Bundespatentgericht

Entscheidungsdatum: 05.03.2012


BPatG 05.03.2012 - 9 W (pat) 345/06

Einspruchsverfahren – erfinderische Tätigkeit - Kostenauferlegung –


Gericht:
Bundespatentgericht
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsdatum:
05.03.2012
Aktenzeichen:
9 W (pat) 345/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Zitierte Gesetze

Tenor

In der Einspruchssache

betreffend das Patent 101 16 011

hat der 9. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 12. Dezember 2011 und 5. März 2012 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dipl.-Ing. Pontzen sowie der Richter Paetzold, Dipl.-Ing. Reinhardt und Dipl.-Ing. Univ. Nees

beschlossen:

1. Das Patent wird widerrufen.

2. Der Antrag der Einsprechenden, dem Patentinhaber die Kosten für den zweiten mündlichen Verhandlungstermin aufzuerlegen, wird zurückgewiesen.

Gründe

I.

1

Gegen das unter Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Voranmeldung 100 56 424.0 vom 14. November 2000 (Innere Priorität) am 30. März 2001 angemeldete und am 3. November 2005 veröffentlichte Patent mit der Bezeichnung

2

"Windenergieanlage"

3

ist von der R… SE und der G… GmbH jeweils schrift-lich mit Begründung Einspruch erhoben worden.

4

Die am 12. Dezember 2011 begonnene mündliche Verhandlung ist vertagt worden, nachdem der Patentinhaber während dieser Verhandlung neue Patentansprüche nach Hauptantrag und drei Hilfsanträgen mit Merkmalen vorgelegt hat, die zum Teil nur in der Beschreibung der Patentschrift angegeben waren. Die Einsprechenden haben sich außer Stande zu einer unmittelbaren Beurteilung dieser Anspruchsgegenstände und einer entsprechenden Stellungnahme erklärt und Gelegenheit zu weiterer Recherche erbeten.

5

In der Fortsetzung der Verhandlung am 5. März 2012 verteidigt der Patentinhaber sein Patent in beschränkter Fassung mit den in der Verhandlung am 12. Dezember 2011 gestellten Anträgen.

6

Die Einsprechenden sind der Auffassung, die Patentansprüche 1 aller Anträge enthielten unzulässige Erweiterungen gegenüber der Ursprungsoffenbarung. Die Gegenstände der Patentansprüche nach Hauptantrag und den Hilfsanträgen 1 bis 3 seien nicht neu bzw. beruhten zumindest nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Schließlich sei die Lehre nach Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 nicht ausführbar.

7

Zum Stand der Technik verweisen sie in der mündlichen Verhandlung u. a. auf folgende Druckschrift bzw. Fachliteratur:

8

- US 4 348 155

9

- Hau, E. "Windkraftanlagen", 2. Auflage 1996, Seiten 231 bis 242 (nachfolgend bezeichnet mit "Fachliteratur").

10

Die Einsprechenden stellen den Antrag,

11

das Patent zu widerrufen

12

und beantragen weiter,

13

die Kosten für die zweite mündliche Verhandlung dem Patentinhaber aufzuerlegen.

14

Der Patentinhaber stellt den Antrag,

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das Patent beschränkt aufrechtzuerhalten

16

- mit Patentansprüchen 1 bis 10 gemäß Hauptantrag,

17

- hilfsweise mit Patentansprüchen 1 bis 9 gemäß Hilfsantrag 1,

18

- weiter hilfsweise mit Patentansprüchen 1 bis 9 gemäß Hilfsantrag 2,

19

- weiter hilfsweise mit Patentansprüchen 1 bis 9 gemäß Hilfsantrag 3,

20

 jeweils eingereicht mit Schriftsatz vom 20. Februar 2012, eingegangen am 20. Februar 2012,

21

- Beschreibung und Zeichnungen Figuren jeweils gemäß Patentschrift

22

und beantragt, den Kostenantrag zurückzuweisen.

23

Patentanspruch 1 nach dem Hauptantrag lautet:

24

"1. Windenergieanlage mit einem Rotor und mit wenigstens einem Rotorblatt und einer elektromotorischen Verstelleinrichtung zur Einstellung des Pitchwinkels für das Rotorblatt, dadurch gekennzeichnet, dass die Verstelleinrichtung wenigstens zwei elektromotorische Antriebe, nämlich Elektromotoren, aufweist, die die zum Verstellen des Rotorblattes erforderliche Kraft an mehreren Stellen des Rotorblattes gleichzeitig einleiten."

