Entscheidungsdatum: 07.05.2015
In der Patentnichtigkeitssache
…
betreffend das europäische Patent 1 381 792
(DE 502 01 998)
hat der 7. Senat (Juristischer Beschwerdesenat und Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 7. Mai 2015 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Rauch, der Richterin Püschel und der Richter Dipl.-Ing. Küest, Dr.-Ing. Großmann und Dipl.-Ing. Univ. Richter
für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent 1 381 792 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland dadurch teilweise für nichtig erklärt, dass
a) sein Anspruch 1 folgende Fassung erhält:
„1. Energieführungskette zur Führung von Schläuchen, Kabeln oder dergleichen mit einer Anzahl von Kettengliedern, wobei benachbarte Kettenglieder jeweils gelenkig miteinander verbunden sind, wobei die Kettenglieder gegenüberliegende Laschen mit inneren und äußeren Seitenflächen und dazu senkrechten und zur Längsrichtung der Kette im Wesentlichen parallelen Schmalflächen aufweisen, mindestens einige der Kettenglieder mindestens einen die Laschen verbindenden Quersteg aufweisen, die Gelenkverbindung benachbarter Kettenglieder zwischen den Schmalflächen der Laschen angeordnet ist und die Energieführungskette unter Bildung eines Untertrums, eines Umlenkbereichs und eines Obertrums verfahrbar ist,
dadurch gekennzeichnet,
dass die Gelenkverbindung durch in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder (1) elastisch deformierbare lenkelemente (8) gebildet wird, die durch Abwinkelung der benachbarten Kettenglieder (1) bestimmungsgemäß auf Biegung beansprucht werden und als separate Bauteile ausgeführt sind, und dass die Gelenkelemente (8) sich zumindest teilweise zwischen der inneren und äußeren Seitenfläche der Laschen (3) erstrecken.“;
b) die Ansprüche 2 bis 27 in ihrem Wortlaut unverändert bleiben, wobei für deren Rückbezug auf Anspruch 1 dessen geänderte Fassung zu Grunde zu legen ist;
c) die Ansprüche 29 und 30 der erteilten Fassung zu Ansprüchen 28 und 29 werden und sich bei ansonsten unverändertem Wortlaut auf Energieführungsketten nach einem der Ansprüche 1 bis 27 (Anspruch 28) bzw. 1 bis 28 (Anspruch 29) beziehen, wobei für den Rückbezug auf Anspruch 1 dessen geänderte Fassung zu Grunde zu legen ist.
II. Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
III. Von den Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin 3/4, die Beklagte 1/4.
IV. Das Urteil ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Klage richtet sich gegen das europäische Patent 1 381 792, das auf die internationale Anmeldung WO 02/086349 A1 vom 15. April 2002 zurückgeht und in deutscher Sprache u. a. für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland erteilt worden ist. Das Patent, das die Priorität des deutschen Gebrauchsmusters 201 07 003 vom 23. April 2001 in Anspruch nimmt, wird beim Deutschen Patent- und Markenamt unter dem Aktenzeichen 502 01 998.0 geführt. Es ist bezeichnet mit „Energieführungskette“ und umfasst 30 Ansprüche, die alle mit der vorliegenden Klage angegriffen werden.
Patentanspruch 1 hat in der erteilten Fassung folgenden Wortlaut:
„1. Energieführungskette zur Führung von Schläuchen, Kabeln oder dergleichen mit einer Anzahl von Kettengliedern, wobei benachbarte Kettenglieder jeweils gelenkig miteinander verbunden sind, wobei die Kettenglieder gegenüberliegende Laschen mit inneren und äußeren Seitenflächen und dazu senkrechten und zur Längsrichtung der Kette im Wesentlichen parallelen Schmalflächen aufweisen, mindestens einige der Kettenglieder mindestens einen die Laschen verbindenden Quersteg aufweisen, die Gelenkverbindung benachbarter Kettenglieder zwischen den Schmalflächen der Laschen angeordnet ist und die Energieführungskette unter Bildung eines Untertrums, eines Umlenkbereichs und eines Obertrums verfahrbar ist,
dadurch gekennzeichnet,
dass die Gelenkverbindung durch in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder (1) deformierbare Gelenkelemente (8) gebildet wird, die als separate Bauteile ausgeführt sind, und dass die Gelenkelemente (8) sich zumindest teilweise zwischen der inneren und äußeren Seitenfläche der Laschen (3) erstrecken.“
Wegen des Wortlauts der übrigen, auf Anspruch 1 unmittelbar oder mittelbar rückbezogenen Ansprüche wird auf die Streitpatentschrift EP 1 381 792 B1 Bezug genommen.
Die Klägerin macht die Nichtigkeitsgründe der mangelnden Patentfähigkeit und der mangelnden Ausführbarkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 2 IntPatÜG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 lit. a und b EPÜ) geltend.
Sie bezieht sich auf folgende Druckschriften aus dem Stand der Technik:
D1 EP 0 789 167 A1
D2 US 5,980,409
D3 DD 249 742 A1
D4 DE 35 22 885 C2
D5 EP 1 093 963 A1
D6 DE 44 24 624 C1
D7 DE 39 24 468 A1
D8 DE 101 16 403 A1
D9 DE 41 05 650 C1
D10 DE 94 09 082 U1
D11 Auszug aus dem Internetarchiv zur Seite www.igus.de vom 19. Oktober 2000
D12 Produktdatenblatt zur Serie E-Band
D13 DE 201 07 003 U1 (beanspruchtes Prioritätsdokument)
D14 EP 1 503 107 B1 (Trennanmeldung zum Klagepatent)
D15 JP 09-324836 A
D16 DE 15 74 367 A
D17 DE 44 28 680 C1
D18 DE 92 03 633 U1
D20 DE 23 10 144 A
D21 DE 296 07 492 U1
D22 DE 297 11 441 U1
D23 EP 0 041 164 A1
D26 EP 1 351 362 A2
D27 DE 26 09 451 A1
D28 EP 0 708 270 B1
D29 GB 762,546
Zudem beruft sich die Klägerin auf die angebliche offenkundige Vorbenutzung einer Energieführungskette „E6“ mit den Merkmalen entsprechend der Prioritätsschrift D13 auf der Hannover Messe am 23. April 2001. Diese Vorbenutzung sei in einem gegen ein anderes Patent gerichteten europäischen Einspruchsverfahren von der hiesigen Beklagten geltend gemacht (gemäß Anlage D24) und von verschiedenen Zeugen bestätigt worden.
