Entscheidungsdatum: 21.08.2013
NV: Nach dem Regelungskonzept des § 124 Abs. 1 AO ist der Inhalt der jeweiligen behördlichen Verfügung (§ 124 Abs. 1 Satz 2 AO), wenn zwei Verwaltungsakte nach Maßgabe des § 124 Abs. 1 Satz 1 AO wirksam geworden sind, durch Auslegung zu ermitteln. Diese Auslegung nach dem "objektiven Verständnishorizont", bei der als Auslegungskriterium das Bekanntgabedatum durchaus einbezogen werden kann, aber nicht zwingend ausschlaggebende Bedeutung hat, kann im Einzelfall zu dem Ergebnis führen, dass wegen einer durch eine Kollisionslage (einander widersprechende Verfügungssätze) ausgelösten Unbestimmtheit des Inhalts (§ 119 Abs. 1 AO) beide Verwaltungsakte unwirksam sind. Die Auslegung kann aber auch ergeben, dass ein Verwaltungsakt den anderen geändert hat, was zur Folge hat, dass bei einer Aufhebung des Änderungsbescheids der andere (ebenfalls wirksam bekannt gegebene) Verwaltungsakt mit seinem Regelungsinhalt wieder "aufleben" würde.
I. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Steuerfestsetzung und die daran anschließende Frage der Rechtmäßigkeit einer Vollstreckung.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, reichte ihre Steuererklärungen für 2003 (Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer) verspätet ein (Eingang beim Beklagten und Beschwerdegegner --Finanzamt [FA]-- am 20. Dezember 2010). Zuvor war vom FA darauf hingewiesen worden, dass infolge der Nichtabgabe der Erklärungen eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen anstehe (angekündigte Höhe: zu versteuerndes Einkommen von 100.000 €; Gewerbeertrag von 130.800 €), wenn nicht bis zum 8. Dezember 2010 begründete Einwendungen durch Vorlage der Steuererklärungen erhoben würden. Unter dem 20. Dezember 2010 erließ das FA entsprechende Schätzungsbescheide, die durch Zustellung bekannt gegeben wurden; die Zustellungsurkunde weist als Zustellungsdatum den 3. Januar 2011 aus.
Unter dem 29. Dezember 2010 erließ das FA "Änderungsbescheide", mit denen es den von der Klägerin eingereichten Steuererklärungen ohne Abweichungen folgte; es ergab sich daraus sowohl ein höheres zu versteuerndes Einkommen als auch ein höherer Gewerbesteuermessbetrag als in den Bescheiden vom 20. Dezember 2010. Die Bescheide vom 29. Dezember 2010 gab ein Sachbearbeiter des FA am selben Tag persönlich bekannt. Die Bescheide tragen u.a. folgenden Erläuterungstext: "Dieser Bescheid ändert den Bescheid vom ..." (als Datum: "29.12.10" im Körperschaftsteuerbescheid, "20.12.10" im Gewerbesteuermessbescheid) sowie "Das Finanzamt hat die Besteuerungsgrundlagen ... geschätzt, ...".
Sämtliche Bescheide wurden bestandskräftig. Die Klägerin stellte unter Hinweis auf eine bereits erfolgte Zahlung der zum 3. Februar 2011 fälligen Körperschaftsteuer (Zahlung auf den Bescheid vom 20. Dezember 2010) einen Vollstreckungsschutzantrag beim FA; die im Bescheid vom 29. Dezember 2010 ausgewiesene (höhere) Körperschaftsteuer sei nicht zu erheben, da der Bescheid vom 20. Dezember 2010 später (zuletzt) bekannt gegeben worden sei. Der Antrag wurde abgelehnt.
Mit der daraufhin erhobenen Klage hat die Klägerin beantragt, festzustellen, dass die am 29. Dezember 2010 zugestellten Bescheide durch die am 3. Januar 2011 zugestellten Bescheide geändert worden seien und keine Wirkung entfalten würden, hilfsweise, das FA zu verurteilen, an die Klägerin 93.136,42 € zurückzubezahlen. Die Klage war erfolglos (Finanzgericht --FG-- Baden-Württemberg, Urteil vom 10. Dezember 2012 6 K 2657/11).
Die Klägerin verweist auf § 115 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und beantragt, die Revision zuzulassen.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
II. Die Beschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen.
1. Die Klägerin hat als Rechtsfrage mit grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) herausgestellt, es sei klärungsbedürftig und klärungsfähig, ob "ein zeitlich früher wirksam gewordener Steuerbescheid einen zeitlich später wirksam werdenden Steuerbescheid wirkungslos machen (kann), ohne dass die Finanzverwaltung den Bekanntgabewillen für den später wirksam werdenden Steuerbescheid aufgegeben hat?"
