Entscheidungsdatum: 28.09.2015
In der Beschwerdesache
betreffend das Patent 10 2006 006 439
…
…
hat der 9. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 28. September 2015 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dipl.-Ing. Hilber sowie der Richter Dipl.-Ing. Bork, Paetzold und Dipl.-Ing. Sandkämper
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Einsprechenden wird der Beschluss der Patentabteilung 21 des Deutschen Patent- und Markenamtes vom 13. Juli 2010 aufgehoben und das Patent 10 2006 006 439 widerrufen.
I.
Die Patentabteilung 21 des Deutschen Patent- und Markenamtes hat nach Prüfung des Einspruchs das am 13. Februar 2006 angemeldete Patent mit der Bezeichnung
"Ventileinrichtung zur manuellen Veränderung der Niveaulage eines luftgefederten Fahrzeuges"
mit Beschluss vom 13. Juli 2010 in vollem Umfang aufrechterhalten. Nach Prüfung des Einspruchs und einer Anhörung ist sie zu der Überzeugung gelangt, dass die erfindungsgemäße Ventileinrichtung gegenüber dem Stand der Technik patentfähig sei und hat dies im Einzelnen begründet.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Einsprechenden. Erstmals mit der Beschwerdebegründung vom 20. Juli 2015 macht sie eine unzulässige Erweiterung der patentierten Ventileinrichtung gegenüber deren Ursprungsoffenbarung geltend. Dazu führt sie aus, in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen sei ausschließlich offenbart, dass das Bedienelement der Ventileinrichtung in vorbestimmten Stellungen (Plural) einrast- und entriegelbar sei. Im Gegensatz dazu solle das Bedienelement laut der erteilten Fassung aber nur in einer Stellung, nämlich der Stellung Senken, einrast- und entriegelbar sein.
Dieser Sachverhalt sei entscheidungsrelevant und bereits Gegenstand des inzwischen rechtskräftig erledigten Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens zwischen den Beteiligten gewesen in der Sache des parallelen europäischen Patents 1 986 874; die unzulässige Erweiterung sei dort festgestellt worden. Obwohl dies weder vorgreiflich sei noch eine unzulässige Erweiterung Thema im deutschen Einspruchsverfahren gewesen sei, könne es nicht im Interesse aller Beteiligten sein, diesen Widerrufsgrund im laufenden Einspruchsbeschwerdeverfahren unberücksichtigt zu lassen. Denn dadurch würde das Streitpatent unter Umständen in einer nichtigen Fassung aufrechterhalten.
Außerdem vertritt die Beschwerdeführerin weiterhin die bereits im Einspruchsverfahren vorgetragene Meinung, der Streitgegenstand sei nicht patentfähig gegenüber dem Stand der Technik. Dabei bezieht sie sich auf folgende Druckschriften:
D1 DE 199 13 380 C1 (im Prüfungsverfahren ermittelt)
D2 DE 42 02 729 C2 (ursprünglich von der Anmelderin genannt)
D3 DE 26 23 235 C3
D4 DE 41 20 824 C1
D5 EP 0 536 124 B1 und
D6 DE 195 10 792 C1
D7 WO 92/12021 A1 und die
D8 FR 2 733 942 A (mit D8a: deutsche Übersetzung)
D9 Druckdatenblatt „Drehschieberventil“, WABCO aus 01/99
D10 DIN 24300, Blatt 5 aus März 1966.
Nach einer Vorberatung des Senats ist den Beteiligten mit richterlichem Hinweis vom 27. August 2015 mitgeteilt worden, der Beschwerde sei voraussichtlich stattzugeben. Hinsichtlich der erteilten Fassung bestünden Zulässigkeitsbedenken, weil eine Arretierbarkeit des Bedienelements in ausschließlich einer einzigen Stellung ursprünglich nicht offenbart sein dürfte. Unabhängig davon sei die Patentfähigkeit eines möglicherweise auf seine Ursprungsoffenbarung zurückgeführten Streitgegenstandes fraglich gegenüber den Druckschriften D9 mit D1. Anlass für deren Zusammenschau könne die zum Anmeldetag des Streitpatents im einschlägigen Fachbereich hinlänglich bekannte Sicherheitsproblematik sein, wonach das Belassen des Bedienhebels eines beispielsweise für ein luftgefedertes Fahrzeug aus D9 bekannten Drehschieberventils in einer Funktionsstellung ein Sicherheitsrisiko darstelle. Dieses Problem sei nicht nur beschrieben in D1, sondern außerdem auch in den Druckschriften D2, D4 bis D7 sowie D8a.