Desweiteren habe der Zeuge N… in einem Verfahren vor der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts am 26. Juni 2014 ausgesagt (vgl. Vernehmungsprotokoll Anlage D25), dass es seit vielen Jahren üblich sei, am Tag vor Beginn der Hannover Messe eine Schulung für die Verkäufer am Messestand der Beklagten abzuhalten. Daraus gehe hervor, dass am 22. April 2001 eine entsprechende Schulung stattgefunden habe, auf der alle Einzelheiten der Erfindung mit dem Ziel offenbart worden seien, diese an Dritte, namentlich die Messestandbesucher, weiterzugeben und zu erläutern. Nach der Lebenserfahrung könne hier nicht von einer impliziten Geheimhaltungsvereinbarung ausgegangen werden. Durch die damalige Zeugenaussage sei auch nahe gelegt, dass bei der Schulung auch die vorgestellten Produktproben und Prospekte verfügbar gemacht worden seien.
Für die vollständige Offenbarung der Erfindung am 22. April 2001 bietet die Klägerin Beweis durch Vernehmung der Zeugen N…, P…, B… (alle Prokuristen der Beklagten) und H… (Entwicklungsleiter bei der Beklagten) an.
Die Klägerin meint, dass das Streitpatent die Priorität des Gebrauchsmusters 201 07 003 (D13) zu Unrecht in Anspruch nehme, weil dort lediglich eine Energieführungskette mit einem elastisch deformierbaren Gelenkelement offenbart werde, wohingegen im Hauptanspruch des Streitpatents das Wort „elastisch“ gestrichen sei. Damit umfasse der Schutzanspruch des Streitpatents auch Energieführungsketten, in denen das Gelenkelement zwar deformierbar sei, allerdings nicht auf elastische Weise (z. B. Gewebebänder). Dieser erweiterte Gegenstand gehe aus der Prioritätsanmeldung nicht unmittelbar und eindeutig hervor, weshalb die Priorität unwirksam sei. Bei unwirksamer Priorität gehöre D13 zum Stand der Technik und nehme die Gegenstände der Ansprüche 1, 26, 28, 29 und 30 des Streitpatents neuheitsschädlich vorweg. Dasselbe gelte für die zur Patentfamilie des Streitpatents gehörende europäische Patentschrift D14.
Die Klägerin ist außerdem der Auffassung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber den druckschriftlichen Entgegenhaltungen D8, D10, D26 und D28 und gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung der Energieführungskette „E6“ nicht neu sei. Auch beruhe er - ausgehend von D1, D2, D4, D10 oder D27 - nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
Auch die Unteransprüche enthielten nichts Patentfähiges. Die Merkmale der Ansprüche10 und 11 seien für den Fachmann zudem nicht ausführbar.
Die Klägerin beantragt,
das europäische Patent 1 381 792 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang für nichtig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Klage insgesamt abzuweisen,
hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit sie sich gegen die Patentansprüche in der Fassung der Hilfsanträge 2´, 2bis, 2ter, 2quater, 3, 3bis, 3ter, 4´, 4bis, 4ter, 4quater, 5, 5bis, 5ter, 6´, 7 und 8 richtet, wobei diese Hilfsanträge mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2014 (Bl. 226 ff. d. A., Hilfsanträge 3 und 5), vom 12. März 2015 (Bl. 280 ff. d. A., Hilfsanträge 2´, 2bis, 2ter, 3bis, 3ter, 4´, 4bis, 4ter, 5bis, 5ter, 6´) und vom 17. April 2015 (Bl. 346 ff. d. A., Hilfsanträge 2quater, 4quater, 7 und 8) eingereicht worden sind und in der genannten Reihenfolge gestellt werden.
Anspruch 1 soll in der Fassung der Hilfsanträge folgende Fassung erhalten:
Hilfsantrag 2‘
Der Text des erteilten Anspruchs 1 wird wie folgt ergänzt (Ergänzungen unterstrichen):
„…..dadurch gekennzeichnet, dass die Gelenkverbindung durch in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder (1) elastisch deformierbare Gelenkelemente (8) gebildet wird, die als separate Bauteile ausgeführt sind, und dass die Gelenkelemente (8) sich zumindest teilweise zwischen der inneren und äußeren Seitenfläche der Laschen (3) erstrecken, ausgenommen jede drehelastische Gelenkverbindung, in welcher die Gelenkelemente als dauerelastische, auf Torsion beanspruchte Zapfen ausgebildet sind, die an den miteinander zu verbindenden Laschen drehfest angeordnet sind“.
Hilfsantrag 2bis
Der Text des erteilten Anspruchs 1 wird wie folgt ergänzt (Ergänzungen unterstrichen):
„…..dadurch gekennzeichnet, dass die Gelenkverbindung durch in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder (1) elastisch deformierbare Gelenkelemente (8) gebildet wird, die als separate Bauteile ausgeführt sind, und dass die Gelenkelemente (8) sich zumindest teilweise zwischen der inneren und äußeren Seitenfläche der Laschen (3) erstrecken, ausgenommen jede Gelenkverbindung, in welcher drehelastische Gelenkelemente durch bestimmungsgemäße Abwinkelung der benachbarten Kettenglieder auf Torsion beansprucht werden“.
Hilfsantrag 2ter
Der Text des erteilten Anspruchs 1 wird wie folgt ergänzt (Ergänzungen unterstrichen):
„…..dadurch gekennzeichnet, dass die Gelenkverbindung durch in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder (1) elastisch deformierbare Gelenkelemente (8) gebildet wird, die als separate Bauteile ausgeführt sind, und dass die Gelenkelemente (8) sich zumindest teilweise zwischen der inneren und äußeren Seitenfläche der Laschen (3) erstrecken, ausgenommen jede Gelenkverbindung, in welcher drehelastische Gelenkelemente durch Abwinkelung der benachbarten Kettenglieder auf Torsion beansprucht werden“.
Hilfsantrag 2quater
Der Text des erteilten Anspruchs 1 wird wie folgt ergänzt (Ergänzungen unterstrichen):
„…..dadurch gekennzeichnet, dass die Gelenkverbindung durch in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder (1) elastisch deformierbare Gelenkelemente (8) gebildet wird, die als separate Bauteile ausgeführt sind, und dass die Gelenkelemente (8) sich zumindest teilweise zwischen der inneren und äußeren Seitenfläche der Laschen (3) erstrecken, ausgenommen Gelenkelemente, die auf Torsion beansprucht werden“.
