Entscheidungsdatum: 18.03.2015
NV: Die Rechtsprechung, nach der die Übermittlung der Ablichtung eines Steuerbescheides die Voraussetzungen einer wirksamen Bekanntgabe auch dann erfüllen kann, wenn der Beamte in der Annahme, die Urschrift sei bereits bekanntgegeben, nicht die Vorstellung hatte, eine Bekanntgabe zu bewirken, gilt in Fällen, in denen sich die Rechtslage zwischenzeitlich geändert hatte, nicht uneingeschränkt .
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 16. April 2014 4 K 2221/13 aufgehoben.
Die Sache wird an das Hessische Finanzgericht zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
I. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) hat mit Bescheiden vom 7. November 2005 gegenüber der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) --einer eingetragenen Genossenschaft-- jeweils zum 31. Dezember 2000 sowohl die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 47 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes 1999 a.F. als auch die Endbestände des verwendbaren Eigenkapitals gemäß § 36 Abs. 7 des Körperschaftsteuergesetzes 1999 n.F. festgestellt. Das FA hat die Einsprüche --jeweils mit Bescheiden vom 19. November 2007-- durch Teil- und Endeinspruchsentscheidung als unbegründet zurückgewiesen. Mit Schreiben vom 13. Juli 2012 beantragte die Klägerin, die Endbestände nach Maßgabe von § 36 KStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2010 vom 8. Dezember 2010 (BGBl I 2010, 1768, BStBl I 2010, 1394) --KStG 2002 n.F.-- festzustellen (vgl. § 34 Abs. 13f KStG 2002 n.F.). Mit der Teileinspruchsentscheidung sei hierüber nicht entschieden worden; die Endeinspruchsentscheidung sei ihr nicht zugegangen. Mit Schreiben vom 5. August 2013 hat das FA beide Einspruchsentscheidungen der Klägerin und ihrer Bevollmächtigten zur Kenntnisnahme übersandt; zugleich hat es darauf hingewiesen, dass beide Verwaltungsakte (vom 19. November 2007) in dem nämlichen Briefumschlag zur Post gegeben worden seien und es bei dieser Sachlage geboten sei, den Sachverhalt (Posteingangskontrolle) vollständig aufzuklären. Hierfür werde eine großzügige Frist zur Stellungnahme (bis 13. September 2013) gesetzt. Nach deren Eingang hat das FA der Klägerin mitgeteilt, dass das FA von einer wirksamen Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung aufgrund des Schreibens vom 5. August 2013 ausgehe.
Die daraufhin am 29. Oktober 2013 erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) durch Prozessurteil abgewiesen. Es ist hierbei der Ansicht des FA, die Einspruchsentscheidungen seien zusammen mit dem Schreiben vom 5. August 2013 bekannt gegeben worden, gefolgt; die Klägerin habe die Klagefrist versäumt, Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) lägen nicht vor. Die Revision wurde von der Vorinstanz nicht zugelassen (Hessisches FG, Urteil vom 16. April 2014 4 K 2221/13).
II. Die hiergegen erhobene Beschwerde hat Erfolg. Das Urteil beruht --wie von der Klägerin schlüssig vorgetragen-- auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO. Das vorinstanzliche Urteil ist aufzuheben und die Sache nach § 116 Abs. 6 FGO an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Urteil dann auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen, wenn das FG eine Klage zu Unrecht durch Prozessurteil abweist, weil es fehlerhaft von einer Versäumnis der Klagefrist ausgeht (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 80, m.w.N.). Letzteres ergibt sich für das anhängige Verfahren daraus, dass --wie die Klägerin zu Recht rügt-- der Ansicht des FG, das FA habe mit dem Schreiben vom 5. August 2013 die Einspruchsentscheidungen vom 19. November 2007 erneut bekannt gegeben, nicht gefolgt werden kann. Zwar hat das FG im Ausgangspunkt zu Recht angenommen, dass die Übermittlung der Ablichtung eines Steuerbescheides die Voraussetzungen einer wirksamen Bekanntgabe auch dann erfüllen kann, wenn der Beamte bei der Übermittlung der Kopie in der Annahme, die Urschrift sei bereits bekanntgegeben, nicht die Vorstellung hatte, dadurch eine Bekanntgabe zu bewirken (z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 23. Februar 1994 X R 27/92, BFH/NV 1994, 768). Eine Bindung des Senats an die hierauf gerichtete Feststellung des FG (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 118 Rz 46, m.w.N.) scheidet jedoch im Streitfall --wie die Klägerin zu Recht geltend macht-- bereits deshalb aus, weil die Vorinstanz offensichtlich nicht alle den vorliegenden Sachverhalt kennzeichnenden Umstände berücksichtigt hat. Abgesehen davon, dass die Ablichtungen lediglich zu "Ihrer Kenntnis" (d.h. zum Zwecke der Unterrichtung) übersandt worden sind (s. dazu BFH-Urteil vom 4. Oktober 1989 V R 39/84, BFH/NV 1990, 409), hat die Vorinstanz außer Acht gelassen, dass das FA in dem genannten Schreiben ausdrücklich an seiner Ansicht zur Bekanntgabe der gemeinsam versandten Einspruchsentscheidungen festgehalten hat und die Klägerin --unter Einräumung einer Äußerungsfrist-- aufgefordert hat, zu den Einzelheiten des Posteingangs sowie der Posteingangskontrolle ihrer Bevollmächtigten Stellung zu nehmen. Nach Ansicht des Senats steht bereits dies --unter Berücksichtigung des für die Auslegung von Verwaltungsakten maßgeblichen objektiven Empfängerhorizonts-- der Annahme entgegen, das FA habe dieser Aufforderung durch die erneute Bekanntgabe der Endeinspruchsentscheidung die Grundlage entziehen wollen. Letztlich kann dies indes offen bleiben, da --wie die Klägerin zu Recht geltend macht-- die Neuregelung des § 36 KStG 2002 n.F. durch § 34 Abs. 13f KStG 2002 n.F. in allen noch offenen Fällen Rückwirkung entfaltet und deshalb zumindest mit Rücksicht auf die hierdurch geänderte Rechtslage nur dann von dem Willen des FA ausgegangen werden kann, einen nach alter Rechtslage gefassten Verwaltungsakt bekannt zu geben, wenn dessen Empfänger zumindest konkludent darauf hingewiesen wird, dass die eingetretenen Rechtsänderungen auf den Inhalt des Bescheides keinen Einfluss nehmen.
Da es an Letzterem fehlt und die Klägerin auch im Rahmen ihrer Beschwerdeschrift bestreitet, die Endeinspruchsentscheidung vom 19. November 2007 erhalten zu haben, erachtet es der Senat für sachgerecht, den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen, damit diese unter Berücksichtigung der Beweislast des FA über den Zugang des Verwaltungsakts entscheidet (vgl. § 122 Nr. 1 der Abgabenordnung; BFH-Urteil vom 29. April 2009 X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777).
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens wird dem FG übertragen (§ 143 Abs. 2 FGO analog).