Die Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin hat dem widersprochen. Der Nichtigkeitsgrund der unzulässigen Erweiterung nach § 21 (1) Nr. 4 PatG sei nicht Gegenstand des Einspruchs gewesen und folglich verspätet vorgetragen. Deshalb hat die Beschwerdegegnerin unter Verweis auf die BGH-Entscheidung „Aluminium-Trihydroxid“ die Ansicht vertreten, das Bundespatentgericht sei nicht befugt, seine Entscheidung im Einspruchsbeschwerdeverfahren auf diesen Widerrufsgrund zu stützen. Einer Berücksichtigung dieses Widerrufsgrundes verweigert sie deshalb ausdrücklich die Zustimmung.
Unabhängig davon verteidigt sie das Streitpatent im erteilten Umfang nach Hauptantrag und mit geänderten Anspruchsfassungen nach Hilfsanträgen 1 und 2, die sie für zulässig und auch patentfähig erachtet. Sie beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen,
hilfsweise das Patent beschränkt aufrecht zu erhalten mit folgenden Unterlagen:
Patentanspruch 1 bis 15 gemäß neuem Hilfsantrag 1 vom 28.09.2015, überreicht in der mündlichen Verhandlung am 28.09.2015,
Beschreibung und Zeichnungen Figuren wie Patentschrift,
weiter hilfsweise, - Patentansprüche 1 bis 15 gemäß neuem Hilfsantrag 2 vom 28.09.2015, überreicht in der mündlichen Verhandlung vom 28.09.2015,
Beschreibung und Zeichnungen Figuren jeweils wie Patentschrift.
Außerdem regt die Patentinhaberin an, die Rechtsbeschwerde zu der Frage zuzulassen:
„Ist das Bundespatentgericht befugt, im Einspruchsbeschwerdeverfahren neue Widerrufsgründe, die nicht Gegenstand des Einspruchsverfahrens vor dem Deutschen Patent- und Markenamt waren, aufzugreifen und hierauf seine Entscheidung zu stützen?“
Die Einsprechende und Beschwerdeführerin stellt den Antrag,
den angegriffenen Beschluss aufzuheben und das Patent in vollem Umfang zu widerrufen.
Sie widerspricht der Patentinhaberin vollumfänglich und meint, die angezogene BGH-Entscheidung „Aluminium-Trihydroxid“ sei nicht einschlägig, sondern betreffe einen anderen Sachverhalt.
Der Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung (Hauptantrag) lautet:
Ventileinrichtung zur manuellen Veränderung der Niveaulage eines luftgefederten Fahrzeuges, mit einem Gehäuse (1) sowie einem gegenüber dem Gehäuse (1) durch Betätigung eines Hebels (3) bewegbaren Bedienelement (2), bei der das Bedienelement (2) mittels einer Drehbewegung wenigstens in eine Senken-Stellung stellbar ist und das Bedienelement (2) zur Verhinderung einer Drehbewegung wenigstens in der Senken-Stellung mittels einer mechanischen Arretiervorrichtung (12, 26), die zwischen dem Bedienelement (2) und dem Gehäuse (1) wirkt, einrastbar ist, und bei der eine Entriegelungsvorrichtung (13, 22; 24, 27, 28, 34) vorgesehen ist, welche bei Anlegen eines elektrischen und/oder pneumatischen Signals die Rastwirkung der Arretiervorrichtung (12, 26) aufhebt, wodurch eine Rückstellung des Bedienelements (2) in eine Fahrt-Stellung ermöglicht wird.
Diesem Patentanspruch nachgeordnet sind die erteilten Patentansprüche 2 bis 15.
Nach Hilfsantrag 1 vom 28. September 2015 lautet der geltende Patentanspruch 1 (Unterschiede zum Wortlaut des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag sind fett gedruckt):
Ventileinrichtung zur manuellen Veränderung der Niveaulage eines luftgefederten Fahrzeuges, mit einem Gehäuse (1) sowie einem gegenüber dem Gehäuse (1) durch Betätigung eines Hebels (3) bewegbaren Bedienelement (2), bei der das Bedienelement mittels einer Drehbewegung in verschiedene Stellungen stellbar ist und in vorbestimmten Stellungen mittels einer mechanischen Arretiervorrichtung einrastbar ist, wobei das Bedienelement (2) mittels einer Drehbewegung wenigstens in eine Senken-Stellung stellbar ist und das Bedienelement (2) zur Verhinderung einer Drehbewegung wenigstens in der Senken-Stellung mittels einer mechanischen Arretiervorrichtung (12, 26), die zwischen dem Bedienelement (2) und dem Gehäuse (1) wirkt, einrastbar ist, und bei der eine Entriegelungsvorrichtung (13, 22; 24, 27, 28, 34) vorgesehen ist, welche bei Anlegen eines elektrischen und/oder pneumatischen Signals die Rastwirkung der Arretiervorrichtung (12, 26) aufhebt, wodurch eine Rückstellung des Bedienelements (2) in eine Fahrt-Stellung ermöglicht wird.
