Bundespatentgericht

Entscheidungsdatum: 27.02.2018


BPatG 27.02.2018 - 4 Ni 47/16 (EP)

Wirkungslosigkeit dieser Entscheidung Patentnichtigkeitsklageverfahren – "Nadelspitzenschutz für Subkutaninjektionen (europäisches Patent)" – zur unzulässigen Verallgemeinerung und Erweiterung des Inhalts einer Anmeldung - zum Nichtigkeitsgrund der unzulässigen Erweiterung


Gericht:
Bundespatentgericht
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsdatum:
27.02.2018
Aktenzeichen:
4 Ni 47/16 (EP)
ECLI:
ECLI:DE:BPatG:2018:270218U4Ni47.16EP.0
Dokumenttyp:
Urteil
Zitierte Gesetze
§ 138 Abs 1 Buchst c EGV 207/2009
Art II § 6 Abs 1 Nr 3 IntPatÜbkG

Tenor

In der Patentnichtigkeitssache

betreffend das europäische Patent 2 319 556

(DE 697 40 587)

hat der 4. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung am 27. Februar 2018 durch den Vorsitzenden Richter Engels, die Richterin Kopacek, den Richter Dipl.-Ing. Veit, die Richterin Dipl.-Phys. Univ. Zimmerer sowie den Richter Dipl.-Chem. Univ. Dr. rer. nat. Freudenreich

für Recht erkannt:

I. Das europäische Patent 2 319 556 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet Deutschland im Umfang der Patentansprüche 1 bis 4 und 8 bis 12, soweit sich die Patentansprüche 8 bis 12 nicht unmittelbar oder mittelbar auf die Patentansprüche 5 bis 7 rückbeziehen, für nichtig erklärt.

II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Beklagte ist Inhaberin des erteilten europäischen Patents 2 319 556 B1 (deutscher Teil DE 697 40 587.7) mit der Bezeichnung „Needle tip guard for hypodermic needles“ (Nadelspitzenschutz für Subkutaninjektionen).

2

Das Streitpatent beruht auf der europäischen Patentanmeldung mit der Anmeldenummer 10009582.7, bei der es sich um eine Teilanmeldung handelt. Als frühere Anmeldungen bestehen EP 1 604 700 (Anm. Nr. 05104948.4) und EP 0 891 198 (Anm. Nr. 97915856.5). Das Streitpatent nimmt die Priorität dreier US-amerikanischer Patentanmeldungen US 12343 P vom 27. Februar 1996, US 25273 P vom 12. September 1996 und US 31399 P vom 19. November 1996 in Anspruch. Die Veröffentlichung der Anmeldung erfolgte am 11. Mai 2011, die der Patenterteilung am 24. April 2013. Eine von Seiten der Klägerin gegen das Patent eingelegte Einspruchsbeschwerde ist mit der Entscheidung T 2237/14 der Technischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts vom 21. Januar 2016 zurückgewiesen worden.

3

Das Streitpatent umfasst zwölf Patentansprüche mit einem unabhängigen Patentanspruch 1, von denen die Patentansprüche 1 bis 4 und 8 bis 12 angegriffen sind. Diese haben in der maßgeblichen englischen Verfahrenssprache den folgenden Wortlaut:

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4

Die Klägerin hat ihre Klage auf die Gründe unzulässiger Erweiterung des Inhalts der Anmeldung und mangelnde Patentfähigkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3 IntPatÜG) gestützt und sich auf schriftlichen Stand der Technik sowie zwei offenkundige Vorbenutzungen bezogen. Die Klägerin hat folgende Schriften vorgelegt:

5

B&M 1 Entscheidung LG Düsseldorf, 4b O 57/13 v. 16. Dezember 2014, 22 S.

6

B&M 2 Entscheidung der Einspruchsabteilung des EPA zur Anm. Nr. 10 009 582.7 v. 9. Dezember 2014, 19 S.

7

B&M 3 Entscheidung der technischen Beschwerdekammer des EPA, T 2237/14 vom 21. Januar 2016, 44 S.

8

B&M 4 Entscheidung des Handelsgerichts Wien, 19 Cg 7/15y vom 22. Mai 2015, 18 S.

9

B&M 5 Registerauszug DE 697 40 587.7 v. 17. Mai 2016, 3 S.

10

B&M 6 EP 2 319 556 B1 (Streitpatent)

11

B&M 7 Deutsche Übersetzung der B&M 6 (eingereicht von Seiten der Beklagten im Verletzungsverfahren) 112 S.

12

B&M 8 EP 2 319 556 A1

13

B&M 9 WO 97/31666 A1

14

B&M 10 US 60/012,343 vom 27. Februar 1996

15

B&M 11 US 60/025,273 vom 12. September 1996

16

B&M 12 US 60/031,399 vom 19. November 1996

17

B&M 13 Deutsche Übersetzung der B&M 12, 49 S.

18

B&M 14 Merkmalsgliederung Patentanspruch 1, englisch, 1 S.

19

B&M 15 Merkmalsgliederung Patentanspruch 1, deutsch, 1 S.

20

B&M 16 EP 0 747 085 A2 (D1)

21

B&M 16a DE 696 07 409 T2 (deutsche Übersetzung der B&M 16)

22

B&M 17 EP 0 747 083 A2 (D2)

23

B&M 17a DE 696 06 091 T2 (deutsche Übersetzung der EP 0 747 083 B1)

24

B&M 18 US 5 215 525 A (D3)

25

B&M 18a Deutsche Übersetzung der B&M 18, 13 S.

26

B&M 19 US 4 978 344 (D4)

27

B&M 20 US 4 994 041 (D5)

28

B&M 21 US 5 419 766 A (D6)

29

B&M 22 US 4 944 725 (D9)

30

B&M 23 US 4 863 434 (D10)

31

B&M 24 Schreiben I… Inc. an B… and Company v. 27. März 1996, 5 S.

32

B&M 25 Telefonprotokoll, 25. November 1996, JRG, 1. S.

33

B&M 26 Policy and procedure related to outside ideas, S… Company, undatiert, 3 S.

34

B&M 27 Brief von G… vom 27. November 1996 an Frau V…, 2 S.

35

B&M 28 Non-Confidential Disclosure Agreement unterschrieben von Herrn G…, 27. November 1996, 1 S.

36

B&M 29 Schreiben Frau V… an Herrn G…, 17. Dezember 1996, 1 S.

37

B&M 30 Aussage von Herrn K… am 4. August 2015 vor dem United District Court/District of Nevada, 209 und 28 S.

38

B&M 31 Meeting report, 18. November 1996, Herr G…, 1 S.

39

B&M 32 Mutual Disclosure Agreement, 7. März 1997 und Signatur 3. Dezember 1997, 2 S.