25

Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag 1 lautet (Abweichungen vom Hauptantrag durch Streichung und Unterstreichung hervorgehoben):

26

"1. Windenergieanlage mit einem Rotor und mit wenigstens einem Rotorblatt zwei Rotorblättern und einer elektromotorischen Verstelleinrichtung zur Einstellung des Pitchwinkels für das jedes Rotorblatt, wobei mindestens ein Rotorblatt asynchron zu dem oder den anderen verstellbar ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Verstelleinrichtung wenigstens zwei elektromotorische Antriebe (12) , nämlich Elektromotoren, aufweist, die die zum Verstellen des Rotorblattes erforderliche Kraft an mehreren Stellen des Rotorblattes gleichzeitig einleiten."

27

Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag 2 lautet bei mit dem des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag 1 gleichlautenden Oberbegriff in seinem kennzeichnenden Teil wie folgt (Abweichungen vom Hilfsantrag 1 durch Streichung und Unterstreichung hervorgehoben):

28

" dass die Verstelleinrichtung wenigstens zwei drei elektromotorische Antriebe, nämlich Elektromotoren, aufweist, die die zum Verstellen des Rotorblattes erforderliche Kraft an mehreren Stellen des Rotorblattes gleichzeitig einleiten, und dass die elektromotorischen Antriebe (12) so ausgelegt sind, dass auch die Verstellfunktion der Rotorblätter aufrechterhalten bleibt, wenn einer der drei elektromotorischen Antriebe (12) ausfällt. "

29

Patentanspruch 1 nach dem Hilfsantrag 3 lautet wie folgt (Abweichungen vom Hilfsantrag 2 durch Streichung und Unterstreichung hervorgehoben):

30

"1. Windenergieanlage mit einem Rotor und mit wenigstens zwei Rotorblättern und einer elektromotorischen Verstelleinrichtung zur Einstellung des Pitchwinkels für jedes das Rotorblatt, wobei mindestens ein Rotorblatt asynchron zu dem oder den anderen verstellbar ist, dadurch gekennzeichnet , dass die Verstelleinrichtung drei elektromotorische Antriebe, nämlich Elektromotoren, aufweist, die die zum Verstellen des Rotorblattes erforderliche Kraft an mehreren Stellen des Rotorblattes gleichzeitig einleiten, so dass jeder Antrieb nur ein Drittel der zum Verstellen des Rotorblatts erforderlichen Kraft aufbringt und dass die elektromotorischen Antriebe (12) so ausgelegt sind, dass auch die Verstellfunktion der Rotorblätter des Rotorblattes aufrechterhalten bleibt, wenn einer der drei elektromotorischen Antriebe (12) ausfällt."

31

An den Patentanspruch 1 des jeweiligen Antrags schließen sich rückbezogen Patentansprüche 2 bis 10 (Hauptantrag) bzw. Patentansprüche 2 bis 9 (Hilfsanträge 1 bis 3) an. Wegen ihres Wortlauts wird auf die Akte verwiesen.

32

Der Patentinhaber hält die Patentansprüche aller Anträge für zulässig, ihre Gegenstände für patentfähig.

33

Mit Schriftsatz vom 20. Februar 2012 hat er die nachangemeldete Druckschrift DE 101 40 793 A1 sowie Prospektmaterial über die Enercon-Windenergieanlagen E-30 und E-40 vorgelegt, womit die von ihm vertretene Wertung des entgegengehaltenen Standes der Technik untermauert werden soll.

II.

34

Die Zuständigkeit des Bundespatentgerichts ist durch § 147 Abs. 3 Satz 1 PatG in den vom 1. Januar 2002 bis 30. Juni 2006 geltenden Fassungen begründet.

35

1. Der Einspruch ist zulässig. Er hat Erfolg durch den Widerruf des Patents.

36

2. Das Patent betrifft eine Windenergieanlage mit einem Rotor mit wenigstens einem Rotorblatt und einer Verstelleinrichtung für das Rotorblatt.