Hilfsantrag 3
Der Text des erteilten Anspruchs 1 wird wie folgt ergänzt (Einfügung unterstrichen):
„…..dadurch gekennzeichnet, dass die Gelenkverbindung durch in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder (1) und bei jeder bestimmungsgemäßen Biegebeanspruchung elastisch deformierbare Gelenkelemente (8) gebildet wird,….“
Hilfsantrag 3bis
Der Text des erteilten Anspruchs 1 wird wie folgt ergänzt (Einfügungen unterstrichen):
„…..dadurch gekennzeichnet, dass die Gelenkverbindung durch in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder (1) elastisch deformierbare Gelenkelemente (8) gebildet wird, die durch Abwinkelung der benachbarten Kettenglieder (1) bestimmungsgemäß auf Biegung beansprucht werden und als separate Bauteile ausgeführt sind, und dass die Gelenkelemente (8) sich zumindest teilweise zwischen der inneren und äußeren Seitenfläche der Laschen (3) erstrecken.“
Bezüglich der Unteransprüche, die sich an den geänderten Anspruch 1 jeweils anschließen sollen, sowie bezüglich der weiteren Hilfsanträge wird auf die Gerichtsakte verwiesen. Die in Hilfsantrag 3bis enthaltenen Ansprüche sind auch dem Urteilstenor zu entnehmen.
Die Beklagte ist der Meinung, dass das Streitpatent die Priorität des Gebrauchsmusters 201 07 003 (D13) wirksam in Anspruch nehme. Der Fachmann könne dieser Schrift mehrere Ausführungsvarianten der Gelenkelemente entnehmen, nicht nur solche, die elastisch deformierbar seien. In der Figurenbeschreibung der D13, Seite 14, Zeilen 34 bis 37, werde auch ein Gelenkelement beschrieben, das „im Wesentlichen keine Rückstellkräfte“ ausübe und hierzu z. B. einen „filmscharnierartigen Gelenkbereich“ umfasse. Zu verweisen sei zudem auf Seite 3, Zeilen 3 bis 11 der Prioritätsschrift, wonach die Gelenkelemente aus einem Material mit hoher Dauerbiegefestigkeit, Kerbzähigkeit und/oder geeigneter Elastizität bestehen könnten. Demnach sei es für den Fachmann erkennbar unwesentlich, ob die Gelenkelemente elastisch deformierbar seien oder nicht. Auch der internationale vorläufige Prüfungsbericht zur Anmeldung des Streitpatents (Anlage F) sei davon ausgegangen, dass die elastische Deformierbarkeit lediglich eine bevorzugte Ausführungsform des Gegenstands des Anspruchs 1 sei.
Abgesehen davon sei das Prioritätsdokument als nachveröffentlichtes Gebrauchsmuster kein älteres Recht und könne dem Streitpatent - selbst im Fall der Unwirksamkeit der Priorität - nicht entgegenstehen.
Außerdem hält die Beklagte die Gegenstände sämtlicher Patentansprüche für neu, erfinderisch und ausführbar.
Sie bestreitet nicht, dass eine Energieführungskette der Baureihe „System E6“ auf der Hannover Messe vom 23. bis 28. April 2001 offenkundig vorbenutzt worden sei, jedoch habe vor dem 23. April 2001 keine Schulung des Messepersonals stattgefunden. Die Aussage des Zeugen N… vor der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts, wonach es seit vielen Jahren üblich gewesen sei, am Tag vor Beginn der Hannover Messe die Verkäufer im Hotel zu einer Schulung zu versammeln, sei eher beiläufig gewesen und habe sich nicht auf das Jahr 2001 bezogen. Vor 2004 habe die Beklagte keine Seminarräume für solche Schulungen im Hotel gebucht. Zudem habe es sich bei solchen Schulungen stets um interne Veranstaltungen gehandelt, bei denen ausschließlich Mitarbeiter der Beklagten beteiligt gewesen seien. Die Schulungen seien für außenstehende Gäste, insbesondere Kunden, nie zugänglich gewesen, da sie u. a. marketingtechnische Gesichtspunkte zum Umgang mit Messebesuchern zum Gegenstand gehabt hätten.
Davon abgesehen hätte nach Meinung der Beklagten ein Fachkundiger ohne Demonstration eines Produktmusters, allein durch mündliche oder bildliche Wiedergabe (etwa in Gestalt eines auf der Messe verteilten Prospekts gemäß Anlage G der Beklagten), keine zuverlässige und ausreichende Kenntnis vom Erfindungsgegenstand erlangen können. Entscheidend sei es auch in dem Verfahren T 697/10 vor der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts darauf angekommen, ob Messebesucher Produktmuster zum System E6 näher untersuchen konnten. Solche Produktmuster von Neuentwicklungen seien aber nur in geringer Stückzahl vorhanden gewesen und Vertriebsmitarbeitern nicht im Rahmen von vorbereitenden Messe-Schulungen überlassen worden.
Zum Beweis dafür, dass es sich bei den genannten Schulungen um interne Veranstaltungen gehandelt hatte, wird von der Beklagten die Vernehmung der Zeugen Harald Nehring und O… (Vertriebsmitarbeiter der Beklagten) ange- boten.
Der Senat hat den Parteien mit Schriftsatz vom 22. Januar 2015 einen frühen gerichtlichen Hinweis gemäß § 83 Abs. 1 PatG zukommen lassen.
Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung sowie auf den gesamten Akteninhalt, insbesondere auf die Schriftsätze der Parteien mit sämtlichen Anlagen, Bezug genommen.
Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet. Der geltend gemachte Nichtigkeitsgrund mangelnder Patentfähigkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a EPÜ i. V. m. Art. 54, 56 EPÜ) führt zur Nichtigerklärung des Streitpatents mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, soweit dieses über die Fassung gemäß dem Hilfsantrag 3bis der Beklagten hinausgeht.
I.
1. Die vorliegende Erfindung geht nach der Beschreibung in der Streitpatentschrift von bekannten Energieführungsketten aus, bei denen zur Herstellung der Gelenkverbindung die benachbarten Laschen seitliche Überlappungsbereiche aufweisen, die mit Gelenkbolzen und korrespondierenden Ausnehmungen versehen sind. Die Gelenkverbindung sei auf halber Höhe der Laschen angeordnet. Eine derartige Energieführungskette sei beispielsweise aus der europäischen Patentschrift EP 0 803 032 B1 bekannt. Obwohl sich derartige Energieführungsketten prinzipiell sehr bewährt hätten, wiesen sie den Nachteil auf, dass die Gelenkverbindungen aus Gelenkzapfen und korrespondierender Aufnahme auf Grund von Reibungskräften einem Verschleiß unterlägen. Dieser Verschleiß führe zu einem gewissen Reparatur- bzw. Wartungsbedarf an der Energieführungskette und sei des Weiteren bei bestimmten Anwendungsgebieten wie beispielsweise im Bereich der Lebensmittelherstellung oder der Produktion von Einrichtungen unter Reinraumbedingungen wie beispielsweise von Halbleiterprodukten unerwünscht (Absatz 2 der Streitpatentschrift).