40

B&M 33 EP 0 845 279 A1 (D22)

41

B&M 33.1 EP 0 845 279 B1

42

B&M 33.2 EP 697 22 748 T2

43

B&M 34 Entscheidung der technischen Beschwerdekammer des EPA, T 2227/11 v. 18. Februar 2016

44

B&M 35 Entscheidung der technischen Beschwerdekammer des EPA, T 0473/13 v. 11. Mai 2016

45

(B&M 36) Urteil Akz. HA ZA 16-1279 der Rechtbank Den Haag v. 6. September 2017 (BM 36.1) mit englischer Übersetzung (BM 36.2) und auszugsw. deutscher Übersetzung (BM36.3)

46

(B&M 37) Gutachten Prof. Dr. Ing. S1… v. 11. Dezember 2017

47

B&M 38 US 5 051 109 (D7)

48

B&M 39 EP 0 605 521 A1, veröffentlicht als WO 93/05840 (D12)

49

B&M 40 EP 0 510 187 B1, veröffentlicht als WO 92/08502 (D13)

50

B&M 41 US 5 215 528 (D14)

51

B&M 42 US 5 423 766 (D21).

52

Im Einzelnen sieht die Klägerin den Gegenstand des Streitpatents gegenüber den Ursprungsunterlagen nach B&M 8 und B&M 9 als unzulässig erweitert an. In den ursprünglichen Anmeldeunterlagen seien ausschließlich Ausnehmungen in der Innenseite des Katheteransatzes 13 („inner recess“) offenbart. Hingegen beanspruche der Anspruch 1 des Streitpatents die Ausnehmung („recess“) ohne die Einschränkung „inner“ und stelle daher eine unzulässige Erweiterung dar. Die Offenbarung des Streitpatents vom Anmeldetag (vgl. B&M 8: Abs. [0036] bzw. B&M 9: S. 7 Z. 20–33) zeige zweifelsfrei, dass sich auch dort die Ausnehmung („recess“) in der Innenseite des Katheteransatzes befinden müsse. Denn die nach innen, d. h. zur Nadel hin gerichtete Bewegung des Arms mit dem Nadelfänger führe zu einer nach innen gerichteten Bewegung des Vorsprungs aus der Ausnehmung („recess“). Dies sei technisch nur möglich, wenn sich die Ausnehmung („recess“) auf der Innenseite des Katheteransatzes befinde. Bei einer an der Außenseite angebrachten Ausnehmung („outer recess“) wäre die Bewegung des Vorsprungs beim Verlassen der Ausnehmung („recess“) nach außen gerichtet. Die Ausführungen der Beschwerdekammer seien insoweit nicht zutreffend. Hingegen sei dem Urteil der Rechtbank Den Haag (vgl. Anlage B&M 36) zuzustimmen, das den niederländischen Teil des Streitpatents aufgrund der unzulässigen Erweiterung („recess“/„inner recess“) für nichtig erklärt habe. Daran ändere auch nichts der von der Beklagten zitierte, das allgemeine Funktionsprinzip wiedergebende Satz in der ursprünglichen Beschreibung (vgl. B&M 8: S. 6 Z. 18–20), der im Zusammenhang mit der weiteren, nachfolgenden Erläuterung zu lesen sei, welche eine nach innen gerichtete Bewegung des Nadelarms voraussetze.

53

Zudem sei Anspruch 1 des Streitpatents unzulässig erweitert, da das elastische Teil („resilient member 19“) nicht in den Anspruch aufgenommen worden sei. Vorliegend sei das elastische Teil („resilient member 19“) untrennbar mit dem Nadelschutz 22a verbunden. Der Fachmann könne den ursprünglichen Unterlagen die beanspruchte Kombination ohne elastisches Teil nicht als mögliche Ausgestaltung der Erfindung entnehmen.

54

Auch seien die Prioritäten B&M 10 bis B&M 12 (P1 bis P3) für das Streitpatent nicht wirksam. Hinsichtlich der Prioritäten P1 und P2 bestehe zwischen den Parteien Einigkeit darüber, dass diese unwirksam seien. Auch im Prioritätsdokument P3 fehle es insbesondere wiederum an einer eindeutigen Offenbarung des Merkmals einer beliebig angebrachten Ausnehmung („recess“), sodass die in Anspruch 1 gewählte Formulierung „… retained within an recess (32)“ durch das Prioritätsdokument 3 nicht gedeckt sei.

55

Weiter fehle dem Gegenstand des Patentanspruchs 1 zum einen die Neuheit jeweils gegenüber den Schriften B&M 16/B&M 16a (D1), B&M 17/17a (D2), B&M 18/B&M18a (D3) und B&M 33/B&M33.1/B&M33.2 (D22), zum anderen lägen zwei offenkundige Vorbenutzungen des Streitgegenstandes vor, was durch die B&M 24 bis B&M 32 belegt werde. Schließlich mangele es dem Gegenstand des Patentanspruchs 2 auch an erfinderischer Tätigkeit gegenüber der B&M 17/17a (D2) in Kombination mit dem Fachwissen oder den Druckschriften B&M 18/18a (D3) und BM16/16a (D1), weiter gegenüber der B&M1818a (D3) als Ausgangspunkt in Kombination mit dem Fachwissen oder der B&M17/17a (D2). Auch den Gegenständen der Unteransprüche 2 bis 4 und 8 bis 12 fehle vor dem Hintergrund des aufgezeigten Standes der Technik die Neuheit, zumindest beruhten sie nicht auf erfinderischer Tätigkeit.

56

Mit den Hilfsanträgen I bis IX füge die Patentinhaberin dem Anspruch 1 willkürlich gewählte, triviale Merkmale hinzu. Diese Merkmale seien alle bereits vorbekannt. Keiner der Hilfsanträge beseitige außerdem die unzulässigen Erweiterungen; vielmehr führten die jeweils neu in die hilfsweise verteidigten Fassungen aufgenommenen Merkmale ihrerseits zu weiteren unzulässigen Erweiterungen.

57

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

58

das Patent EP 2 319 556 B1 (DE 697 40 587.7) mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Patentansprüche 1 bis 4 sowie im Umfang der Patentansprüche 8 bis 12, soweit sie auf die Patentansprüche 1 bis 4 rückbezogen sind, für nichtig zu erklären.

59

Die Beklagte beantragt,

60

die Nichtigkeitsklage abzuweisen, hilfsweise die Klage abzuweisen, soweit das Streitpatent mit den Ansprüchen nach den Hilfsanträgen I bis IX vom 18. September 2017 verteidigt wird, mit der Maßgabe, dass die jeweiligen Patentansprüche der Anspruchssätze sich nicht unmittelbar oder mittelbar auf die Patentansprüche 5 bis 7 beziehen.

61

Die Beklagte tritt der Klägerin in allen die Patentansprüche 1 bis 4 und 8 bis 12 betreffenden Angriffspunkten entgegen und verteidigt das Streitpatent in der erteilten Fassung sowie mit geänderten Anspruchssätzen nach den Hilfsanträgen I bis IX, welche jeweils zusätzliche Merkmale aufweisen, die den Katheteransatz (Hilfsanträge I, VI, VII, VIII, IX), den Nadelschutz und Nadelfänger (Hilfsanträge II, IV, V, VI, VII, VIII, IX) und die Aufhängevorrichtung (Hilfsantrag III) betreffen.

62

Gemäß Hilfsantrag I wird bei dem erteilten Patentanspruch 1 bei Komponente h) das Wort „and“ vor „wherein“ gestrichen und eine Komponente i) angefügt, sodass es heißt:

63

... h) wherein the limiting means comprises a tether (24); and

64

i) wherein the catheter hub (13) has at least one flange (301).