37

In der Beschreibungseinleitung der Streitpatentschrift ist ausgeführt, dass derartige Windenergieanlagen seit langem bekannt und in der Fachliteratur ("Fachliteratur") beschrieben seien. Die Verstelleinrichtung müsse so ausgelegt sein, dass das Rotorblatt bzw. bei einer zentralen Rotorblattverstellung die Rotorblätter innerhalb einer akzeptablen Zeit in eine vorgebbare Position verstellt werden könnten. Bei den bekannten Verstelleinrichtungen sei häufig ein Motor vorgesehen, der eine durch die Rotorblätter und deren Lasten bestimmte Mindestleistung aufweisen müsse.

38

Mit steigender Anlagengröße würden allerdings auch die Rotorblätter größer, so dass auch der zur Rotorblattverstellung verwendete Motor eine höhere Leistung bereitstellen müsse. Dies wiederum würde unvermeidlich zu größeren Abmessungen des Motors führen (Absätze 0002, 0003, 0006).

39

Dem Patent zugrundeliegendes und mit der Aufgabe formuliertes technisches Problem sei daher, eine Windenergieanlage der beschriebenen Art derart weiterzubilden, dass diese Nachteile vermieden seien (vgl. Absatz 0007).

40

Dieses Problem soll durch die Windenergieanlage nach dem jeweiligen Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag und gemäß Hilfsanträgen 1 bis 3 gelöst werden.

41

3. Über die Zulässigkeit der Patentansprüche der jeweiligen Anträge bedarf es keiner Entscheidung. Ebenso wenig bedarf es einer Beurteilung der gewerblichen Anwendbarkeit oder der Neuheit des jeweiligen Anspruchsgegenstands. Denn das Streitpatent kann jedenfalls deswegen keinen Bestand haben, weil die mit dem Hauptanspruch des jeweiligen Antrags beanspruchte Windenergieanlage gegenüber dem in Betracht gezogenen Stand der Technik nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruht.

42

Als Durchschnittsfachmann legt der Senat einen Ingenieur der Fachrichtung Maschinenbau zugrunde, der bei einem Hersteller von Windenergieanlagen oder bei einem Zulieferer mit der Entwicklung von Stelleinrichtungen für die aktive Blattverstellung befasst ist und auf diesem Gebiet über mehrjährige Berufserfahrung verfügt. Da derartige Stelleinrichtungen am Anmeldetag bereits seit langem sowohl mit hydraulischen als auch elektromotorischen Antrieben ausgeführt wurden, ist diesem Fachmann die Kenntnis über die für diese beiden Antriebsarten typischen Funktionseigenschaften und Konstruktionskriterien zumindest insoweit zu unterstellen, als deren für eine solche Stelleinrichtung notwendige Ausgestaltung betroffen ist.

43

Als nächstliegenden Stand der Technik sieht der Senat den nach der US 4 348 155 an. Denn die in dieser Druckschrift offenbarte Verstelleinrichtung dient u. a. der Begrenzung von als nachteilig erkanntem Gewicht und Bauvolumen der Stellorgane von Blattverstelleinrichtungen nach dem Stand der Technik (Spalte 1, Zeile 66 bis Spalte 2, Zeile 7; Spalte 2, Zeilen 41 bis 44, Spalte 8, Zeilen 47 bis 65). Der streitpatentgemäß mit weitgehend gleicher Problemstellung befasste Fachmann ist deshalb veranlasst, diese Druckschrift für die Lösung dieser Problemstellung mit Vorrang in Betracht zu ziehen.

44

Der Auffassung des Anmelders, gattungsbildender Stand der Technik könne nur ein Stellsystem mit elektromotorischen Antrieben sein, wie sie z. B. aus "Fachliteratur" bekannt seien, folgt der Senat nicht. Zwar sind die elektromotorischen Antriebe in "Fachliteratur" als vorteilhaft gegenüber den hydraulischen Antrieben dargestellt (Seite 231 Absatz "Blattverstellantrieb"; Seite 237, 4. Absatz bis Seite 238, 1. Absatz). Dies betrifft aber nur die typischen Konstruktionsmerkmale sowie die Regelbarkeit des jeweiligen Antriebs, nicht dagegen das grundsätzliche Problem des Größen- und Gewichtszuwachses der Blattverstelleinrichtungen bei steigender Anlagengröße. Dieses Problem tritt vielmehr bei hydraulischen und elektromotorischen Antrieben gleichermaßen auf, so dass für den Fachmann kein Anlass bestand, die eine oder die andere Antriebsart bei seiner Suche im Stand der Technik nach Lösungsansätzen für das hier in Rede stehende Grundsatzproblem auszuschließen.