Des Weiteren seien beispielsweise aus der europäischen Offenlegungsschrift EP 0 789 167 A1 (= Anlage D1) Leitungsführungseinrichtungen bekannt, bei welchen die einzelnen, gegeneinander verschwenkbaren Kettenglieder durch ein langgestrecktes flexibles Band miteinander gelenkig verbunden seien, so dass die Verfahrung der Leitungsführungseinrichtung praktisch abrieblos erfolge. Da das langgestreckte Band an den die Laschen eines Kettengliedes verbindenden Querstegen befestigt sei, seien die Gelenkverbindungen der Kettenglieder im Bereich der unteren Enden der Laschen angeordnet. Damit sei die neutrale Faser der Leitungsführungseinrichtung, die bei der Umlenkung der Leitungsführungseinrichtung im Gegensatz zu den in der Höhe von den Gelenkverbindungen beabstandeten Bereichen keine Längenänderung erfahre, ebenfalls am unteren Ende der Kettenlaschen angeordnet. Dies sei jedoch für verschiedene Anwendungsfälle nachteilig (Absätze 3 und 4 der Streitpatentschrift).
Das US-Patent 5,980,409 (= Anlage D2) beschreibe eine Energieführungskette, bei welcher die Kettenglieder durch korrespondierende, sich senkrecht zur Kettenlängsrichtung erstreckende Zapfen und Gelenkausnehmungen verbunden seien (Absatz 5 der Streitpatentschrift).
Der Erfindung liege somit die Aufgabe zugrunde, eine Energieführungskette mit zwischen den Schmalflächen der Kettenlaschen angeordneten Gelenkverbindungen zu schaffen, die verschleißarm und abrieblos verfahrbar sowie einfach und kostengünstig herstellbar sei (Absatz 6 der Streitpatentschrift).
2. Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Streitpatent in Anspruch 1 ein Erzeugnis vor, dessen Merkmale gemäß einem Vorschlag der Klägerin wie folgt gegliedert werden können:
1. Energieführungskette zur Führung von Schläuchen, Kabeln oder dergleichen
1.1 Die Energieführungskette umfasst eine Anzahl von Kettengliedern.
1.2 Benachbarte Kettenglieder sind jeweils gelenkig miteinander verbunden.
1.3 Die Kettenglieder weisen gegenüberliegende Laschen auf.
1.3.1 Die Laschen haben innere und äußere Seitenflächen und dazu senkrechte und zur Längsrichtung der Kette im Wesentlichen parallele Schmalflächen.
1.4 Mindestens einige der Kettenglieder weisen mindestens einen Quersteg auf.
1.4.1 Der Quersteg verbindet die Laschen.
1.5 Die Gelenkverbindung benachbarter Kettenglieder ist zwischen den Schmalflächen der Laschen angeordnet.
1.6 Die Energieführungskette ist unter Bildung eines Untertrums, eines Umlenkbereichs und eines Obertrums verfahrbar.
1.7 Die Gelenkverbindung wird durch Gelenkelemente gebildet.
1.7.1 Die Gelenkelemente sind in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder deformierbar.
1.7.2 Die Gelenkelemente sind als separate Bauteile ausgeführt.
1.7.3 Die Gelenkelemente erstrecken sich zumindest teilweise zwischen der inneren und äußeren Seitenfläche der Laschen.
3. Zuständiger Durchschnittsfachmann, auf dessen Wissen und Können es insbesondere für die Auslegung der Merkmale des Streitpatents und für die Interpretation des Standes der Technik ankommt, ist im vorliegenden Fall ein Fachhochschul-Ingenieur der Fachrichtung Maschinenbau mit Erfahrung auf dem Gebiet der Entwicklung und Konstruktion von Energieführungsketten für verschiedene Anwendungsgebiete.
4. Dieser Fachmann geht bei der Auslegung der Merkmale des Anspruchs 1 von folgendem Verständnis aus:
a) Merkmal 1.2 verlangt, dass jedes Kettenglied mit den beiden ihm benachbarten Gliedern (bzw. – wenn es sich um ein Endglied handelt – mit dem einen benachbarten Glied) verbunden ist. Da die einzelnen Kettenglieder gegenüberliegende Laschen aufweisen (Merkmal 1.3), müssen daher vier Gelenkverbindungen pro Kettenglied (bzw. zwei Verbindungen bei Endgliedern) vorhanden sein. Die Verbindung muss gelenkig sein, d. h. sie muss eine eindeutig definierte Beweglichkeit mit vorgegebenen Freiheitsgraden aufweisen. Dagegen ist es – entgegen der von der Klägerin vertretenen Meinung – nicht erforderlich, dass das Gelenk eine bestimmte Schwenkachse aufweist. Z. B. kann es als Blattfeder ausgestaltet sein (Streitpatentschrift Spalte 12, Zeile 33) und somit eine Verbindung mit einem Bewegungsablauf herstellen, der nicht durch eine Schwenkachse definiert ist, sondern sich aus der Biegelinie der Blattfeder ergibt.
b) Merkmal 1.3.1 definiert die „Schmalflächen“ der Laschen einschränkend als diejenigen Flächen, die sich senkrecht zu den inneren und äußeren Seitenflächen und im Wesentlichen parallel zur Längsrichtung der Kette befinden. Damit sind nur die sich in Längsrichtung erstreckenden Stirnflächen an der Ober- und Unterseite der Laschen gemeint.
c) Die Gelenkverbindungen benachbarter Kettenglieder sind gemäß Merkmal 1.5 „zwischen den Schmalseiten“ angeordnet, d. h. weder an oder oberhalb der Oberseite noch an oder unterhalb der Unterseite der Laschen, wobei es nicht darauf ankommt, dass die Gelenkverbindungen vollständig innerhalb des von den Schmalflächen überdeckten Bereichs zu liegen kommen.
d) Wenn in Merkmal 1.7 davon die Rede ist, dass die Gelenkverbindung durch Gelenkelemente gebildet werde, so ist dem Fachmann klar, dass zur Herstellung einer Verbindung zwischen benachbarten Laschen außer den Gelenkelementen noch weitere Elemente vorhanden sein müssen; z. B. müssen die Gelenkverbindungen so gestaltet sein, dass die Gelenkelemente an den Laschen befestigt werden können. Nach Merkmal 1.7 sind für die Gelenkverbindung aber die Gelenkelemente entscheidend. Die Gelenkelemente müssen für sich genommen geeignet sein, eine Verbindungs- und Gelenkfunktion zwischen den Laschen zu bilden, und alle weiteren Elemente dienen lediglich dazu, dass die Gelenkelemente ihre Funktion ausüben können.
e) Das Merkmal 1.7.1, wonach die Gelenkelemente in Abwinkelungsrichtung deformierbar sind, bringt zum Ausdruck, dass die Gelenkelemente eine Abwinkelung zweier benachbarter Laschen - und damit der ganzen Kette - ermöglichen, wobei die Gelenkelemente in Richtung der Abwinkelung verformt, insbesondere gebogen oder verdreht, werden. Ausschlaggebend für dieses Verständnis ist, dass eine Deformation gleichermaßen durch Biegung oder Torsion (d. h. durch Verdrehen) erfolgen kann. Dementsprechend kann die Formulierung „in Abwinkelungsrichtung“ gleichermaßen als Dreh-, Biege- oder Schwenkrichtung verstanden werden.
f) Unter den inneren und äußeren Seitenfläche der Laschen, zwischen denen sich die Gelenkelemente gemäß Merkmal 1.7.3 zumindest teilweise erstrecken, sind die Seitenflächen des Grundkörpers einer Lasche zu verstehen, in dem die Verbindungselemente befestigt sind. In dem Ausführungsbeispiel gemäß Figur 2 e des Streitpatents handelt es sich dabei um den mittleren Laschenbereich, von dem die Überlappungsbereiche stirnseitig abgehen, vgl. Streitpatentschrift Absatz 50).