65

Gemäß Hilfsantrag II wird bei dem erteilten Patentanspruch 1 bei Komponente h) das Wort „and“ vor „wherein“ gestrichen sowie eine geänderte Komponente i) angefügt, sodass es heißt:

66

… h) wherein the limiting means comprises a tether (24) and

67

i) wherein the needle trap (41) is a separate needle trap and wherein the needle guard (22, 22a, 220) has a slot (80) for fixedly attaching the separate needle trap (41).

68

Die Patentansprüche 1 bis 12 nach Hilfsantrag III entsprechen den erteilten Patentansprüchen mit dem Unterschied, dass in der Komponente h) nach Patentanspruch 1 das Wort „flexible“ vor „tether“ eingefügt wird, sodass es heißt:

69

… h) wherein the limiting means comprises a flexible tether (24).

70

Die Patentansprüche 1 bis 12 nach Hilfsantrag IV entsprechen den erteilten Patentansprüchen mit dem Unterschied, dass in der Komponente d) nach Patentanspruch 1 das Wort „metal“ vor „needle trap“ eingefügt wird, sodass es heißt:

71

… d) the needle guard (22, 22a, 220) comprising a movable metal needle trap (41), the needle trap (41) being biased toward the needle (10).

72

Die Patentansprüche 1 bis 12 nach Hilfsantrag V entsprechen den erteilten Patentansprüchen mit dem Unterschied, dass ein Zusatz an die Komponente c) nach Patentanspruch 1 angefügt wird, sodass es heißt:

73

… c) a needle guard (22, 22a, 220) slidably mounted on the needle (10) with the distal end of said needle guard (22) having a male section (78) for removably attaching a catheter hub (13).

74

Gemäß Hilfsantrag VI werden die dem erteilten Patentanspruch 1 nach den Hilfsanträgen I und II hinzugefügten Merkmale vereinigt, wonach im erteilten Patentanspruch 1 bei Komponente h) das Wort „and“ vor „wherein“ gestrichen wird und zwei jeweils mit i) benannte geänderte Komponenten hinzugefügt werden, sodass es heißt:

75

… h) wherein the limiting means comprises a tether (24);

76

i) wherein the needle trap (41) is a separate needle trap and wherein the needle guard (22, 22a, 220) has a slot (80) for fixedly attaching the separate needle trap (41); and

77

i) wherein the catheter hub (13) has at least one flange (301).

78

Gemäß Hilfsantrag VII werden die dem erteilten Patentanspruch 1 nach den Hilfsanträgen I bis III hinzugefügten Merkmale vereinigt, wonach im erteilten Patentanspruch 1 bei Komponente h) das Wort „and“ vor „wherein“ gestrichen, das Wort „flexible“ vor „tether“ eingefügt wird und die nun in umgekehrter Reihenfolge und mit i) und j) unterschiedlich benannten Komponenten nach Hilfsantrag VI hinzugefügt werden, sodass es heißt:

79

h) wherein the limiting means comprises a felexible tether (24);

80

i) wherein the catheter hub (13) has at least one flange (301); and

81

j) wherein the needle trap (41) is a separate needle trap and wherein the needle guard (22, 22a, 220) has a slot (80) for fixedly attaching the separate needle trap (41).

82

Der Hilfsantrag VIII ergänzt den erteilten Patentanspruch 1 um die Merkmale nach den Hilfsanträgen I bis IV. Bis auf die Hinzufügung des Wortes „metal“ vor „needle trap“ in Komponente d) ist die Anspruchsfassung wortgleich mit Hilfsantrag VII.

83

Der Hilfsantrag IX ergänzt den erteilten Patentanspruch 1 um die Merkmale nach den Hilfsanträgen I bis V. Bis auf die Ergänzung der Komponente c) um das Merkmal „… with the distal end of said needle guard (22) having a male section (78) for removably attaching a catheter hub (13);“ und Hinzufügung des Wortes „metal“ vor „needle trap“ in Komponente d) ist die Anspruchsfassung wortgleich mit Hilfsantrag VII.

84

Eine unzulässige Erweiterung des Inhalts der Anmeldung sei ebenso wenig festzustellen wie fehlende Neuheit gegenüber dem druckschriftlichen Stand der Technik bzw. durch offenkundige Vorbenutzungen begründet. Ebenso beruhe der Gegenstand des Streitpatents gegenüber dem aufgezeigten Stand der Technik auf erfinderischer Tätigkeit.

85

Die Beklagte verweist ihrerseits auf die folgenden Schriften:

86

NB 1 Merkmalsgliederung des Patentanspruchs 1 der EP 2 319 556 B1, 1 S.

87

NB 2 RAMALINGAM, K.K. (Hrsg.): Handbook of Mechanical Engineering Terms. New Delhi: New Age International (P) Limited, Publishers, 2009, 1996. S. 8. – ISBN 978-81-224-2874-2

88

NB 3 Presentation Mr. K…, Frontline Medical Products vor J…, Inc., 26. März 1997, 8 S.

89

NB 4 Erklärung des Herrn K… vom 8. Oktober 2015, 2 S.

90

NB 5 Norm ISO 20 594-1 1995-01-00. Conical fittings with a 6% taper for syringes, needles and certain other medical equipment, English version

91

NB 6 Aussage von Herrn K… am 4. August 2015 vor dem Uni- ted District Court/District of Nevada, S. 1, 30–37, 74–77, 146–149, 162–165, 170–173

92

NB 7 Gutachten Dr. med. H… v. 11. Juli 2017

93

NB 7a DIN EN 20594-1 1993 und EN 1707 1996

94

NB 8 Gutachten Dr. med. H… v. 24. August 2017

95

Anlage 1 Gutachten Dr. med. H. …, erste Seite, ohne Datum (in der Verhandlung überreicht).

96

Soweit die Klägerin behaupte, dass der Gegenstand der Ansprüche des Streitpatents weder in der erteilten noch in den hilfsweise verteidigten Fassungen ursprünglich offenbart, neu und erfinderisch sei, treffe dies nicht zu. Die Nichtigkeitsklage sei daher abzuweisen. Die Rechtsauffassung der Nichtigkeitsklägerin, in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen seien ausschließlich Ausnehmungen in der Innenseite des Katheteransatzes offenbart, sei unbegründet. Insbesondere sei auch eine rein funktionale Auslegung des räumlich-körperlichen Merkmals der „Ausnehmung“ abzulehnen.

97

Entgegen der Ansicht der Rechtbank in Den Haag müsse eine äußere Ausnehmung nicht unmittelbar und eindeutig offenbart sein, um eine Ausnehmung ohne Spezifizierung ihrer Lage am Katheteransatz als offenbart anzusehen. Die allgemeine Offenbarung einer Ausnehmung („recess“) umfasse gerade sowohl eine äußere als auch eine innere Ausnehmung („recess“). Die äußere Ausnehmung müsse folglich lediglich von dem generischen Begriff „Ausnehmung“ umfasst sein.