45

3.1 Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag

46

Zur Erleichterung von Bezugnahmen ist Patentanspruch 1 nachstehend in Form einer Merkmalsgliederung wiedergegeben:

47

1/H0 Windenergieanlage mit einem Rotor ,

48

2 /H0 die Windenergieanlage weist wenigstens ein Rotorblatt auf,

49

3 /H0 die Windenergieanlage weist eine Verstelleinrichtung zur Einstellung des Pitchwinkels für das Rotorblatt auf,

50

3.1 /H0 die Verstelleinrichtung ist elektromotorischer Art,

51

- Oberbegriff -

52

4 /H0 die Verstelleinrichtung weist wenigstens zwei Antriebe (12) auf,

53

4.1 /H0 die Antriebe sind elektromotorischer Art, nämlich Elektromotoren,

54

5 /H0 die Antriebe leiten die zum Verstellen des Rotorblatts erforderliche Kraft an mehreren Stellen des Rotorblatts ein,

55

6 /H0 die Antriebe leiten die zum Verstellen des Rotorblatts erforderliche Kraft gleichzeitig ein.

56

- Kennzeichen -

57

Aus der US 4 348 155 ist ein System zur Regelung des Einstellwinkels der Rotorblätter einer Windenergieanlage bekannt (Spalte 1, Zeilen 16 bis 18). Das System ist geeignet für Windenergieanlagen mit jedweder (realistischen) Anzahl der Rotorblätter (Spalte 3, Zeilen 41 bis 45). Das Blattverstellsystem nach der US 4 348 155 ist deshalb geeignet für eine Windenergieanlage mit einem Rotor und mindestens einem Rotorblatt (→ Merkmale 1/H0, 2/H0).

58
Abbildung

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59

Diese Windenergieanlage weist weiter eine Verstelleinrichtung zur Einstellung des Pitchwinkels der Rotorblätter 10, 15 auf, die je Rotorblatt mehrere Stellantriebe und insbesondere auch zwei Stellantriebe in Gestalt von Hydraulikzylindern 80 enthalten kann (Spalte 2, Zeilen 57 bis 64; vgl. hier wiedergegebene Figur 1; → Merkmale 3/H0, 4/H0).

60

Die jeweils zwei auf ein Rotorblatt wirkenden Hydraulikzylinder 80 sind an diametral gegenüberliegenden Stellen 100 der Blattwurzel 20, 25 des Rotorblattes 10, 15 angelenkt und leiten demzufolge die Verstellkraft an unterschiedlichen Stellen des Rotorblatts ein. Jedes das Rotorblatt beaufschlagende Paar der Hydraulikzylinder ist dabei über ein Paar mechanisch gekoppelter Ventile 105/110, 115/120 angesteuert, wobei die mechanische Kopplung (Verbindungsstange 225, 230) gemeinsame Schaltbewegungen der das jeweilige Zylinderpaar ansteuernden Ventile erzwingt derart, dass die beiden Zylinder zwar gegensinnig, jedoch stets gemeinsam mit der druckführenden Leitung und der Dränageleitung verbunden werden (Spalte 5, Zeilen 4 bis 13). Auf diese Weise wird die Verstellkraft auch von beiden Zylindern gleichzeitig eingeleitet. Angesichts dieser Ausgestaltung ist für den maschinenbaulich ausgebildeten Fachmann zudem klar, dass die beiden Stellantriebe im regulären Betrieb jeweils mit nur einem Bruchteil der beim Verstellen des Rotorblatts auftretenden Kraft wirksam sind derart, dass ihre Stellkräfte erst in der Summe diese Verstellkraft bilden. Denn eine höhere Kraft als die, die die Verstellbewegung herbeiführt, kann bei der Verstellung nicht auftreten. Solches ergibt sich zwingend aus dem Grundsatz der Mechanik "actio = reactio", dessen Kenntnis unbedingt zum "kleinen Einmal-Eins" des oben definierten Fachmanns gehört. Die beiden Stellzylinder der vorbekannten Windenergieanlage leiten somit gleichzeitig an zwei Stellen des Rotorblatts die "zum Verstellen erforderliche Kraft" ein (→ Merkmale 5/H0, 6/H0).