Diesem Patentanspruch 1 nachgeordnet sind Patentansprüche 2 bis 15 gemäß Hilfsantrag 1 vom 28. September 2015.
Nach Hilfsantrag 2 vom 28. September 2015 lautet der geltende Patentanspruch 1 (Unterschiede zum Wortlaut des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag sind fett gedruckt):
Ventileinrichtung zur manuellen Veränderung der Niveaulage eines luftgefederten Fahrzeuges, mit einem Gehäuse (1) sowie einem gegenüber dem Gehäuse (1) durch Betätigung eines Hebels (3) bewegbaren Bedienelement (2), bei der das Bedienelement mittels einer Drehbewegung in verschiedene Stellungen stellbar ist und in vorbestimmten Stellungen mittels einer mechanischen Arretiervorrichtung einrastbar und entriegelbar ist, wobei das Bedienelement (2) mittels einer Drehbewegung wenigstens in eine Senken-Stellung stellbar ist und das Bedienelement (2) zur Verhinderung einer Drehbewegung wenigstens in der Senken-Stellung mittels der mechanischen Arretiervorrichtung (12, 26), die zwischen dem Bedienelement (2) und dem Gehäuse (1) wirkt, einrastbar ist, und bei der eine Entriegelungsvorrichtung (13, 22; 24, 27, 28, 34) vorgesehen ist, welche bei Anlegen eines elektrischen und/oder pneumatischen Signals die Rastwirkung der Arretiervorrichtung (12, 26) aufhebt, wodurch eine Rückstellung des Bedienelements (2) in eine Fahrt-Stellung ermöglicht wird.
Diesem Patentanspruch 1 nachgeordnet sind Patentansprüche 2 bis 15 gemäß Hilfsantrag 1 vom 28. September 2015.
Zum Anspruchswortlaut der Unteransprüche sowie zum Akteninhalt im Einzelnen wird auf die Akten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist in der Sache auch begründet, denn der mit ihr geltend gemachte Widerrufsgrund gemäß § 21 (1) Nr. 4 PatG, wonach der Gegenstand des Patents über den Inhalt der Anmeldung in der Fassung hinausgeht, in der sie bei der für die Einreichung der Anmeldung zuständigen Behörde ursprünglich eingereicht worden ist, greift durch. Dies gilt sowohl für die erteilte Fassung des Streitpatents als auch für die Fassungen nach den Hilfsanträgen. Das Streitpatent ist daher insgesamt zu widerrufen.
1. Der Widerrufsgrund gemäß § 21 (1) Nr. 4 PatG ist im vorliegenden Einspruchsbeschwerdeverfahren hinsichtlich der erteilten Fassung des Streitpatents (Hauptantrag) zu berücksichtigen. Denn obwohl dieser Widerrufsgrund nicht Gegenstand des vorhergehenden Einspruchsverfahrens war, ist er von der Beschwerdeführerin mit der Beschwerdebegründung vom 20. Juli 2015 in das Verfahren eingeführt worden. Damit hat die Beschwerdeführerin von ihrer Verfügungsbefugnis über das Beschwerdeverfahren in zulässiger Weise Gebrauch gemacht und der Senat hat erst daraufhin antragsgemäß entschieden.
Ihre gegenteilige Auffassung stützt die Beschwerdegegnerin auf die Entscheidung „Aluminium-Trihydroxid“ in GRUR 1995, 333 ff. Demnach sei der angefochtene Beschluss vom Bundespatentgericht nur im Umfang des erstinstanzlichen Streitgegenstandes zu prüfen und ein neuer Einspruchsgrund, der nicht als Grundlage für die Entscheidung der Einspruchsabteilung gedient hätte, dürfe ohne Zustimmung der Beschwerdegegnerin grundsätzlich nicht mehr in das Verfahren eingeführt werden (vgl. a. a. O. Rdn. 43/47).