98

Außerdem sei gemäß des von Herrn Dr. med. H… erstellten weiteren Gutachtens (vgl. Anlage 1) mit der Inwärtsbewegung des Arms bei Überschreiten der Achse mit der Nadel auch zuletzt eine Auswärtsbewegung verbunden, die dem Herausführen des Vorsprungs auch aus einer an der Außenseite angebrachten Ausnehmung diene.

99

Auch soweit die Klägerin behaupte, dass eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung durch das Weglassen des Merkmals „resilient member“ vorliege, treffe dies nicht zu.

100

Der Gegenstand des Anspruchs 1 und alle davon abhängigen Ansprüche des Streitpatents seien neu gegenüber D1, D2, D3 und D22 sowie gegenüber den von der Klägerin genannten Vorbenutzungen. Zudem basiere der Gegenstand des Anspruchs 1 und aller davon abhängigen Ansprüche auf einer erfinderischen Tätigkeit.

101

Insoweit lasse sich der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents zudem für den Fachmann unmittelbar und eindeutig aus P3 entnehmen, sodass der Einreichungstag von P3, der 19. November 1996, der Tag zur Bestimmung des Standes der Technik des Streitpatents sei. Soweit die Klägerin die Auffassung vertrete, dass in P3 lediglich eine „innere Ausnehmung“ offenbart worden sei, offenbare die Formulierung „inner channel, recess, slot or undercut 32“ die Ausnehmung ohne die Einschränkung, dass sie an der Innenseite des Katheteransatzes anzubringen sei. Im Übrigen würden die Begriffe „retained“ und „held“ in dem Prioritätsdokument austauschbar verwendet.

102

Der Senat hat den Parteien mit einem Hinweis nach § 83 Abs. 1 PatG vom 21. Juni 2017 die Gesichtspunkte mitgeteilt, die für die Entscheidung voraussichtlich von besonderer Bedeutung sind. Wegen des Vorbringens der Parteien im Übrigen wird auf das Sitzungsprotokoll vom 27. Februar 2018 sowie auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe

103

Die zulässige Klage ist auch begründet, da der Gegenstand des Streitpatents im angegriffenen Umfang der Patentansprüche 1 bis 4 und 8 bis 12 gemäß Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. c) EPÜ über die ursprüngliche Offenbarung der ursprünglichen Anmeldung WO 97/31666 A1 bzw. EP 2 319 556 A1 (B&M 8 und B&M 9) hinausgeht und das Streitpatent deshalb insoweit für nichtig zu erklären ist. Soweit dieses gemäß den Hilfsanträgen I bis IX mit beschränkt verteidigten Fassungen verteidigt wird, erweisen sich bereits als in gleicher Weise unzulässig geändert und können dem Streitpatent deshalb nicht zu einem Erhalt verhelfen.

104

Einer Entscheidung darüber, ob auch der von der Klägerin geltend gemachte Nichtigkeitsgrund fehlender Patentfähigkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG) begründet ist, bedarf es bei dieser Sachlage nicht mehr.

I.

105

1. Gegenstand des Streitpatents sind Schutzvorrichtungen für die Nadelspitzen von Subkutannadeln (vgl. Abs. [0001] des Streitpatents B&M 6), welche, wie das Streitpatent einleitend schildert, in Medizin, Naturwissenschaft, Veterinärmedizin, Biotechnologie und pharmazeutischer Industrie Anwendung finden. Bei intravenös (I.V.) zu setzenden Sicherheitskathetern wird die Nadel zusammen mit einem Katheter in die Vene des Patienten eingeführt. Dann wird die Nadel herausgezogen und der Katheter verbleibt zusammen mit dem Katheteransatz („catheter hub“) für den gewünschten Zeitraum im Patienten. Die Schutzvorrichtungen begegnen der Gefahr von Verletzungen des Bedienpersonals durch Nadelstiche sowie der daraus resultierenden Gefahr einer Ansteckung mit Krankheiten wie HIV, Hepatitis oder weiteren ansteckenden Krankheiten bei der Behandlung von Patienten (vgl. B&M 6: Abs. [0002]).

106

Aus dem Stand der Technik bekannte Sicherheitsmechanismen werden im Streitpatent insoweit kritisiert, als viele von ihnen vom Benutzer weitere Schritte zur Aktivierung der Sicherung erforderlich machen. Zwar gäbe es Vorrichtungen mit einziehbaren Nadeln und einem Schutz für die Nadelspitze, die Herstellungskosten dieser Vorrichtungen seien jedoch hoch (vgl. B&M 6: Abs. [0016]). Das Streitpatent nennt und diskutiert insoweit die Dokumente EP 0 554 841, US 5 601 536, US 5 279 591 und US 5 049 136 (vgl. B&M 6: Abs. [0019]–[0021]).

107

2. Ausgehend hiervon bezeichnet es die Patentschrift als Aufgabe der Erfindung, einen Nadelspitzenschutz bereitzustellen, der die Spitze der Nadel nach ihrem Gebrauch wirksam abschirmt und die Trennung des Katheters von der den Katheter tragenden Vorrichtung verhindert, bis die Nadelspitze sicher abgedeckt ist (vgl. B&M 6: Abs. [0022] und [0034]).

108

3. Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Streitpatent eine Nadelschutzanordnung nach Patentanspruch 1 in der maßgeblichen Verfahrenssprache Englisch sowie in deutscher Übersetzung, und mit hinzugefügter Merkmalsgliederung vor (nach funktionalen Merkmalen gegliedert).

109
        

EN        

DE        

1       

A needle guard assembly, comprising:

Nadelschutzanordnung, umfassend:

1.1     

a catheter hub (13);

einen Katheteransatz (13);

1.2     

a needle hub (9, 12, 112) with a fixedly attached needle (10) having a sharpened distal end (11);

einen Nadelansatz (9, 12, 112) mit einer daran fixierten Nadel (10) mit einem spitzen distalen Ende (11);

1.3     

a needle guard (22, 22a, 220) slidably mounted on the needle (10);

einen Nadelschutz (22, 22a, 220), der verschiebbar auf der Nadel (10) angebracht ist;

1.4     

the needle guard (22, 22a, 220) comprising a movable needle trap (41), the needle trap (41) being biased toward the needle (10);

der Nadelschutz (22, 22a, 220) umfasst einen beweglichen Nadelfänger (41), der Nadelfänger (41) ist in Richtung auf/ gegen die Nadel (10) vorgespannt;

1.5     

the needle trap (41) of the needle guard (22, 22a, 220) advancing over the sharpened distal end (11) of the needle (10) and thereby entrapping the sharpened distal end (11) as the needle guard (22, 22a, 220) is urged forward near the sharpened distal end (11) of the needle (10);

der Nadelfänger (41) des Nadelschutzes (22, 22a, 220) bewegt sich über das spitze distale Ende (11) der Nadel (10) vorwärts und deckt dadurch das spitze distale Ende (11) ab, wenn der Nadelschutz (22, 22a, 220) nach vorne in die Nähe des spitzen distalen Endes (11) der Nadel (10) gedrückt wird;

1.6     

limiting means for limiting the forward movement of the needle guard (22, 22a, 220) along the needle (10);

ein Begrenzungsmittel zum Begrenzen der Vorwärtsbewegung des Nadelschutzes (22, 22a, 220) längs der Nadel (10);

1.6.1 

the limiting means comprises a tether (24).

das Begrenzungsmittel umfasst eine Anhängevorrichtung/Tether (24).