61

Bei alledem offenbart die US 4 348 155 eine Windenergieanlage, die bis auf die Gestaltung der Verstelleinrichtung als elektromotorische Einrichtung (Merkmale 3.1/H0, 4.1/H0) alle Merkmale der mit geltendem Patentanspruch 1 beanspruchten Anlage aufweist. Der Fachmann sieht in dieser Ausgestaltung indes das grundsätzliche Lösungsprinzip für das o. g. Problem des Größen- und Gewichtszuwachses der Stelleinrichtungen bei zunehmender Anlagengröße, nämlich die Mehrfach-Anordnung kleinerer (schwächerer) Antriebe anstelle eines einzigen, entsprechend größeren (stärkeren) Antriebs.

62

Von diesem Prinzip ausgehend übersteigt es nicht eine für den Fachmann naheliegende Maßnahme, die - gemäß seinem Fachwissen ("Fachliteratur" Seite 231 Absatz "Blattverstellantrieb"; Seite 237, 4. Absatz bis Seite 238, 1. Absatz) - gegenüber hydraulischen Antrieben vorteilhaften elektromotorischen Antriebe auch bei einer Windkraftanlage mit Mehrfachanordnung der Antriebe nach Art der US 4 348 155 zur Anwendung zu bringen. Denn mit diesem Fachwissen hatte der Fachmann Anlass und Anregung zugleich, bei der vorbekannten Anlage anstelle hydraulisch betätigter Stelleinrichtungen solche mit elektromotorischem Antrieb zu verwenden.

63

Durch Elektromotoren zu ersetzen waren dabei die hydraulischen Stellzylinder 80 der vorbekannten Stelleinrichtung. Denn nicht - wie der Anmelder meint - die den Druck der Hydraulikflüssigkeit erzeugende Pumpe 50 des vorbekannten Stellsystems ist hier als Stellantrieb anzusehen, sondern die jeweiligen Stellzylinder 80, die über den hydrostatischen Druck als Antriebsenergie von dieser Pumpe 50 versorgt werden. Die Pumpe 50 wirkt dabei - im Gegensatz zur Auffassung des Anmelders - lediglich als Erzeuger der Antriebsenergie für die Stellmotoren (Hydraulikzylinder 80) und findet bei einem elektromotorischen Antrieb ihre Entsprechung im Generator bzw. Netz.

64

In mehr als diesem rein prinziphaften Unterschied im Antriebskonzept unterscheidet sich die Windenergieanlage nach dem geltenden Patentanspruch 1 nicht von der aus der US 4 348 155 bekannten Windenergieanlage. Der bloße Austausch des einen Antriebsprinzips (hydraulisch) gegen ein als vorteilhaft angepriesenes anderes Antriebsprinzip (elektromotorisch) nötigt indes dem Fachmann nach Überzeugung des Senats eine erfinderische Tätigkeit nicht ab.

65

3.2 Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1

66

Die Windenergieanlage nach Hilfsantrag 1 unterscheidet sich im Merkmal 2 und der obenstehenden Merkmalsgliederung von der Windenergieanlage nach Hauptantrag:

67

2/H1 die Windenergieanlage weist wenigstens zwei Rotorblätter auf, wobei mindestens ein Rotorblatt asynchron zu dem oder den anderen Rotorblättern verstellbar ist.

68

3/H1 die Windenergieanlage weist eine Verstelleinrichtung zur Einstellung des Pitchwinkels für jedes Rotorblatt auf.

69

Die übrige Ausgestaltung dieser Windenergieanlage stimmt mit der nach dem Hauptantrag überein (dessen Merkmale 1/H0 und 3.1/H0 bis 6/H0). Es wird auf die diesbezüglichen vorstehenden Ausführungen verwiesen, die hier gleichermaßen gelten.