Dieses Verständnis der in Rede stehenden BGH-Entscheidung teilt der Senat nicht, denn die mosaikartige Betrachtung der Beschwerdegegnerin verkennt den tatsächlichen Bedeutungsinhalt der Entscheidung insgesamt. Dem BGH lag seinerzeit ein Fall zur Entscheidung vor, in dem eine unzulässige Erweiterung weder Gegenstand im Einspruchsverfahren war noch die beschwerdeführende Einsprechende darauf jemals einen Antrag gerichtet hatte. Trotzdem hatte das Bundespatentgericht seinen Widerruf des Patents mit unzulässiger Erweiterung begründet, weil es der Meinung war, von Amts wegen zur Prüfung anderer Widerrufsgründe befugt zu sein. Für dieses Prüfen neuer Widerrufsgründe „von Amts wegen“ hat der BGH keine Rechtsgrundlage gesehen. In seiner ausführlichen Urteilsbegründung unterscheidet er zwischen der weitgehenden Prüfungskompetenz des Deutschen Patent- und Markenamtes, das im verwaltungsrechtlich angelegten Einspruchsverfahren wegen des hier uneingeschränkt geltenden Untersuchungsgrundsatzes von Amts wegen neue Widerrufsgründe berücksichtigen könne, und dem rechtskontrollierenden Charakter der Beschwerde zum Bundespatentgericht, dem das Aufgreifen neuer Widerrufsgründe „von Amts wegen erstmalig“ versagt sei.
Ausdrücklich billigt der BGH allerdings dem Beschwerdeführer eine alleinige Verfügungsbefugnis über das Beschwerdeverfahren zu, vgl. Rdn. 44, und bestätigt folgerichtig die Bindung des Bundespatentgerichts an die Anträge des Beschwerdeführers, vgl. Rdn. 45. In diesem Kontext ist der Satz in Rdn. 47, auf den sich die Beschwerdegegnerin beruft, neue Einspruchsgründe, die nicht als Grundlage für die Entscheidung der Einspruchsabteilung gedient hätten, dürften grundsätzlich nicht mehr in das Verfahren eingeführt werden, nach Überzeugung des erkennenden Senats dahingehend zu verstehen, dass im Beschwerdeverfahren grundsätzlich keine neuen Einspruchsgründe mehr von Amts wegen eingeführt werden dürfen.
Unabhängig davon hält der Senat die Berücksichtigung des Widerrufsgrund gemäß § 21 (1) Nr. 4 PatG auf Antrag der Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall auch aus anderen Gründen für geboten.
Zunächst unterliegt es keinem Zweifel, dass bei der Entscheidung über die Hilfsanträge, welche den hier maßgeblichen Wortlaut für die aufgegriffene unzulässige Erweiterung umfassen, der Widerrufsgrund nach § 21 Abs.1 Nr. 4 PatG zu berücksichtigen ist. Denn bei der Verteidigung des Patents in veränderter Fassung im Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren muss die Zulässigkeit dieser Fassung ohne Beschränkung auf die gesetzlichen oder die geltend gemachten Widerrufsgründe geprüft werden (vgl. BGH GRUR 1998, 901 f. – Polymermasse). Sollte im vorliegenden Fall der Senat hinsichtlich der Frage der unzulässigen Erweiterung zu derselben Auffassung wie die Einspruchsabteilung des EPA im parallelen europäischen Verfahren gelangen, hätte dies zur Konsequenz, dass die Hilfsanträge, in denen die streitige Passage enthalten ist, jedenfalls wegen unzulässiger Erweiterung keinen Erfolg haben könnten, der Hauptantrag trotz der identischen Passage aber schon. Diese Diskrepanz aus rein verfahrensrechtlichen Gründen erscheint dem Senat nicht hinnehmbar, da es sich beim Einspruchsverfahren zwar um ein zweiseitiges, aber auch der Offizialmaxime verpflichtetes Überprüfungsverfahren handelt, mit dem im Interesse der Allgemeinheit ungerechtfertigt erteilte Patente als möglicher Störfaktor im Wettbewerb aus dem Register entfernt werden sollen. Nachdem die Einspruchsabteilung nicht an die vom Einsprechenden geltend gemachten Widerrufsgründe gebunden ist, um dem Interesse der Allgemeinheit an der Beseitigung zu Unrecht erteilter Patente nachzukommen, muss in der nachfolgenden Beschwerde die Überprüfung möglich sein, ob die Einspruchsabteilung dieses Allgemeininteresse durch Berücksichtigung aller einschlägigen Widerrufsgründe korrekt wahrgenommen hat. Ohne Berücksichtigung der in der Beschwerde erstmals geltend gemachten und auch berechtigten Widerrufsgründe muss der Beschwerdeführer ein wesentlich aufwändigeres Nichtigkeitsverfahren