II.
Patentanspruch 1 ist in seiner erteilten Fassung nicht bestandsfähig, weil sein Gegenstand gegenüber der deutschen Patentanmeldung 101 16 403 A1 (D8) nicht neu ist. Diese Anmeldung, die am 2. April 2001, d. h. vor dem Prioritätsdatum des Streitpatents, getätigt und am 7. November 2002, d. h. nach dem Anmeldetag des Streitpatents, veröffentlicht worden ist, ist gemäß Art. 139 Abs. 2 EPÜ i. V. m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 PatG als Stand der Technik zu berücksichtigen, wobei es auf die von den Parteien diskutierte Frage, ob die vom Streitpatent in Anspruch genommene Priorität wirksam ist, nicht ankommt.
D8 offenbart eine gattungsgemäße, unstrittig die Merkmale 1.1 bis 1.6 aufweisende, Energieführungskette, die sich durch die Vermeidung von Abrieb in den Gelenkverbindungen auszeichnet und deshalb insbesondere für die Verwendung in Reinräumen geeignet ist (vgl. z. B. Figur 3 i. V. m. Absatz 7). Die Gelenkverbindung wird hierbei durch die Verbindungselemente 5 gebildet, die als separate Bauteile ausgeführt sind und sich zumindest teilweise zwischen der inneren und äußeren Seitenfläche der Laschen erstrecken (Merkmale 1.7, 1.7.2 und 1.7.3, siehe hierzu die Figuren 3 bis 5). Die Gelenkelemente sind laut Beschreibungsabsatz 22 als in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder, d. h. in Schwenkrichtung der Kettenglieder, dauerelastische und durch Torsion verformbare Zapfen ausgebildet, die beim Abwinkeln der Kettenglieder verdreht werden, so dass auch das Merkmal 1.7.1 erfüllt wird (vgl. I.4.e).
III.
In der Fassung der Hilfsanträge 2´ bis 2quater wird Patentanspruch 1 mit Hilfe unterschiedlicher negativer Merkmale weiter eingeschränkt, um dadurch der Neuheitsschädlichkeit durch D8 zu entgehen. Es handelt sich dabei jedoch um unzulässige Änderungen, weil die betreffenden Merkmale aus den ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen (vgl. WO 02/086349 A1) nicht hervorgehen.
Zu Unrecht beruft sich die Beklagte darauf, dass es einer Praxis des Europäischen Patentamts (vgl. Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer vom 8. April 2004 - Metallartige Beschichtungen, G 1/03, und synthetische Antigene, G2/03, Mitt. 2004, 261) folgend möglich sein müsse, den Gegenstand des Streitpatents gegenüber einer älteren, nachveröffentlichten Schrift durch Aufnahme eines sog. Disclaimers abzugrenzen. Zwar mag es Fälle geben, in denen eine Abgrenzung zu dem nachveröffentlichten Stand der Technik nur auf diese Weise herbeigeführt werden kann (vgl. Kraßer, Patentrecht, 6. Aufl., 2009, Seiten 673 ff.). Die Einfügung nicht ursprünglich offenbarter Disclaimer steht aber in Widerspruch zum Verbot der Herbeiführung unzulässiger Erweiterungen und ist daher jedenfalls in den Fällen ausgeschlossen, in denen der gleiche Erfolg zweifelsfrei durch eine positive Definition des Erfindungsgegenstandes mit ursprünglich offenbarten Merkmalen erreicht werden kann (vgl. Große Beschwerdekammer, a. a. O., Mitt. 2004, 264, rechte Spalte, zweiter Absatz; Schulte/Moufang, PatG, 9. Aufl., § 34 Rn. 151 m. w. N.).
Aus diesem Grund müssen die Hilfsanträge 2´ bis 2quater hinter einen nachrangig gestellten Hilfsantrag zurücktreten, sofern dieser den Hauptanspruch 1 durch Aufnahme positiver, ursprünglich offenbarter Merkmale aus der Neuheitsschädlichkeit gegenüber D8 herausführt. Wie nachfolgend unter Abschnitt V. gezeigt, ist dies bei Hilfsantrag 3bis der Fall, weshalb eine Aufrechterhaltung des Streitpatents nach Maßgabe der Hilfsanträge 2´ bis 2quater nicht in Betracht kommt.
IV.
Auch in der Fassung des Hilfsantrags 3 hat der Patentanspruch 1 des Streitpatents keinen Bestand. Mit der Formulierung „in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder und bei jeder bestimmungsgemäßen Biegebeanspruchung elastisch deformierbar“ wird nicht zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht, dass die Gelenkelemente so ausgestaltet sind, dass sie beim Abwinkeln nur auf Biegung beansprucht werden können. Vielmehr erfüllen auch die dauerelastischen, durch Torsion in Schwenkrichtung der Kettenglieder elastisch verformbaren Zapfen von D8 den Anspruchswortlaut, da sie bei einer Zugbeanspruchung der Kettenglieder in Längsrichtung auch einer gewissen Biegebeanspruchung unterliegen. Deshalb steht diese Entgegenhaltung dem Patentanspruch 1 in dieser Fassung ebenfalls neuheitsschädlich entgegen.
V.