70

Die Ausrüstung der Windenergieanlage mit mindestens zwei Rotorblättern 10, 15 geht schon aus den Fig. 1 und 2 der US 4 348 155 unmittelbar und eindeutig hervor. Darüber hinaus ist ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das vorbekannte Verstellsystem für jedwede Anzahl von Rotorblättern geeignet ist (Spalte 3, Zeilen 38 bis 45). Dieses versteht der Fachmann selbstverständlich als jede für Windenergieanlagen realistische Blattanzahl, wozu unbestreitbar auch mindestens zwei Blätter gehören.

71

Die in dieser Anzahl bei der vorbekannten Anlage vorgesehenen Rotorblätter sind jeweils mit einer Verstelleinrichtung zur Einstellung des Pitchwinkels versehen (30/35, 40/45; → Merkmal 3/H1) und können darüber hinaus auch voneinander unabhängig in ihrem Einstellwinkel verstellt werden (Spalte 1, Zeile 66 bis Spalte 2, Zeile 4; Spalte 2, Zeilen 45 bis 49; Spalte 8, Zeilen 44 bis 46; Spalte 12, Zeilen 21 bis 27). Dabei versteht der Fachmann unter der so bezeichneten Unabhängigkeit nichts anderes, als dass die Verstellbarkeit des einen Rotorblattes ohne Beeinflussung bzw. Berücksichtigung des Einstellwinkels eines anderen Rotorblattes vorgenommen werden kann. Dies eröffnet ohne Weiteres erkennbar die Möglichkeit einer asynchronen Verstellung. Die asynchrone Verstellbarkeit der Rotorblätter einer Windenergieanlage mit mindestens zwei Rotorblättern geht damit für den Fachmann ebenfalls aus der US 4 348 155 hervor (→ Merkmal 2/H1).

72

Die Windenergieanlage nach diesem Hilfsantrag geht somit lediglich wie die nach dem Hauptantrag über die vorbekannte Windenergieanlage hinaus, nämlich in der Verwendung einer Verstelleinrichtung elektromotorischer Art. Dieser Unterschied vermag jedoch, wie vorstehend zum Hauptantrag dargelegt, eine erfinderische Tätigkeit nicht zu begründen.

73

3.3 Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2

74

Die Windenergieanlage nach Hilfsantrag 2 unterscheidet sich in Merkmal 4 der obenstehenden Merkmalsgliederung sowie durch ein zusätzliches Merkmal 7 von der Windenergieanlage nach Hilfsantrag 1:

75

4 /H2 die Verstelleinrichtung weist drei Antriebe (12) auf,

76

7 /H2 die Antriebe (12) sind so ausgelegt, dass auch die Verstellfunktion der Rotorblätter aufrechterhalten bleibt, wenn einer der drei Antriebe (12) ausfällt.

77

Zur Merkmalskombination nach den Merkmalen 1 bis 3.1, 4.1 sowie 5 und 6, die mit dem Hilfsantrag 1 übereinstimmt, wird auf die diesbezüglichen Ausführungen verwiesen, die hier gleichermaßen gelten.

78

Die Anzahl der Stellantriebe ist in der US 4 348 155 nicht festgelegt. Darauf ist ausdrücklich hingewiesen, indem von einer Mehrzahl von Stellantrieben die Rede ist. In einer bevorzugten Ausgestaltung der vorbekannten Windenergieanlage kann diese Mehrzahl "mindestens zwei" bedeuten (Spalte 2, Zeilen 57 bis 64). Dass "mindestens zwei" die Anzahl "drei" einbezieht, ist dabei für den Fachmann selbstverständlich. Denn die Notwendigkeit eines Übergehens der Anzahl "drei" ist angesichts der ansonsten beschriebenen Ausgestaltung des Stellsystems nicht vorhanden. Die Bedeutung von "mindestens zwei" als z. B. auch "drei" liest der Fachmann somit in den Angaben der US 4 348 155 unmittelbar mit (→ Merkmal 4/H2).