anstrengen. Die Privilegierung des Patentinhabers durch die Festlegung des Verfahrensgegenstandes bei der Patentabteilung verträgt sich nicht mit dem durch das Einspruchsverfahren angestrebte Ziel, über die Bestandskraft des erteilten Patents insgesamt zu entscheiden. Damit wäre es zu sehr dem Nichtigkeitsverfahren angenähert und büßt seinen präventiven Charakter ein (vgl. Sedemund-Treiber, GRUR 1996, S. 390 (398)). Um dies zu verhindern, ist aus dem Schrifttum die Ansicht vertreten worden, dass im Einspruchsbeschwerdeverfahren entgegen der Ansicht des BGH ein bisher nicht geltend gemachter Widerrufsgrund sogar von Amts wegen eingeführt und berücksichtigt werden könne; denn es handele sich bei den einzelnen Widerrufsgründen nicht um selbständige Streitgegenstände, sondern nur um verschiedene rechtliche Gesichtspunkte eines einheitlichen Streitgegenstandes im Einspruchsverfahren (vgl. Sedemund-Treiber a. a. O., S. 396 f.). Zudem ist geltend gemacht worden, dass es sich bei der Entscheidung der Patentabteilung/Einspruchsabteilung nicht um eine erste gerichtliche Instanz im prozessrechtlichen Sinne handele, vielmehr unterliege sie erst im Einspruchsbeschwerdeverfahren erstmalig einer gerichtlichen Kontrolle und Entscheidung im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG, wo der angefallene Streitstoff sämtliche Widerrufsgründe umfassen müsse, auch wenn das Patentamt diese nicht ausdrücklich behandelt habe (vgl. Fichtner/Waldhoff, Mitt. 2000, 446 (454)). Aus dem Untersuchungsgrundsatz ergebe sich eine umfassende Prüfungskompetenz des Bundespatentgerichts als Beschwerdegericht, die ihm auch ermöglichen müsse, von sich aus sämtliche Widerrufsgründe des § 21 PatG aufzugreifen (vgl. Busse/Engels, PatG, 7. Aufl. 2013, § 79 Rdn. 36, 37; Schulte, PatG, 9. Aufl. 2014, Einl. Rdn.24 ff.(26); van Hees/Braitmayer, Verfahrensrecht in Patentsachen, 4. Aufl. 2010, Rdn. 529 ff. 606 ff. 611; wohl zustimmend (durch Hinweis auf „beachtliche Argumente“) Schäfers/Schwarz in Benkard, PatG, 11. Aufl. 2016, § 79 Rdn. 23). Dies muss umso mehr gelten, wenn es sich um einen recht offensichtlichen Fall einer unzulässigen Erweiterung handelt, der – aus welchen Gründen auch immer – im Einspruchsverfahren nicht bemerkt worden ist. Manchmal kann sich dieser Widerrufsgrund aber auch erst im Laufe des Verfahrens herausstellen, wenn die Auslegung des Patentgegenstandes ergibt, dass dieser über die Ursprungsunterlagen hinausreicht. Der Einsprechende wäre dann wegen der Begründungsfrist des § 59 Abs. 1 PatG gehindert, die unzulässige Erweiterung geltend zu machen. Um hier Abhilfe zu schaffen, wird zumindest eine Prüfung von Einspruchsgründen im Einspruchsbeschwerdeverfahren für zulässig erachtet, wenn diese schon nach dem ersten Anschein hoch relevant seien (vgl. Rogge, zitiert von Pitz GRUR 1996, 265). Hingegen kommt eine Zurückverweisung gemäß § 79 Abs. 3 S. 1 PatG an die Patentabteilung mit der Begründung, es liege mit der Nichtbehandlung eines einschlägigen Widerrufsgrundes ein Ermessensfehlgebrauch vor, nicht in Betracht, denn dies würde zumindest eine Geltendmachung vor der Patentabteilung voraussetzen (vgl. Hövelmann GRUR 1997, 875 (877)), was im vorliegenden Fall gerade unterblieben ist.
Selbst wenn man im vorliegenden Fall davon ausgehen wollte, dass mit der von der Patentinhaberin geltend gemachten Entscheidung des BGH (GRUR 1995, 333 - „Aluminium-Trihydroxid“) inzidenter auch die Berücksichtigung eines erst in der Einspruchsbeschwerde geltend gemachten Widerrufsgrund unzulässig sein soll, so ist darauf zu verweisen, dass in der Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass „neue Einspruchsgründe, die nicht als Grundlage für die Entscheidung der Einspruchsabteilung gedient hätten, grundsätzlich nicht mehr in das Verfahren eingeführt werden“ dürfen. Dies versteht der Senat dahingehend, dass hiervon Ausnahmen im Einzelfall möglich sind, den er in der vorliegenden Konstellation für gegeben erachtet, so dass die Berücksichtigung des neuen Einspruchsgrundes auch nicht von der Zustimmung der Patentinhaberin abhängig ist.