1.7     

the needle guard assembly further comprising a coupling mechanism preventing a mechanical separation of the needle guard assembly from the catheter hub (13) until the sharpened distal end (11) is safely contained within the needle trap (41),

die Nadelschutzanordnung umfasst ferner einen Kopplungsmechanismus, der eine mechanische Trennung der Nadelschutzanordnung vom Katheteransatz (13) verhindert, bis das spitze distale Ende (11) sicher von dem Nadelfänger (41) abgedeckt ist,

1.7.1 

the coupling mechanism comprises an arm (45) having a proximal end and a distal end, the proximal end of the arm being attached to the movable needle trap (41), the distal end of the arm (45) including a projection (42) that is releasably retained with the catheter hub (13);

der Kopplungsmechanismus umfasst einen Arm (45) mit einem proximalen Ende und einem distalen Ende, wobei das proximale Ende des Arms an dem beweglichen Nadelfänger (41) angebracht ist, wobei das distale Ende des Arms (45) einen Vorsprung (42) aufweist, der lösbar mit dem Katheteransatz (13) gehalten wird;

1.7.2 

the projection (42) of the distal end of the arm (45) is releasably retained within a recess (32) of the catheter hub (13).

der Vorsprung (42) des distalen Endes des Arms (45) wird lösbar in/innerhalb einer Ausnehmung (32) des Katheteransatzes (13) gehalten.

110

4. Als für die hier maßgebliche Entwicklung und für die Beurteilung der objektiven Problemstellung berufenen Fachmann sieht der Senat vor dem Hintergrund der in der Beschreibung des Streitpatents dargestellten zahlreichen Einsatzmöglichkeiten der Nadelschutzvorrichtung, und insoweit von den Parteien unwidersprochen, einen Ingenieur der Fachrichtung Medizintechnik mit Diplom- bzw. Master-Abschluss, der über mehrjährige Erfahrung in der Konstruktion und Entwicklung von Injektionsvorrichtungen verfügt.

111

5. Nach dessen maßgeblichem Verständnis und einer sich am Gesamtzusammenhang orientierenden Betrachtung ist zu beurteilen, welche technische Lehre Gegenstand des Patentanspruchs 1 ist und welcher technische Sinngehalt den Merkmalen des Patentanspruchs im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit zukommt (st. Rspr. BGH, Urt. v. 12. März 2002, X ZR 168/00, GRUR 2002, 515 – Schneidmesser I).

112

Maßgeblich ist danach der seinem technischen Sinn nach aufzufassende Patentanspruch und ergänzend der Offenbarungsgehalt der Patentschrift, soweit dieser Niederschlag in dem betreffenden Patentanspruch gefunden hat (vgl. zur st. Rspr. BGH, Urt. v. 17. April 2007, X ZR 1/05 – Rn. 30, GRUR 2007, 959 – Pumpeinrichtung; BPatG, Urt. v. 26. Juni 2007, 3 Ni 22/04, GRUR 2009, 145, 147 m. w. N. – Fentanylpflaster).

113

Der Erfindungsgegenstand nach Patentanspruch 1 lässt sich in Verbindung mit der oben genannten Gliederung anhand der nachfolgenden kolorierten Seitenansichten Fig. 103–105 i. V. m. Abs. [0183]–[0190], welche Ausführungsbeispiele des Streitpatents B&M 6 betreffen und die auch den Vorgang der Katheteranbringung wiedergeben, wie folgt beschreiben:

Abbildung

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Abbildung

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Abbildung

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114

Die Nadelschutzanordnung („needle guard assembly“) nach Merkmal 1 dient dazu, die scharfe Nadelspitze nach Anbringung des Katheters i.V. (intravenös) im Körper mittels eines Gehäuses abzuschirmen, um die mit dieser spitzen Nadel einhergehende Verletzungsgefahr/Infektionsgefahr zu vermeiden. Dabei umfasst die Anordnung einen Katheteransatz („catheter hub“; Bz. 13; Merkmal 1.1), der zusammen mit dem nicht beanspruchten Dauerkatheter (Bz. 29, „indwelling catheter“) – gelb koloriert – am/im Körper verbleibt. Der Ansatz dient üblicherweise der Zufuhr von Infusionen mittels Schläuchen.

115

Die der Einführung des Katheters dienende Nadel – blau koloriert – weist das spitze distale Ende („sharpened distal end“, Bz. 11) auf und ist am Nadelansatz („needle hub“; Bz. 9) fixiert (s. Fig. 103; Merkmal 1.2). Der Nadelschutz 22a ist verschiebbar („slidably mounted“) auf der Nadel 11 angebracht (Merkmal 1.3), was sich aus den Fig. 103–105 ersehen lässt, die die Bewegung des Nadelschutzes relativ zur Nadel nach Freigabe des Katheters/Katheteransatzes zeigen. Der Nadelschutz umfasst dabei einen – hier wandähnlich ausgebildeten – Nadelfänger („needle trap“; Bz. 41), der in Richtung auf bzw. gegen die Nadel vorgespannt („biased“) ist, was durch eine Feder („resilient member“ 19) und/oder durch eine Formgedächtnislegierung („inherent memory of the molded configuration“; vgl. B&M 6: Abs. [0063]) bewerkstelligt wird (Merkmal 1.4).

116

Nach Merkmal 1.5 bewegt sich dieser Nadelfänger über das spitze, distale Ende der Nadel vorwärts und deckt es ab, wenn der Nadelschutz in die Nähe des distalen Endes gedrückt wird (vgl. in Fig. 105 den das spitze Ende der Nadel blockierenden Nadelfänger 41). Damit der Nadelfänger nicht über das Nadelende 11 hinausschießt, ist ein Begrenzungsmittel bzw. ein „Tether 24“ als „Fangleine“ vorgesehen, welches in beispielhafter Ausführung am Nadelschutz 22a und am Ansatz 9 befestigt ist (Merkmale 1.6, 1.6.1). Ein „Tether“ ist ein als Schnur, Befestigung oder flexible Befestigung ausgebildetes Halteband, das etwas Bewegliches an einem Bezugspunkt befestigt, der fixiert ist, aber auch beweglich sein kann.

117

Zusätzlich zur Nadelschutzanordnung ist ein Kopplungsmechanismus (Merkmalsgruppe 1.71.7.2) ausgebildet, der eine mechanische Trennung der Nadelschutzanordnung vom Katheteransatz 13 verhindert, bis das spitze distale Ende 11 sicher von dem Nadelfänger 41 abgedeckt ist (Merkmal 1.7). Dieser Kopplungsmechanismus umfasst – rot koloriert – einen Arm (Bz. 45) mit einem proximalen und distalen Ende, wobei das proximale Ende an dem beweglichen Nadelfänger 41 angebracht („attached“) ist und das distale Ende des Arms 45 einen Vorsprung aufweist („projection“; Bz. 42), der lösbar mit dem Katheteransatz 13 gehalten wird (Merkmal 1.7.1).