Insoweit fehlt es allerdings an einem für eine Revisionszulassung erforderlichen Klärungsbedürfnis im vorliegenden Streitfall. Denn die Klägerin hat den nach ihrer Rechtsmeinung streiterheblichen Umstand ("Aufgabe des Bekanntgabewillens") zur Grundlage dieser Darlegung gemacht: Der später bekannt gegebene Bescheid gehe dem früher bekannt gegebenen Bescheid ohne Rücksicht auf seinen Gegenstand vor, so dass der früher bekannt gegebene Bescheid nur dann wirken könne, wenn der später bekannt gegebene Bescheid seine Wirksamkeit (§ 124 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung --AO--) verliere, z.B. durch Aufgabe des Bekanntgabewillens durch das FA.
Diese Prämisse ist jedoch dem Regelungskonzept des § 124 Abs. 1 AO nicht zu entnehmen. Wenn, was das FG zutreffend zu Grunde gelegt hat, zwei Verwaltungsakte nach Maßgabe des § 124 Abs. 1 Satz 1 AO wirksam geworden sind, ist der Inhalt der jeweiligen behördlichen Verfügung (§ 124 Abs. 1 Satz 2 AO) durch Auslegung zu ermitteln; diese Auslegung nach dem "objektiven Verständnishorizont", bei der als Auslegungskriterium das Bekanntgabedatum durchaus einbezogen werden kann, aber nicht zwingend ausschlaggebende Bedeutung hat, kann im Einzelfall zu dem Ergebnis führen, dass wegen einer durch eine Kollisionslage (einander widersprechende Verfügungssätze) ausgelösten Unbestimmtheit des Inhalts (§ 119 Abs. 1 AO) beide Verwaltungsakte unwirksam sind (s. Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 124 AO Rz 14). Die Auslegung kann aber auch ergeben, dass ein Verwaltungsakt den anderen geändert hat, was zur Folge hat, dass bei einer Aufhebung des Änderungsbescheids der andere (ebenfalls wirksam bekannt gegebene) Verwaltungsakt mit seinem Regelungsinhalt wieder "aufleben" würde.
Auf dieser zutreffenden Grundlage hat das FG durch Auslegung des bekannt gegebenen Inhalts aller --nicht mit Rechtsbehelf angefochtenen-- Bescheide entschieden, dass der Klägerin im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Bescheide vom 20. Dezember 2010 (am 3. Januar 2011) "ersichtlich" gewesen sei, "dass es sich bei ... (jenen) Bescheiden ... um die geänderten Bescheide" gehandelt habe. Die von der Klägerin formulierte Rechtsfrage stellt sich daher im Streitfall nicht. Bei einer durch den (fortbestehenden) Bekanntgabewillen getragenen und rechtswirksamen Bekanntgabe war der Rechtsstreit auf der Grundlage einer Auslegung der jeweiligen Inhalte der (wirksamen) Verwaltungsakte zu entscheiden.
2. Die Klägerin macht mit der Beschwerde weiterhin geltend, das angefochtene Urteil verstoße gegen § 124 Abs. 1 Satz 1 AO. Einen Revisionsgrund i.S. von § 115 Abs. 2 FGO hat sie dazu nicht angeführt. Offensichtlich rügt sie damit aber das Ergebnis der Auslegung des FG zum Gegenstand der bekannt gegebenen Bescheide.
Die Auslegung des FG, die sich als Würdigung der tatsächlichen Sachumstände des Einzelfalls zum "objektiven Verständnishorizont" bei der Bekanntgabe der Bescheide darstellt, würde allerdings im Revisionsverfahren als verfahrensfehlerfreie Gesamtwürdigung i.S. des § 118 Abs. 2 FGO eine Bindung des Revisionsgerichts auslösen. Mit der Rüge eines materiell-rechtlichen Rechtsverstoßes (Rechtsanwendungsfehler) kann grundsätzlich die Zulassung der Revision nicht erreicht werden (s. z.B. --ebenfalls zu der hier nicht dargelegten Ausnahme einer objektiv willkürlichen Entscheidung-- Senatsbeschluss vom 20. Juni 2011 I B 108/10, BFH/NV 2011, 1924, m.w.N.).
3. Die Klägerin hat zur Darlegung einer Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28. November 1985 IV R 178/83 (BFHE 145, 226, BStBl II 1986, 293) verwiesen. Eine Abweichung des FG durch einen tragenden Rechtssatz im angefochtenen Urteil von einem ebenfalls tragenden Rechtssatz in der angeführten Entscheidung hat die Klägerin jedoch nicht dargelegt; sie hat allenfalls darauf hingewiesen, dass aus ihrer Sicht im Streitfall "Unklarheiten" zum jeweiligen Bescheidinhalt aufgetreten seien, die erzwungen hätten, im Sinne der in dem BFH-Urteil angeführten "Beweislastregel" zu Lasten des FA zu entscheiden. Das FG hat jedoch ausreichende Anhaltspunkte für eine Auslegung des Inhalts mit einem eindeutigen Ergebnis gesehen, so dass die Anwendung dieser Regel nicht in Betracht kam. Allein in der Einschätzung eines Beteiligten, dass ein FG im Einzelfall die Rechtsgrundsätze eines BFH-Urteils unzutreffend umgesetzt hat, liegt allerdings nach ständiger Rechtsprechung keine Divergenz i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO (s. oben zu 2.).