2. Hinsichtlich der hilfsweise verteidigten Fassungen des Streitpatents (Hilfsanträge 1 und 2) ist der Widerrufsgrund gemäß § 21 (1) Nr. 4 PatG im vorliegenden Einspruchsbeschwerdeverfahren ebenfalls zu berücksichtigen. Angesichts der neu formulierten, geltenden Patentansprüche 1 bis 15 nach den beiden Hilfsanträgen erstreckt sich die durchzuführende Prüfung auf sämtliche Zulässigkeitsvoraussetzungen und damit insbesondere auch auf die Prüfung einer unzulässigen Erweiterung gegenüber der ursprünglichen Anmeldung, BGH „Polymermasse“ in GRUR 1998, 901-904. Dies hat die Beschwerdegegnerin nicht in Frage gestellt. Sie hat sich vielmehr auf die Erörterung dieses Widerrufsgrundes im Zusammenhang mit den Hilfsanträgen ausführlich eingelassen und daraufhin in der mündlichen Verhandlung entsprechende Änderungen der Hilfsanträge vorgenommen. Dies wird als ihr konkludentes Einverständnis mit der Prüfung dieses Widerrufsgrundes zumindest im Umfang der Hilfsanträge angesehen, wobei es auf dieses Einverständnis nicht mehr ankommt (vgl. BGH GRUR 1998,901 (902)).
III.
Einvernehmlich mit den Beteiligten sieht der Senat als Durchschnittsfachmann auf dem Gebiet des Streitpatents einen Ingenieur der Fachrichtung Maschinenbau mit Schwerpunkt Fahrzeugtechnik an, der bei einem Kraftfahrzeughersteller oder –zulieferer mit der Entwicklung von luftgefederten Fahrwerken bzw. deren Bauteilen befasst ist und der insbesondere über berufliche Erfahrung und Kenntnisse auf dem Gebiet der LKW-Pneumatik verfügt. An diesen Fachmann richtet sich das Streitpatent mit seiner Lehre und dieser Fachmann erkennt den angemeldeten Gegenstand anhand der ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen.
1. Zum Hauptantrag
Eine streitpatentgemäße Ventileinrichtung ist definiert durch die im erteilten Patentanspruch 1 enthaltenen Merkmale. Demnach beinhaltet das Streitpatent eine Ausführungsform der Ventileinrichtung, bei der das Bedienelement auch ausschließlich in einer Senken-Stellung einrast- und entriegelbar sein kann. Im nachstehend wiedergegebenen Wortlaut des Patentanspruchs 1 ist diese Ausführungsform durch Unterstreichungen kenntlich gemacht:
Ventileinrichtung zur manuellen Veränderung der Niveaulage eines luftgefederten Fahrzeuges, mit einem Gehäuse (1) sowie einem gegenüber dem Gehäuse (1) durch Betätigung eines Hebels (3) bewegbaren Bedienelement (2), bei der das Bedienelement (2) mittels einer Drehbewegung wenigstens in eine Senken-Stellung stellbar ist und das Bedienelement (2) zur Verhinderung einer Drehbewegung wenigstens in der Senken-Stellung mittels einer mechanischen Arretiervorrichtung (12, 26), die zwischen dem Bedienelement (2) und dem Gehäuse (1) wirkt, einrastbar ist, und bei der eine Entriegelungsvorrichtung (13, 22; 24, 27, 28, 34) vorgesehen ist, welche bei Anlegen eines elektrischen und/oder pneumatischen Signals die Rastwirkung der Arretiervorrichtung (12, 26) aufhebt, wodurch eine Rückstellung des Bedienelements (2) in eine Fahrt-Stellung ermöglicht wird.
Der vorstehend unterstrichene Text definiert somit eine Ventileinrichtung mit einem Bedienelement, bei der das Bedienelement wenigstens und damit auch ausschließlich in der Senken-Stellung einrastbar ist, und bei der eine Entriegelungsvorrichtung vorgesehen ist, welche die Rastwirkung der Arretiervorrichtung nur in dieser Senken-Stellung aufhebt. Eine derartige Ventileinrichtung ist nicht ursprungsoffenbart.