79

Darüber hinaus offenbart diese Druckschrift auch die Aufrechterhaltung der Verstellfunktion bei Ausfall eines der Stellantriebe. Denn in einem solchen Fall übernimmt der eine von zwei Stellzylindern die Stellfunktion allein (Spalte 2, Zeilen 61 bis 64). Dabei ist mehrfach darauf hingewiesen, dass diese Redundanz die fortgesetzte Einstellwinkelverstellung ("continued blade pitch adjustment") und die Einnahme der Segelstellung gewährleisten soll (Spalte 7, Zeilen 11 bis 16; Spalte 9, Zeilen 18 bis 24). Zudem ist mit Anspruch 1 dieser Druckschrift ausdrücklich beansprucht, dass die Stellzylinder wahlweise druckbeaufschlagt werden können sowohl zur Einstellwinkelverstellung als auch zum Anfahren der Segelstellung (Spalte 12, Zeilen 9 bis 12, insbesondere "in both pitch adjusting and feathering modes of operation"). Demnach wird bei diesem vorbekannten Stellsystem eindeutig unterschieden zwischen den beiden Betriebsmodi "Einstellwinkel einstellen" und "Segelstellung anfahren" (→ Merkmal 7/H2).

80

Dies lässt sich mit der Annahme des Anmelders, die Redundanz sei bei dieser vorbekannten Windenergieanlage nur zur Einnahme der Segelstellung im Falle einer Notabschaltung vorgesehen, nicht in Einklang bringen.

81

Bei dieser Sachlage geht die mit diesem Hilfsantrag beanspruchte Windenergieanlage über die vorbekannte Windenergieanlage nach der US 4 348 155 ebenfalls nicht weiter hinaus als die Anlage nach dem Hauptantrag. Damit ist - wie vorstehend ausgeführt - eine erfinderische Tätigkeit nicht begründbar.

82

3.4 Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3

83

Die Windenergieanlage nach Hilfsantrag 3 unterscheidet sich in Merkmal 3 von der der Windenergieanlage nach Hilfsantrag 2 und weist zusätzlich noch ein weiteres Merkmal auf:

84

3/H3 die Windenergieanlage weist eine Verstelleinrichtung zur Einstellung des Pitchwinkels für das Rotorblatt auf,

85

6.1/H3 jeder der drei Antriebe bringt nur ein Drittel der zum Verstellen des Rotorblatts erforderlichen Kraft auf.

86

Zur mit derjenigen nach Hilfsantrag 2 übereinstimmenden Ausgestaltung nach den Merkmalen 1, 2, 3.1 bis 6 bis 7 wird auf die diesbezüglichen vorstehenden Ausführungen verwiesen. Demnach ist eine erfinderische Tätigkeit durch diese Ausgestaltung nicht begründet.

87

Eine Verstelleinrichtung zur Einstellung des Pitchwinkels für das Rotorblatt einer Windenergieanlage mit mehreren Rotorblättern ist aus der US 4 348 155 unmittelbar bekannt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die vorstehenden diesbezüglichen Ausführungen zu Hauptantrag und Hilfsantrag 1 verwiesen (→ Merkmal 3/H3).

88

Die Kraftaufteilung im Sinne des Merkmals 6.1/H3 versteht der Fachmann dahin, dass die erforderliche Verstellkraft nur mit einer bei üblichen konstruktiven Toleranzen sowie maschinen- und betriebstechnisch unvermeidbaren Abweichungen vom Nennzustand erreichbaren Genauigkeit aufgeteilt ist. Die Antriebe bringen somit - für den Fachmann gar nicht anders vorstellbar - nicht gleichzeitig jeder exakt ein Drittel der Verstellkraft, sondern im Rahmen dieser unvermeidbaren Abweichungen nur angenähert ein Drittel der Verstellkraft auf. Das von den Einsprechenden geltend gemachte Verständnis des Anspruchswortlauts dahin, dass gemäß diesem Merkmal die Stellantriebe jeweils zur gleichen Zeit exakt ein Drittel der Verstellkraft aufbringen müssten, hält der Senat für nicht zutreffend. Denn der Fachmann liest in eine Formulierung nicht einen technischen Sachverhalt hinein, der nach seinem festen Wissen gar nicht ausführbar ist. Insofern erscheint diese Argumentation der Einsprechenden als in sich selbst widersprüchlich und dem Senat das Vorbringen dieser Argumentation als solches im Hinblick auf eine sachgerechte Diskussion und Beurteilung der technischen Sachverhalte auch nicht zielführend.