118

Gekennzeichnet ist der Kopplungsmechanismus dadurch, dass der Vorsprung am distalen Ende lösbar innerhalb/in („within“) einer Ausnehmung des Katheteransatzes gehalten wird (Merkmal 1.7.2). In den Fig. 103–105 wird der Vorsprung mit Bz. 42 durch die Ausnehmung Bz. 32 gehalten, die sich an der Innenseite des Ansatzes 13 befindet, wobei Merkmal 1.7.2 nach Patentanspruch 1 hierzu keine einschränkende Aussage trifft, da nur ein „recess“ und nicht ein „inner recess“ Gegenstand des Merkmals ist. Aus den Fig. 103–105 geht hervor, dass erst dann, wenn der Nadelschutz mit der Nadelfalle 41 über das spitze Ende der Nadel hinausgeführt wird, die Nadelfalle in den Schlitz 31 einrastet und simultan damit der Vorsprung 42 aus der Ausnehmung 32 geführt wird, sodass die mechanische Trennung von Nadelschutzanordnung und Katheteransatz auch zeitgleich mit dem Schutz der Nadelspitze erfolgt. Diese Simultanbewegung ist nicht Gegenstand des Patentanspruchs 1.

119

Zwischen den Parteien bildet den Kern der Auseinandersetzung zum gebotenen Verständnis der erfindungsgemäßen Lehre wie auch einer hieraus resultierenden Abgrenzung vom Stand der Technik und zur im parallelen Verletzungsverfahren angegriffenen Ausführungsform die Ausgestaltung des Nadelschutzes und seiner funktionellen Komponenten.

120

Der Senat sieht sich für die stets gebotene Auslegung eines Patentanspruchs und seiner einzelnen Merkmale insoweit zu folgenden Anmerkungen veranlasst. Dabei wird im Hinblick auf die nach der Verfahrenssprache maßgebende Begrifflichkeit insoweit auf die englischsprachige Fassung abgestellt, als die Übersetzung sich als ungenau oder nicht eindeutig erweist.

121

5.1. Danach ist die Nadelschutzanordnung selbst (Merkmal 1) gekennzeichnet durch die mindestens sie bildenden („comprising“), im Einzelnen aufgelisteten funktionellen Komponenten. Die Verbindung des Katheteransatzes 13 (Merkmal 1.1) mit dem Nadelschutz ist mechanisch lösbar und über das distale, mit anderen Worten dem der zu behandelnden Person näheren Ende des Arms, am Nadelfänger verwirklicht. Wie bei geläufigen Spritzen weist der Nadelansatz (Merkmal 1.2) eine an ihm fixierte Nadel mit einer üblichen Spitze am distalen Ende auf. Die verschiebbare Anbringung des Nadelschutzes auf der Nadel (Merkmal 1.3) ermöglicht eine manuelle wie auch eine z. B. durch Federkraft angetriebene Verschiebung. Auf welche Art die Verschiebung erfolgt, ist nicht Gegenstand des Patentanspruchs 1. Die Vorspannung des Nadelschutzes in Richtung bzw. entgegen der Nadel (Merkmal 1.4) beinhaltet eine Kraftkomponente senkrecht zur Nadelachse, sodass sich der Schutz aufgrund dieser Kraft vor die Nadelspitze zu schieben vermag. Mit dem Merkmal 1.5 wird die Vorrichtung durch ein Verfahrensmerkmal ausgestaltet, das den Zweck der Vorrichtung, nämlich die Blockade der Nadelspitze durch den sich über die Nadel bewegenden Nadelfänger, näher ausbildet. Danach ist der Nadelfänger so gestaltet, dass er diese Funktion zu erfüllen vermag.

122

5.2. Das Begrenzungsmittel nach den Merkmalen 1.6/1.6.1 soll u. a. die Anhängevorrichtung/„Tether“ 24 umfassen und ist nicht weiter räumlich-körperlich ausgestaltet. Es ist rein funktional dadurch definiert, dass das Begrenzungsmittel die Vorwärtsbewegung des Nadelschutzes längs der Nadel in irgendeiner Weise begrenzen soll (vgl. B&M 6: Abs. [0035]). Im Streitpatent angegebene Beispiele zur Ausgestaltung oder zu deren Eigenschaften (vgl. B&M 6: Abs. [0066]–[0067]) beschränken den Gegenstand insoweit nicht.

123

5.3. Der mit den Merkmalen 1.7 bis 1.7.2 ausgebildete Kopplungsmechanismus, der die (simultane oder konsekutive) mechanische Trennung der Nadelschutzanordnung vom Katheteransatz verhindert, bis das spitze Nadelende gesichert ist, wird in konstruktiver Hinsicht durch einen Arm verwirklicht, dessen proximales Ende am beweglichen Nadelfänger angebracht ist und der am anderen Ende, dem distalen Ende, einen Vorsprung 42 aufweist, wonach alle drei konstruktiven Elemente Nadelfänger, Arm und Vorsprung unterscheidbar und nach der Lage bestimmt vorhanden sind. Eine spezielle Form für diese Elemente ist nicht beansprucht. Der Begriff „Arm“ setzt keinen langgezogenen Körper voraus, wie die Beschwerdekammer meint (vgl. B&M 3: S. 31, Pkt. 7.3.1 le. Abs.). Aus Sicht des Senats ist ein Arm beispielsweise auch dann erfüllt, wenn seine Dicke seine Länge übertrifft. Denn es kommt nur auf die funktionale Erfüllung der auch von der Beklagten angeführten intrinsischen Verbindung zwischen den Bewegungen des Nadelfängers und des auf dem Arm angebrachten Vorsprungs an.

124

5.4. Nach Merkmal 1.7.2 wird der Vorsprung lösbar „within“ // in/innerhalb einer Ausnehmung // „recess“ des Katheteransatzes gehalten, dessen Anordnung auf dem Katheterhub nicht festgelegt ist, insbesondere also nicht innen sein muss, sondern sich auch auf der Außenseite des Katheterhubs befinden kann. Die Haltefunktion Funktion des „recess“ in räumlich-körperlicher Hinsicht und dessen Ausgestaltung wird nicht schon durch einen aus der Oberfläche herausragenden Teil (Vorsprung, Flansch, Luer-Lock-Anschluss) erfüllt, dessen Umgebung aus Ausnehmungen besteht und der die Trennung von Nadelschutzanordnung und Katheteransatz funktional solange verhindert, bis das spitze distale Ende der Nadel sicher von dem Nadelfänger abgedeckt ist. Denn das Streitpatent trennt zwischen solchen Ausbildungen, die einen Flansch und solchen, die eine Ausnehmung betreffen (vgl. z. B. B&M 6: Fig. 103–105 Bz. 32 „recess“ und Bz. 301 „flange“).

125

Damit ist, was eine Ausgestaltung einer erfindungsgemäßen Ausnehmung anbelangt, auch nach dem Verständnis des Streitpatents der dem Fachmann geläufigen Definition im „Handbook of Mechanical Engineering Terms“ (NB 2) zu folgen. Eine Ausnehmung („recess“) ist danach dadurch charakterisiert, dass es sich um eine in die normale Oberfläche als Bezugsebene eingekerbte Rille bzw. Vertiefung (vgl. NB 2: S. 8 „A groove cut below the normal surface of a workpiece“) handelt, nicht aber um ein aus dieser Bezugsebene herausragendes Teil, wie es z. B. durch einen Flansch gebildet wird.