In der Fassung des Hilfsantrags 3bis hat Patentanspruch 1 dagegen Bestand:
1. Es handelt sich dabei um eine zulässige Anspruchsfassung, weil die gegenüber der erteilten Fassung des Anspruchs 1 hinzugekommenen Merkmale in den Anmeldungsunterlagen des Streitpatents (vgl. WO 02/086349 A1) offenbart sind. So wird das Merkmal, wonach die Gelenkelemente elastisch deformierbar sein sollen, bereits durch den ursprünglich eingereichten Anspruch 1 gedeckt und ist im Übrigen auch im erteilten Patentanspruch 28 enthalten. Das weitere neu aufgenommene Merkmal, demgemäß „die Gelenkelemente bei einer Abwinkelung benachbarter Kettenglieder bestimmungsgemäß auf Biegung beansprucht werden“, lässt sich beispielsweise aus der Textpassage auf Spalte 17, Zeilen 17 bis 22 der WO-Schrift herleiten. Dort wird nämlich gelehrt, dass die Gelenkelemente bei einer Abwinkelung benachbarter Kettenlaschen eine „Abbiegung“ erfahren (ebenso Streitpatentschrift Spalte 12, Zeilen 34 bis 39). Dieses Merkmal ergibt sich aber insbesondere auch aus dem Zusammenhang, dass die Gelenkelemente anspruchsgemäß in Abwinkelungsrichtung elastisch deformiert werden, wobei gemäß Seite 3, Zeilen 13 bis 18 der WO-Schrift (entsprechend Spalte 2, Zeilen 32 bis 37, der Streitpatentschrift) die elastischen Eigenschaften des Gelenkelementes so eingestellt werden, dass das Gelenkelement bei jeder bestimmungsgemäßen Biegebeanspruchung, die folglich aus der vorgenannten Abwinkelung resultiert, im elastischen Bereich bleibt. Diese Merkmalskombination ist somit auch im gemeinsamen Kontext zu sehen, demnach die bestimmungsgemäße Biegung nicht in irgendeine Richtung, sondern in Richtung der Abwinkelung der Kettenglieder erfolgt (s. o. I.4.e).
2. Mit der Beschränkung des Merkmals 1.7.1 auf Gelenkelemente, die in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder elastisch deformierbar sind, entspricht Patentanspruch 1 insoweit der Offenbarung des Gebrauchmusters D13 (vgl. dortigen Anspruch 1), wobei auch die weiteren neu aufgenommenen Merkmale der Prioritätsschrift als zur Erfindung gehörend entnehmbar sind (s. o. V.1.). Deshalb kann der Anspruch 1 in der vorliegenden Fassung die Priorität der D13 wirksam in Anspruch nehmen. Dies gilt - entgegen der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung - unabhängig davon, ob die vom Anspruch 1 in seiner erteilten Fassung in Anspruch genommene Priorität wirksam war. Das Prioritätsrecht wird nämlich nicht dadurch berührt, dass der Gegenstand der Nachanmeldung erst nach Patenterteilung in Folge nachträglicher Beschränkung deckungsgleich mit der prioritätsbegründenden Anmeldung gebracht wird (vgl. BGH GRUR 2008, 597, 598 [17] - Betonstraßenfertiger).
3. Der Gegenstand dieser Anspruchsfassung ist neu.
a) Die Entgegenhaltung D8 ist diesbezüglich nicht neuheitsschädlich, da deren Gelenkelemente 5 bei einer Abwinkelung benachbarten Kettenglieder bestimmungsgemäß auf Torsion und nicht wie nunmehr gefordert auf Biegung beansprucht werden (s. o. II).
b) Die Neuheit des Anspruchsgegenstands ist auch gegenüber dem deutschen Gebrauchsmuster 94 09 082 (D10) gegeben. Dort soll das Spiel in den gelenkartigen Verbindungen zwischen den einzelnen Kettengliedern 21 durch Spannseile 61, 63 verhindert werden (vgl. Figur 2 sowie Seite 3, zweiter und dritter Absatz), wobei die Seile die Verbindung zwischen den einzelnen Kettengliedern herstellen. Die Gelenkfunktion wird bei D10 jedoch durch Gelenkscheiben 51 umgesetzt (vgl. Figuren 3 bis 7 i. V. m. Beschreibung Seite 13, Zeilen 17 bis 24), die in Aussparungen 49 der Laschen eingeschoben werden und ein Verschwenken ermöglichen. Dabei dienen diese (starren) Scheiben 51 beschreibungsgemäß der Festlegung einer definierten Verschwenkungsachse und sind nicht wie beim Streitgegenstand in Abwinkelungsrichtung elastisch deformierbar ausgebildet, so dass Merkmal 1.7.1 nicht gegeben ist, d. h. die Gelenkscheibe entspricht nicht dem streitpatentgemäßen Gelenkelement. Dies gilt ebenso für die Spannseile 61 und 63, da diese auf Grund der fehlenden Gelenkfunktion ebenfalls keine streitpatentgemäße Gelenkverbindung bilden, sondern nur dem Verbinden bzw. Verspannen der Kettenglieder zueinander dienen (siehe auch Anspruch 1, Zeilen 19 bis 25 und 34 ff.). Somit erfüllt keines der beiden vorgenannten Elemente für sich genommen die geforderten Funktionen eines patentgemäßen Gelenkelements (siehe I.4.d).
c) Die europäische Patentanmeldung 1 351 362 A2 (D26), die von der Klägerin ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Neuheitsschädlichkeit angeführt wurde, nimmt eine Priorität vom 2. April 2002 in Anspruch und gehört mit diesem Zeitrang nicht zum berücksichtigungsfähigen Stand der Technik.
d) Auch die europäische Patentschrift 0 708 270 B1 (D28) ist nicht neuheitsschädlich. Diese Schrift betrifft eine Schlauchkette, die insbesondere im Hinblick auf ein mehrlagiges Aufwickeln auf eine Trommel 32 ausgestaltet (vgl. Figuren 1 und 10 i. V. m. Spalte 2, Zeilen 10 bis 15) und dabei auch in zwei Richtungen verschwenkbar ist (siehe Figur 2 i. V. m. Spalte 2, Zeile 54, bis Spalte 3, Zeile 6). Auf Grund dieser Ausrichtung in Verbindung mit der zuletzt genannten Ausgestaltung kommt eine derartige Schlauchkette nicht für eine Anordnung unter Bildung eines Untertrums, Umlenkbereiches und Obertrums (Merkmal 1.6) in Betracht, da auf Grund der fehlenden Abstützung bzw. der beidseitigen Verschwenkbarkeit das Obertrum durchhängen bzw. bei einem Verfahrvorgang auf dem Untertrum schleifen würde. Die Eignung zur Bildung eines Obertrums ist von der Beklagten zudem unter Hinweis auf die hierfür erforderliche Spannfunktion der Seile zu Recht in Frage gestellt worden; diese Eigenschaft, die für die Anwendungsfälle von D28 nicht erforderlich ist, geht weder unmittelbar noch implizit aus dieser hervor und kann daher nicht als offenbart angesehen werden.
e) Auch durch die von der Klägerin angeführten offenkundigen Vorbenutzungen wird der Anspruchsgegenstand nicht neuheitsschädlich vorweg genommen.
