Entscheidungsdatum: 26.03.2012
1. NV: War das Verfahren gemäß § 74 FGO im Anschluss an eine mündliche Verhandlung vor dem Vollsenat ausgesetzt worden und wird es nach Wegfall des Aussetzungsgrundes wieder aufgenommen, ist eine Übertragung auf den Einzelrichter gemäß § 6 Abs. 2 FGO nicht möglich.
2. NV: Auf die Beachtung der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts kann nicht verzichtet werden.
I. Die Beteiligten stritten vor dem Finanzgericht (FG) darüber, ob § 50 Abs. 1 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr 2002 geltenden Fassung unionsrechtskonform ist. Am 14. Oktober 2009 fand deshalb vor dem mit drei Berufsrichtern und zwei Laienrichtern besetzten FG eine mündliche Verhandlung statt. Der Senat verkündete am Ende der mündlichen Verhandlung den Beschluss, dass dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (jetzt: Gerichtshof der Europäischen Union --EuGH--) die Frage vorgelegt werden solle, ob es die Kapitalverkehrsfreiheit verletze, wenn ein im Inland beschränkt steuerpflichtiger Angehöriger anders als ein unbeschränkt Steuerpflichtiger im Zusammenhang mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung stehende Renten nicht als Sonderausgaben geltend machen könne. Das Verfahren wurde gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bis zur Entscheidung des EuGH über die vorgelegte Frage ausgesetzt.
Nachdem der EuGH hierüber durch Urteil vom 31. März 2011 C-450/09 (Deutsches Steuerrecht 2011, 664) entschieden hatte, beraumte der Berichterstatter eine mündliche Verhandlung an. In der mündlichen Verhandlung erklärten die Verfahrensbeteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter für die Fortsetzung des Verfahrens. Der Einzelrichter gab der Klage durch Urteil vom 30. Mai 2011 statt.
Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) macht mit seiner Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision u.a. geltend, das FG sei bei seiner Entscheidung durch Urteil nicht zutreffend besetzt gewesen (§ 119 Nr. 1 FGO i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
1. Das erkennende FG war nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 119 Nr. 1 FGO), weil die Entscheidung durch den Einzelrichter statt den Vollsenat getroffen wurde. Eine Übertragung auf den Einzelrichter war gemäß § 6 Abs. 2 FGO ausgeschlossen. Denn eine Übertragung auf den Einzelrichter ist unzulässig, wenn bereits vor dem Senat mündlich verhandelt worden und inzwischen kein Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteil ergangen ist. Im Streitfall ist im Anschluss an die mündliche Verhandlung vom 14. Oktober 2009 weder ein Vorbehalts-, Teil- noch Zwischenurteil ergangen, sodass eine Übertragung auf den Einzelrichter ausgeschlossen war. Die Vorschrift lässt nur die in ihr genannten Ausnahmen zu. War das Verfahren --wie hier-- gemäß § 74 FGO im Anschluss an eine mündliche Verhandlung vor dem Vollsenat ausgesetzt worden und wird es nach Wegfall des Aussetzungsgrundes wieder aufgenommen, ist eine Übertragung auf den Einzelrichter gemäß § 6 Abs. 2 FGO nicht möglich.
2. Ungeachtet der Frage, ob § 6 Abs. 2 FGO angesichts seines Wortlauts einer erweiternden Auslegung zugänglich ist, ist eine solche sachlich nicht gerechtfertigt. Der Vorschrift liegt die Auffassung zugrunde, dass eine nennenswerte Entlastung des Senats und eine spürbare Verfahrensbeschleunigung nicht mehr erreichbar sind, wenn sich bereits der gesamte Senat mit dem Fall beschäftigt hat (Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 6 FGO Rz 45; Buciek in Beermann/ Gosch, FGO § 6 Rz 113; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 6 Rz 13). § 6 Abs. 2 FGO soll überdies verhindern, dass der Senat den Einzelrichter als "ausführendes Organ" einsetzt, nachdem der Senat die Weichen für die Entscheidung des Falls bereits gestellt hat. Die in § 6 Abs. 2 FGO genannte Ausnahme für das Übertragungsverbot rechtfertigt sich dadurch, dass nach Erlass eines Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteils das Verfahren in eine neue Phase getreten ist und der Senat den nunmehr anstehenden Prozessstoff in der Regel noch nicht intensiv behandelt haben wird. Deshalb kann insoweit eine eigenständige Bearbeitung durch den Einzelrichter sinnvoll sein; zugleich ist eine unzulässige Beeinflussung durch Vorgaben des Senats nicht zu befürchten (Buciek in Beermann/Gosch, FGO § 6 Rz 120; Gräber/Koch, a.a.O., § 6 Rz 14).
Wird das Verfahren durch den Senat ausgesetzt, weil er die Sache entweder dem Bundesverfassungsgericht oder dem EuGH vorlegen will, haben sich sämtliche Senatsmitglieder bereits eingehend mit den dem Rechtsstreit zugrunde gelegten Fragen beschäftigt und durch die Vorlage die Entscheidung zum Teil vorgeprägt. Vor dem Hintergrund des Ziels des § 6 Abs. 2 FGO erscheint es daher auch in diesen Fällen angezeigt, dass sich der Vollsenat weiterhin mit der Sache befasst.
3. Der Umstand, dass sich das FA mit der Übertragung der Rechtssache auf den Einzelrichter einverstanden erklärt hat, steht der Verfahrensrüge nicht entgegen. Denn auf die Beachtung der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts kann nicht nach § 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung verzichtet werden (Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz 8). Davon abgesehen könnte darin nur dann ein Rügeverzicht gesehen werden, wenn sicher davon auszugehen wäre, dass dem FA bereits in der mündlichen Verhandlung bekannt war, dass § 6 Abs. 2 FGO eine Übertragung der Rechtssache auf den Einzelrichter in diesem Verfahrensstadium ausschließt.