Als ursprüngliche Anmeldungsunterlagen sind beim Deutschen Patent- und Markenamt am 13. Februar 2006 eine achtzehnseitige Beschreibung, dreizehn Patentansprüche und Zeichnungen, Figuren 1 bis 12 hinterlegt worden. Aus diesen Anmeldungsunterlagen geht ausschließlich ein Bedienelement hervor, das in einer Mehrzahl von Stellungen einrastbar ist und dessen Entriegelungsvorrichtung folglich dafür ausgebildet ist, die Rastwirkung der Arretiervorrichtung aus einer Mehrzahl von Raststellungen aufzuheben. Insoweit definiert der ursprüngliche Patentanspruch 1 ein Bedienelement, das „in vorbestimmten Stellungen“ einrastbar ist, vgl. insb. Oberbegriff, und eine Entriegelungsvorrichtung, „welche ……. die Rastwirkung der Arretiervorrichtung (12, 26) aufhebt.“, vgl. insb. Kennzeichen. Damit übereinstimmend offenbaren sämtliche Ausführungsbeispiele betreffend ein rastbares Bedienelement neben einer Einrastbarkeit in der Senken-Stellung immer auch eine Einrastbarkeit in mehreren, nämlich vier weiteren Stellungen (Heben, Stopp nach dem Heben, Fahrt und Stopp nach dem Senken), vgl. insb. Figuren 6 und 8 bis 11 mit zugehöriger Beschreibung.
Die übrigen Ausführungsbeispiele gemäß den Figuren 7 und 12 mitsamt Beschreibung offenbaren keine Einrastbarkeit in der Senken-Stellung, weil dies in den Ausführungsbeispielen für eine Totmannschaltung funktionsbedingt gerade nicht vorgesehen ist. Trotzdem sind auch in diesen Ausführungsbeispielen mehrere, nämlich drei einrastbare Stellungen (Stopp nach dem Heben, Fahrt und Stopp nach dem Senken) des Bedienelements vorgesehen.
Mithin hat der Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung keinen Bestand.
Dies gilt folgerichtig auch für die erteilten Unteransprüche, denn sie bilden eine Ventileinrichtung weiter, die nicht ursprungsoffenbart ist.
2. Zum Hilfsantrag 1
Die vorgenommenen, fett hervorgehobenen Änderungen im Wortlaut des geltenden Patentanspruchs 1 gegenüber seiner erteilten Fassung beseitigen die festgestellte unzulässige Erweiterung nicht. Demnach beinhaltet der geltende Patentanspruch 1 weiterhin eine Ausführungsform der Ventileinrichtung, bei der das Bedienelement auch ausschließlich in einer Senken-Stellung einrast- und entriegelbar sein kann. Im nachstehend wiedergegebenen Wortlaut des geltenden Patentanspruchs 1 ist diese Ausführungsform wiederum durch Unterstreichungen kenntlich gemacht:
Ventileinrichtung zur manuellen Veränderung der Niveaulage eines luftgefederten Fahrzeuges, mit einem Gehäuse (1) sowie einem gegenüber dem Gehäuse (1) durch Betätigung eines Hebels (3) bewegbaren Bedienelement (2), bei der das Bedienelement mittels einer Drehbewegung in verschiedene Stellungen stellbar ist und in vorbestimmten Stellungen mittels einer mechanischen Arretiervorrichtung einrastbar ist, wobei das Bedienelement (2) mittels einer Drehbewegung wenigstens in eine Senken-Stellung stellbar ist und das Bedienelement (2) zur Verhinderung einer Drehbewegung wenigstens in der Senken-Stellung mittels einer mechanischen Arretiervorrichtung (12, 26), die zwischen dem Bedienelement (2) und dem Gehäuse (1) wirkt, einrastbar ist, und bei der eine Entriegelungsvorrichtung (13, 22; 24, 27, 28, 34) vorgesehen ist, welche bei Anlegen eines elektrischen und/oder pneumatischen Signals die Rastwirkung der Arretiervorrichtung (12, 26) aufhebt, wodurch eine Rückstellung des Bedienelements (2) in eine Fahrt-Stellung ermöglicht wird.
Der vorstehend unterstrichene Text definiert somit weiterhin eine Ventileinrichtung mit einem Bedienelement, bei der das Bedienelement wenigstens und damit auch ausschließlich in der Senken-Stellung einrastbar ist, und bei der eine Entriegelungsvorrichtung vorgesehen ist, welche die Rastwirkung der Arretiervorrichtung nur in dieser Senken-Stellung aufhebt. Eine derartige Ventileinrichtung ist nicht ursprungsoffenbart. Zur Begründung gelten die Ausführungen zum Hauptantrag gleichermaßen.