Die zwischen den Parteien unstreitige Vorbenutzung durch Präsentation der Energieführungskette „E6“ am 23. April 2001 auf der Hannover Messe hat unberücksichtigt zu bleiben, weil sie sich nicht vor dem Prioritätstag des Streitpatents ereignet hat.
Die von der Klägerin weiterhin behauptete und von der Beklagten bestrittene Verkäuferschulung am 22. April 001, dem Tag vor Beginn der Messe, führte - selbst wenn man die von der Klägerin hierzu vorgetragenen Tatsachenbehauptungen als wahr unterstellt - nicht zur Veröffentlichung der Lehre des Streitpatents, weshalb auch diesbezüglich nicht von einer offenkundigen Vorbenutzung ausgegangen werden kann. Auf die Vernehmung der von der Klägerin hierzu angebotenen Zeugen konnte daher verzichtet werden.
Eine offenkundige Vorbenutzung setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass nach der Lebenserfahrung die nicht zu entfernte Möglichkeit eröffnet wird, dass beliebige Dritte und damit auch Sachverständige eine zuverlässige, ausreichende Kenntnis von der neuheitsschädlichen Tatsache erhalten (vgl. BGH GRUR 1996, 747, 752 - Lichtbogen-Plasma-Beschichtungssystem; Schulte/ Moufang, a. a. O., § 3 Rn. 24 m. w. N.). Die behauptete Verkäuferschulung stellt für sich betrachtet schon deshalb keine offenkundige Vorbenutzung dar, weil die dort vermittelten Informationen an das von der Beklagten beschäftigte Messepersonal und nicht an dritte Personen ergangen sind.
Auch wenn der Zweck solcher Schulungen darin besteht, die empfangenen Informationen an interessierte Dritte weiter zu geben, so kann daraus nicht gefolgert werden, dass vorliegend eine solche Weitergabe bereits vor Beginn der Messe stattgefunden hat. Die Klägerin hat auch nicht behauptet, dass ein bestimmter fachkundiger Dritter schon vor Messebeginn über Einzelheiten der Energieführungskette „E6“ unterrichtet worden und dadurch in den Besitz der Lehre des Streitpatents gelangt sei. Sie hat lediglich darauf abgestellt, dass das Verkaufspersonal nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch vor Messebeginn nicht zur Geheimhaltung verpflichtet gewesen sei, weshalb die nicht fernliegende Möglichkeit bestanden habe, dass interessierte Dritte bereits am Tag der Verkäuferschulung Kenntnis von der Erfindung erhielten.
Mit dieser Schlussfolgerung kann das Vorliegen einer offenkundigen Vorbenutzung jedoch nicht begründet werden. Zum einen kann nicht von einer Lebenserfahrung ausgegangen werden, wonach es Messeverkäufern gestattet ist, technische Einzelheiten eines neuen Produkts schon vor Messebeginn beliebigen Dritten zu offenbaren. Dies gilt umso mehr, wenn es sich - wie vorliegend - um eine Neuentwicklung handelt, die Gegenstand eines am Tag der Messeeröffnung beim Patentamt angemeldeten Schutzrechtes ist. Zudem ist es für die Annahme einer offenkundigen Vorbenutzung nicht ausreichend, dass ein Erfindungsbesitzer bereit gewesen ist, den Gegenstand der Erfindung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es bedarf vielmehr der Feststellung, dass eine solche Kundgabe an die Öffentlichkeit tatsächlich erfolgt ist (vgl. BGH GRUR 2015, 463, 466 - Presszange). Eine solche Feststellung kann hier, bezogen auf den Tag vor der Messeeröffnung, nicht getroffen werden, weshalb die behauptete offenkundige Vorbenutzung der hier zu treffenden Entscheidung nicht zu Grunde gelegt werden kann.
4. Der Anspruchsgegenstand gemäß Hilfsantrag 3bis beruht auch auf erfinderischer Tätigkeit.
a) Unter dem Aspekt, eine Energieführungskette zu schaffen, bei der kein Abrieb in den Gelenkverbindungen zwischen den Kettengliedern entsteht und die deshalb für die Verwendung in der Lebensmittelindustrie und in Reinräumen geeignet ist, stellt die europäische Patentanmeldung EP 0 789 167 A1 (D1) den nächstliegenden Stand der Technik dar (vgl. Spalte 1, Zeilen 36 bis 42, 55 ff.). Die Gelenkverbindung der gattungsgemäßen Kette wird hierbei als separates Bauteil 5, 65 bzw. 105 ausgeführt, das in Abwinkelungsrichtung der Kettenglieder deformierbar ist (vgl. Figuren 1, 6, 10 ff., Spalte 2, Zeilen 12 bis 35, sowie Spalte 6, Zeilen 18 bis 20) Dieses Gelenkelement unterscheidet sich vom patentgemäßen durch die Anordnung an den unteren Querstegen 7, 71, 115, d. h. nicht entsprechend Merkmal 1.7.3 im Querschnitt der Laschen, z. B. 111 bzw. 113. Durch die großflächige Auflage auf den Querstegen ergeben sich für den Fachmann bei D1 gute Befestigungsmöglichkeiten des Gelenkelements am Kettenglied, und durch die große Breite ist auch ein ausreichender Querschnitt für die Zugkraftübertragung vorhanden (vgl. Spalte 6, Zeilen 18 bis 25).
Für eine Verlagerung der aus D1 bekannten Anbringung in den schmalen Laschenquerschnitt besteht weder aus fachmännischer Sicht Veranlassung noch ergeben sich hierfür aus dem Stand der Technik Anregungen. Vielmehr zeigen die Schriften DE 44 24 624 C1 (D6), DE 39 24 468 A1 (D7) oder EP 0 041 164 A1 (D23) Gelenkelemente, die sich ebenfalls über die komplette zur Verfügung stehende Breite bzw. über den Leistenbereich in der Art eines Bandscharniers erstrecken. Und auch EP 1 093 963 A1 (D5) beschreibt lediglich ein elastisches, auf Biegung beanspruchtes Scharnierelement, das insbesondere bei verschwenkbaren Rampenteilen Verwendung finden kann (siehe Absatz 1). Hinweise auf die vorteilhafte Eignung eines solchen Scharniers für den Einsatz in Energieführungsketten, etwa im Hinblick auf eine Reinraumeignung infolge abriebfreier Verschwenkbarkeit oder auf eine geräuscharme Verfahrbarkeit infolge elastischer Rückstellkräfte fehlen bei dieser oder den zuvor genannten Schriften.
Die Patentanmeldung DD 249 742 A1 (D3) kann auf Grund des dünnen Blechquerschnitts (vgl. Figur 1) ebenfalls keine Anregung liefern, ein Gelenkelement im dünnen Bereich zwischen den beiden Seitenwänden gemäß Merkmal 1.7.3 vorzusehen.