89

Davon abgesehen aber ist bei der Verwendung von Elektromotoren als Stellantriebe eine solche Kraftaufteilung zu "gleichen Anteilen" die nächstliegende Möglichkeit der Realisierung. Denn der Fachmann wird schon allein aus Standardisierungsgründen wo immer möglich baugleiche Bauteile bzw. Aggregate verwenden. Vorliegend wäre es daher geradezu kontraproduktiv, für die drei Stellantriebe unterschiedliche Elektromotoren zu verwenden oder gleiche Motoren unterschiedlich anzusteuern. Wenn demnach die Verwendung von Elektromotoren anstelle von Hydraulikzylindern für den Fachmann naheliegt - was gemäß vorstehenden Ausführungen der Fall ist -, dann folgt daraus in naheliegender Weise die Baugleichheit der Motoren und damit die Kraftaufteilung zu "gleichen Teilen" in der hier zusätzlich beanspruchten Art (→ Merkmal 6.1/H3).

90

Bei der ansonsten mit der nach Hilfsantrag 2 übereinstimmenden, nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhenden Ausgestaltung vermag demnach dieses zusätzliche Merkmal dem Anspruchsgegenstand eine erfinderische Bedeutung ebenfalls nicht zu verleihen.

91

3.5 Die auf die Patentansprüche 1 nach Hauptantrag und Hilfsanträgen 1 bis 3 folgenden jeweiligen Unteransprüche teilen das Schicksal des zugehörigen Patentanspruchs 1, da über einen Antrag immer nur in seiner Gesamtheit entschieden werden kann (BGH GRUR 1997, 120 ff., "Elektrisches Speicherheizgerät").

III.

92

Der Antrag der Einsprechenden, dem Patentinhaber die Kosten aufzuerlegen, die den Einsprechenden für die Wahrnehmung der zweiten mündlichen Verhandlung entstanden sind, wird zurückgewiesen.

93

Im Einspruchsverfahren ist vom Grundsatz der eigenen Kostentragung auszugehen, so dass eine Kostenauferlegung gemäß § 62 PatG nur in Betracht kommt, wenn besondere Umstände dies billig erscheinen lassen, insbesondere wenn das Verhalten eines Beteiligten gegen die allgemeine prozessuale Sorgfaltspflicht verstößt und den anderen Beteiligten dadurch ohne Weiteres vermeidbare Kosten entstanden sind. Durch die Vertagung der mündlichen Verhandlung mit dem Ziel, der Einsprechenden antragsgemäß Gelegenheit zur weiteren Recherche zu geben, sind der Einsprechenden zwar Kosten für die Wahrnehmung des zweiten Verhandlungstermins entstanden. Diese sind auch durch die neuen Anträge im ersten Verhandlungstermin mitverursacht worden. Eine Verletzung der allgemeinen Sorgfaltspflicht kann dem Patentinhaber im vorliegenden Fall jedoch nicht vorgeworfen werden.

94

Das prozesstaktisch nicht ungewöhnliche Vorgehen des Patentinhabers, erst im Laufe der mündlichen Verhandlung mit neuen Patentansprüchen geänderte Haupt- und Hilfsanträge zu stellen, mit denen er sein Patent eingeschränkt verteidigen will, erscheint grundsätzlich selbst dann nicht bedenklich, wenn diese Anträge schon vorbereitet waren.

95

Denn dem Patentinhaber steht es prinzipiell frei, auf Grund einer Erörterung der Sache in der mündlichen Verhandlung neue Anträge zu stellen, auch vorsichtshalber nur hilfsweise die Patentansprüche einzuschränken. Dabei kann er auch Merkmale aus der Beschreibung aufnehmen.

96

Die prozessuale Sorgfaltspflicht hat dem Patentinhaber somit nicht ersichtlich geboten, die vorbereiteten neuen Anträge vor der mündlichen Verhandlung einzureichen, auch wenn der Senat dies begrüßt hätte, denn die Möglichkeit einer intensiveren Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung erweist sich regelmäßig als verfahrensökonomischer, nämlich verfahrensfördernd und verfahrensbeschleunigend.