126

Folglich besitzt eine Ausnehmung zumindest zwei Wände, ist aber hinsichtlich Länge oder Breite offen gehalten und kann auch im Hinblick auf seine Funktionalität im Zusammenwirken mit dem Vorsprung nicht als derart einschränkend offenbart angesehen werden, dass die zweite Seitenwand eng am Vorsprung anliegen muss, um den Vorsprung im Sinne einer verbesserten Haltefunktion in beide Axialrichtungen ggf. starr innerhalb der durch die Wände gebildeten Grenzen zu halten, anders als es die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts wegen der Ausdrücke „retained“ … „within“ bzw. „held in“ und die Beschwerdekammer im Zusammenhang mit einem nicht beanspruchten Luer-Lock-Mechanismus gesehen haben (vgl. B&M 2: S. 16 Abs. 2; B&M 3: S. 40 Abs. 2).

127

Diesem einschränkenden, die unmittelbar offenbarte Lehre bereits durch fachmännische Überlegungen weiterführenden Verständnis steht auch entgegen, dass zum einen die axiale Bewegung auch durch eine nicht am Vorsprung anliegende zweite Wand beschränkt wird; denn wie groß das Spiel, also der fertigungs- und anwendungsbedingte Bewegungsfreiraum, in dem sich ein mechanisches Bauteil nach der Montage gegen oder mit einem anderen Bauteil, der Baugruppe bzw. Funktionseinheit frei bewegen lässt, in beide Axialrichtungen sein darf, ist offen.

128

Auf die genaue geometrische Form der Ausnehmung („recess“) kommt es deshalb nicht an, solange die Funktion, den Vorsprung lösbar zu halten und nach Bedarf die axiale Bewegung bzw. das Spiel von Katheterschutzvorrichtung und Katheteransatz im verbundenen Zustand zu limitieren, gewährleistet ist.

129

Zum anderen ergibt sich aus der konkreten Ausbildung der Ausnehmung in Fig. 103, 118 des Streitpatents gerade keine Lehre und kein Verständnis dahin, dass die zweite distale Wand der Ausnehmung an dem Vorsprung anliegt. Insbesondere wirft die Fig. 105 des Streitpatents mit der dort gezeigten, zweiten schräg ausgebildeten Wand des „recess 32“ die Frage auf, ob mit dieser Ausgestaltung eine Blockade des Vorsprungs in axialer Richtung technisch überhaupt möglich ist.

130

Auch geht mit den Ausdrücken „retained … within“ bzw. „held in“ offensichtlich keine räumlich-körperliche Ausgestaltung im oben genannten einschränkenden Sinn einher. So lässt bereits die Wortwahl der die Priorität des Streitpatents bestimmenden B&M 12 mit der Passage zu Fig. 12 (vgl. S. 26 Z. 25–27) „with the moveable latching arm 26 having a protrusion 21 for retaining a component in a releasably held position on the hub portion 15“ keine signifikant unterschiedliche Bedeutung der Ausdrücke „retain“ and „hold“ erkennen.

131

Schließlich ist auch der sich aus der Argumentation der Beschwerdekammer zum Luer-Lock-Mechanismus herleitbaren Sichtweise, dass ein solcher Verschluss keine zwei Wände erlaube, nicht beizutreten, denn diese Konnektivität lässt sich bei entsprechender Ausbildung und Stellung der Wände zueinander in Abstimmung mit der Gewindesteigung ohne Weiteres nutzen.

II.

132

1. Der Senat sieht in dem Teilmerkmal

133

1.7.2 … within a recess of the catheter hub // … in/innerhalb einer Ausnehmung des Katheteransatzes

134

des Patentanspruchs 1 erteilter Fassung eine zur Nichtigerklärung führende sowie in den Fassungen der Hilfsanträge I bis IX eine der Zulässigkeit dieser Anträge entgegenstehende unzulässige Verallgemeinerung und Erweiterung des Inhalts der Anmeldung, wie sie sich in der WO 97/31666 A1 (B&M 9) bzw. der weitgehend wortgleichen EP 2 319 556 A1 (B&M 8) darstellt (Art. 138 Abs. 1 Buchst. c EPÜ i. V. m. Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG).

135

Nach Art. II § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IntPatÜG ist ein europäisches Patent mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären, wenn sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Der danach maßgebliche Inhalt der Anmeldung ist anhand der Gesamtheit der ursprünglich eingereichten Unterlagen zu ermitteln.

136

Insoweit hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung „teilreflektierende Folie“ (GRUR 2016, 50) seine Rechtsprechung zusammengefasst und betont, dass zum Offenbarungsgehalt einer Patentanmeldung nur das gehört, was den ursprünglich eingereichten Unterlagen unmittelbar und eindeutig als zu der zum Patent angemeldeten Erfindung gehörend zu entnehmen ist, nicht hingegen eine weitergehende Erkenntnis, zu der der Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens oder durch Abwandlung der offenbarten Lehre gelangen kann, wenn auch insoweit zu berücksichtigen ist, dass die Ermittlung dessen, was dem Fachmann zum Zeitpunkt der Einreichung der prioritätsbeanspruchenden Patentanmeldung als Erfindung und was als Ausführungsbeispiel der Erfindung im Stand der Technik offenbart wird, wertenden Charakter hat und eine unangemessene Beschränkung des Anmelders bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts der Voranmeldung zu vermeiden ist (BGH GRUR 2014, 542 – Kommunikationskanal).

137

Entscheidend ist danach, ob der Fachmann den Gegenstand des Patents der Gesamtheit der in den ursprünglichen Unterlagen offenbarten technische Lehre als mögliche – wenn auch allgemeinste – Ausgestaltung der angemeldeten Erfindung entnehmen kann (BGH GRUR 2015, 249 – Schleifprodukt; GRUR 2014, 1026 – Analog-Digital-Wandler). Ein „breit“ formulierter Anspruch kann deshalb unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Erweiterung jedenfalls dann als unbedenklich zu erachten sein, wenn sich ein in der ursprünglichen Anmeldung beschriebenes Ausführungsbeispiel der Erfindung für den Fachmann als Ausgestaltung der im Anspruch umschriebenen allgemeineren technischen Lehre darstellt und diese Lehre in der beanspruchten Allgemeinheit für ihn bereits der Anmeldung – sei es in Gestalt eines in der Anmeldung formulierten Anspruchs, sei es nach dem Gesamtzusammenhang der Unterlagen – als zu der angemeldeten Erfindung gehörend entnehmbar ist (BGH GRUR 2014, 970 – Stent).

138

Eine unzulässige Erweiterung liegt aber vor, wenn der Gegenstand des Patents sich für den Fachmann erst aufgrund eigener, von seinem Fachwissen getragener Überlegungen ergibt, nachdem er die ursprünglichen Unterlagen zur Kenntnis genommen hat, so wenn die Hinzufügung einen technischen Aspekt betrifft, der den ursprünglich eingereichten Unterlagen in seiner konkreten Ausgestaltung oder wenigstens in abstrakter Form nicht als zur Erfindung gehörend zu entnehmen ist (BGH GRUR 2013, 809 – Verschlüsselungsverfahren).