Das Gebrauchsmuster 94 09 082 (D10) zeigt zwar eine Anordnung mit einer gelenkbildenden, abriebbehafteten Gelenkscheibe 51 innerhalb der Lasche (s. o. V.3.b), aber auch sie gibt keine Anregung, das flexible Gelenkelement von D1 vom Quersteg in den Laschenbereich zu verlagern.
Auch der weitere Stand der Technik liefert ausgehend von D1 keine Hinweise dahingehend, deformierbare Gelenkelemente im Laschenquerschnitt vorzusehen.
b) Ebenso führen Überlegungen ausgehend von den Entgegenhaltungen D2 oder D4 nicht zum Anspruchsgegenstand.
So zeigt das US-Patent 5,980,409 (D2) in den Figuren 1A und 1B eine Energieführungskette mit einer konventionellen Gelenkverbindung mittels Gelenkzapfen 3, die in entsprechende Aussparungen 5 der benachbarten Lasche eingesteckt werden. Bei der Suche nach einer Gelenkverbindung mit Reinraumeignung mag der Fachmann zwar auf die in seinem Gebiet liegende Schrift D1 stoßen und dieser die Lehre entnehmen, eine reibungsfreie Gelenkverbindung im Bereich der unteren Querstege vorzusehen; dies führt jedoch nicht zu der anspruchsgemäßen Lösung. Eine anderweitige Veranlassung dahingehend, den Gelenkzapfen durch ein ebenfalls in der Lasche angeordnetes, deformierbares Gelenkelement zu ersetzen, um ein reibungsarmes Gelenk mit Reinraumeignung zu schaffen, ergibt sich auch aus dem Stand der Technik nach D5, D6, D7 oder D23 nicht; in diesen Schriften fehlt jeglicher Hinweis auf eine derartige Problemstellung, wobei auf die diesbezüglichen Ausführungen unter Punkt a) verwiesen werden kann.
Gleiches gilt auch ausgehend von der Kette nach DE 35 22 885 C2 (D4), bei der hinsichtlich der Ausführung der die Laschenpaare verbindenden Gelenkelemente lediglich von einer „schwenkgelenkigen“ Verbindung gesprochen wird (siehe Spalte 3, Zeilen 18 bis 20). Bei den in den Figuren 3 bis 7 gezeigten Gelenkelementen 11 handelt es sich um Verriegelungselemente zur Arretierung der Querstege 5 in den Laschen 2,2‘ bzw. 3,3‘, die im Hinblick auf die patentgemäßen Gelenkverbindungen keine Relevanz haben.
c) Schließlich gelangt der Fachmann auch nicht ausgehend von den Entgegenhaltungen D27, D28 oder D29 in naheliegender Weise zum Anspruchsgegenstand.
Bei der Energieführungskette nach DE 26 09 451 A1 (D27) sind zur Verhinderung der Durchbiegung an der Unterseite der Kettenglieder 4 Kabel 3 vorgesehen, die auch der Zugentlastung und damit der Entlastung der Gelenkstellen 9 dienen (siehe Figur 1 i. V. m. Seite 4, zweiter Absatz). Alternativ zum Kabel 3 werden auf Seite 6, Zeilen 4 bis 8, Kabelstücke 11 beschrieben, die im Bereich der Anlenkstellen 9 an der Unterseite der Laschen 1 angeordnet sind. Auf Grund von deren Funktion, eine Durchbiegung zu verhindern, wird der Fachmann von einer Verlagerung dieser Kabelstücke 11 in Richtung der Anlenkstellen bzw. Schwenkachse abgehalten, da mit abnehmendem Abstand zum Gelenkpunkt 9 die Belastung der Kabelstücke 11 immer größer wird; hier wird der Fachmann eher anstreben, einen größtmöglichen Abstand vorzusehen. Somit kann auch hieraus keine Anregung entnommen werden, die Kabelstücke 11 möglichst nahe an oder gar anstelle von den Anlenkelementen 9 vorzusehen.
Die bereits im Neuheitsvergleich behandelte D28 wird der Fachmann auf Grund ihrer gänzlich anderen Ausrichtung, nämlich eine robuste Schlauchkette zu entwickeln, die hohen Belastungen in rauher Umgebung standhält und ein mehrlagiges Aufwickeln auf eine vertikale Trommel ermöglicht (siehe Spalte 2, zweiter Absatz), im Zusammenhang mit der streitpatentgemäßen Aufgabenstellung (Reinraumeignung und/oder geräuscharmer Betrieb der Energieführungskette) nicht in Betracht ziehen.
Der Offenbarungsgehalt der Patentschrift GB 762,546 (D29) geht nicht über den des bereits genannten Stands der Technik gemäß D3 hinaus, da in dem Ausführungsbeispiel nach Figur 6 ebenfalls nur ein an der Außenseite der Laschen 23 angeordnetes Seil 24 als Gelenkelement gezeigt und beschrieben wird (siehe Seite 2, Zeilen 98 bis 102: „chain links 23 are connected one with another … by a wire cable 24 secured on the sides of the plates“).
VI.
Die mit Hilfsantrag 3bis verteidigten Unteransprüche 2 bis 29 werden von der Bestandskraft des verteidigten Patentanspruchs 1, auf den sie rückbezogen sind, mitgetragen und sind daher ebenfalls rechtsbeständig.
Zu einem anderen Ergebnis führen auch nicht die von der Klägerin gegen die Ansprüche 10 und 11 unter dem Gesichtspunkt mangelnder Ausführbarkeit gerichteten Angriffe. Entgegen der von der Klägerin vertretenen Ansicht ist der Fachmann in der Lage, die dort enthaltenen Lehren nachzuarbeiten.
So beschreibt Anspruch 10 den Aufbau der Lasche entsprechend Figur 2a, bei dem durch den Steg 24a die beiden (d. h. die obere und die untere) Laschenhälften verbunden sind. Nach Anspruch 11 soll eine Drehbewegung der Gelenkelemente quer zu den Laschen durch zusammenwirkende Mittel verhindert werden. Laut Beschreibungsabsatz 42, Zeilen 55 ff. der Patentschrift kann dies durch Formschlussmittel erfolgen, wozu sich die Querschnittserweiterung 15 über die gesamte Breite der Gelenkelemente und der Lasche erstreckt, so dass ein Verdrehen quer zu den Laschen behindert wird (siehe Figur 2d).
Somit ist das Streitpatent in dem Umfang, wie es mit dem Hilfsantrag 3bis der Klägerin verteidigt wird, rechtsbeständig. Auf die weiteren Hilfsanträge braucht daher nicht eingegangen zu werden.
VII.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.
(Der Berichtigungsbeschluß vom 20. August 2015 wurde von juris in den oben stehenden Text eingearbeitet)