgende Entsendungszeiträume einen zeitlich zusammenhängenden Aufenthalt i.S. des § 9 Satz 2 AO bilden können, sofern objektive Umstände festgestellt werden, die für einen solchen Zusammenhang und eine Fortdauer des Anlasses sprechen.
Sofern die Familienkasse sich im Ergebnis letztlich nur dagegen wenden will, dass das FG die Umstände des Einzelfalls --insbesondere mit Blick auf die Dauer der Unterbrechung-- fehlerhaft dahingehend gewürdigt hat, dass es sich noch um eine unschädliche kurzfristige Unterbrechung gehandelt habe, lässt sich daraus eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht herleiten. Dies folgt schon daraus, dass es der BFH im BFH-Urteil in BFH/NV 2011, 2001 gerade abgelehnt hat, eine konkrete und in ihrem Maß an der Sechsmonats-Grenze orientierte Zeitgrenze für die (unschädliche) Abwesenheit festzulegen.
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 2 FGO.