Mithin ist der Patentanspruch 1 in der geltenden Fassung des Hilfsantrages 1 nicht zulässig.
Dies gilt folgerichtig auch für die geltenden Unteransprüche, denn sie bilden eine Ventileinrichtung weiter, die nicht ursprungsoffenbart ist.
3. Hilfsantrag 2
Die vorgenommenen, fett hervorgehobenen Änderungen im Wortlaut des geltenden Patentanspruchs 1 gegenüber seiner erteilten Fassung beseitigen die festgestellte unzulässige Erweiterung ebenfalls nicht. Demnach beinhaltet der geltende Patentanspruch 1 weiterhin eine Ausführungsform der Ventileinrichtung, bei der das Bedienelement auch ausschließlich in einer Senken-Stellung einrast- und entriegelbar sein kann. Im nachstehend wiedergegebenen Wortlaut des geltenden Patentanspruchs 1 ist diese Ausführungsform wiederum durch Unterstreichungen kenntlich gemacht:
Ventileinrichtung zur manuellen Veränderung der Niveaulage eines luftgefederten Fahrzeuges, mit einem Gehäuse (1) sowie einem gegenüber dem Gehäuse (1) durch Betätigung eines Hebels (3) bewegbaren Bedienelement (2), bei der das Bedienelement mittels einer Drehbewegung in verschiedene Stellungen stellbar ist und in vorbestimmten Stellungen mittels einer mechanischen Arretiervorrichtung einrastbar und entriegelbar ist, wobei das Bedienelement (2) mittels einer Drehbewegung wenigstens in eine Senken-Stellung stellbar ist und das Bedienelement (2) zur Verhinderung einer Drehbewegung wenigstens in der Senken-Stellung mittels der mechanischen Arretiervorrichtung (12, 26), die zwischen dem Bedienelement (2) und dem Gehäuse (1) wirkt, einrastbar ist, und bei der eine Entriegelungsvorrichtung (13, 22; 24, 27, 28, 34) vorgesehen ist, welche bei Anlegen eines elektrischen und/oder pneumatischen Signals die Rastwirkung der Arretiervorrichtung (12, 26) aufhebt, wodurch eine Rückstellung des Bedienelements (2) in eine Fahrt-Stellung ermöglicht wird.
Der vorstehend unterstrichene Text definiert somit weiterhin eine Ventileinrichtung mit einem Bedienelement, bei der das Bedienelement wenigstens und damit auch ausschließlich in der Senken-Stellung einrastbar ist, und bei der eine Entriegelungsvorrichtung vorgesehen ist, welche die Rastwirkung der Arretiervorrichtung nur in dieser Senken-Stellung aufhebt. Eine derartige Ventileinrichtung ist nicht ursprungsoffenbart. Zur Begründung gelten die Ausführungen zum Hauptantrag gleichermaßen.
Mithin ist der Patentanspruch 1 in der geltenden Fassung des Hilfsantrages 2 nicht zulässig.
Dies gilt folgerichtig auch für die geltenden Unteransprüche, denn sie bilden eine Ventileinrichtung weiter, die nicht ursprungsoffenbart ist.
4. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Allerdings ist die von der Patentinhaberin formulierte Rechtsfrage nicht einschlägig. Denn im vorliegenden Fall hat der Senat den weiteren Widerrufsgrund nicht von Amts wegen, sondern auf das entsprechende Vorbringen der Einsprechenden aufgegriffen. Dieser Fall ist in der genannten Entscheidung des BGH mit keinem Wort angesprochen, obwohl dies nahe gelegen hätte; es ist lediglich die Konstellation erwähnt, aber offen gelassen worden, dass der Patentinhaber der Berücksichtigung des neuen Widerrufsgrundes zustimmt. Diese Möglichkeit ist in der Entscheidung aber nicht als einzige Ausnahme herausgestellt worden. Das „Schweigen“ zu der vorliegenden Konstellation kann als Hinweis verstanden werden, dass dies anders zu beurteilen ist. Es kann aber auch bedeuten, dass dies einer eigenen Grundsatzentscheidung vorbehalten sein sollte.
Der Senat lässt die Rechtsbeschwerde daher zu der Frage zu, ob die Entscheidung (GRUR 1995, 333 - „Aluminium-Trihydroxid“) ohne Ausnahme auch auf den Fall anzuwenden ist, dass der neue Widerrufsgrund vom Einsprechenden in das Beschwerdeverfahren ohne Zustimmung des Patentinhabers eingeführt worden ist.