139

2. Diesen Grundsätzen entsprechend enthält Patentanspruch 1 mit dem (Teil)Merkmal 1.7.2 eine gegenüber dem Inhalt der Anmeldung unzulässig erweiterte Lehre dahingehend, dass, soweit der beanspruchte Kopplungsmechanismus betroffen ist, in den ursprünglichen Unterlagen ausschließlich Ausnehmungen in der Innenseite des Katheteransatzes („inner recess“) offenbart sind (vgl. den Ausdruck „an inner channel, recess, slot or undercut 32“ in B&M 9: S. 40 Z. 26; S. 41 Z. 17–18; S. 42 Z. 3–4; S. 68 Z. 29–30; S. 70 Z. 20–21; S. 77 Z. 2–3; S. 78 Z. 34; S. 79 Z. 19–20; entsprechend in B&M 8: Sp. 24 Z. 1–2, 29–30, 51–52; Sp. 41 Z. 26; Sp. 42 Z. 31–32; Sp. 46 Z. 38–39; Sp. 47 Z. 52–53; Sp. 48 Z. 16 und Patentanspruch 9). In diesen Passagen bezieht sich das Wort „inner“ zweifelsfrei auf alle vier Substantive und zwar linguistisch (andernfalls: „an inner channel, a recess …“ etc.), denklogisch (durch Klammerung mit dem Bezugszeichen 32) und unter Berücksichtigung des durch sämtliche Figuren vermittelten technischen Verständnisses (vgl. B&M 9: Fig. 61–63, 103–105, 118, 121).

140

Insoweit muss auch berücksichtigt werden, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Patentschrift in einem sinnvollen Zusammenhang zu lesen und der Patentanspruch im Zweifel so zu verstehen, dass sich keine Widersprüche zu den Ausführungen in der Beschreibung und den bildlichen Darstellungen in den Zeichnungen ergeben. Eine Auslegung des Patentanspruchs, die zur Folge hätte, dass keines der in der Patentschrift geschilderten Ausführungsbeispiele vom Gegenstand des Patents erfasst würden, kommt danach nur dann in Betracht, wenn andere Auslegungsmöglichkeiten, die zumindest zur Einbeziehung eines Teils der Ausführungsbeispiele führen, zwingend ausscheiden oder wenn sich aus dem Patentanspruch hinreichend deutliche Anhaltspunkte dafür entnehmen lassen, dass tatsächlich etwas beansprucht wird, das so weitgehend von der Beschreibung abweicht (BGH, Urteil vom 14. Oktober 2014 – X ZR 35/11, GRUR 2015, 159 Rn. 26 – Zugriffsrechte).

141

Werden in der Beschreibung mehrere Ausführungsbeispiele als erfindungsgemäß vorgestellt, sind deshalb die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Zweifel so zu verstehen, dass sämtliche Ausführungsbeispiele zu ihrer Ausfüllung herangezogen werden können (BGH Urt. v. 02.06.2015, X ZR 103/13 = GRUR 2015, 972 – Kreuzgestänge).

142

Im gesamten Anmeldedokument findet sich lediglich eine Passage, in welcher die Ausnehmung/„recess 32“ ohne das vorangestellte Adjektiv „inner“ beschrieben wird (vgl. B&M 9: S. 7 Z. 20 ff., insb. Z. 27; entsprechend in B&M 8 Abs. [0036]):

Abbildung

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143

Aus Sicht des Fachmanns stehen die Zeilen 26–29 dieser Passage in einem untrennbaren funktionalen Zusammenhang (vgl. BGH Urt. v. 17. Februar 2015, X ZR 161/12, GRUR 2015, 573 – Wundbehandlungsvorrichtung), sodass sich bei der dort offenbarten, eine Zusammenfassung der Erfindung bildenden allgemeinen Lehre nach dem technischen Verständnis dieser Lehre die Ausnehmung („recess“) an der Innenseite des Katheteransatzes befinden muss und der Fachmann den „recess“ als „inner recess“ liest.

144

Denn bei einem in der gesamten Patentanmeldung – im Übrigen auch nicht genannten „outer recess“ – geht mit der Bewegung des Vorsprungs beim Verlassen des „recess“ gerade kein „inward movement“ des Arms, sondern im Gegenteil eine Bewegung nach außen, ein „outward movement“ einher. Somit erlaubt diese Textstelle nicht die Schlussfolgerung, dass der Fachmann bei deren unbefangenen Lektüre überhaupt eine Ausnehmung auch an der Außenseite in Betracht zieht und als offenbart ansieht. Gerade wegen der Bewegung des Arms nach innen und des damit als einzige technische Lösung offenbarten, konstruktiv in einfacher Weise verwirklichten, funktionellen Zusammenhangs einer Armbewegung nach innen und des Lösens der Verbindung von Vorsprung und der im Katheteransatz-Inneren angebrachten Ausnehmung erfährt der Fachmann durch diese Offenbarung keine Anregung für ein Verständnis dahingehend, die Ausnehmung außen am Katheteransatz mitzulesen. Zu einem derartigen Verständnis kann der Fachmann deshalb allenfalls durch weitere aufgrund von Fachwissen getragene Überlegungen gelangen, nachdem er die ursprünglichen Unterlagen zur Kenntnis genommen hat. Ein derartiges Verständnis ist deshalb nicht Gegenstand der unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung der ursprünglichen Anmeldeunterlagen (siehe BGH Urt. v. 11.2.2014, X ZR 107/12 = GRUR 2014, 542 – Kommunikationskanal).

145

Selbst wenn man unterstellt, der Fachmann würde beide Möglichkeiten einer inneren und äußeren Ausnehmung im Hinblick auf ihre den erfindungsgemäßen Erfolg förderliche Wirkung betrachten und insoweit berücksichtigt, dass das Interesse des Anmelders regelmäßig erkennbar darauf gerichtet ist, möglichst breiten Schutz zu erlangen, also die Erfindung in möglichst allgemeiner Weise vorzustellen und nicht auf aufgezeigte Anwendungsbeispiele zu beschränken, so muss berücksichtigt werden, dass sich der Fachmann im Hinblick auf ein verallgemeinerndes Verständnis der Ausnehmung fragen würde, ob eine Ausnehmung überhaupt an der Außenseite des Katheteransatzes möglich wäre und deshalb gemeint sein kann. Auch dies ist zu verneinen, da der Fachmann unmittelbar erkennt, dass konstruktionsbedingt eine Bewegung des Arms nach innen notwendig ist, um den Nadelfänger vor die Nadelspitze der Nadel zu führen und die Offenbarung ihm insoweit unmittelbar keinen gangbaren Weg zu einer Konstruktion mit einer Ausnehmung an der Außenseite des Katheteransatzes aufzeigt. Ob dieser Weg überhaupt als naheliegend angesehen werden könnte, kann dahinstehen und ist, wie noch aufzuzeigen ist, durchaus fraglich.

146

Wie bereits ausgeführt (vgl. auch Sichtweise der Rechtbank B&M 36.3 Abs. 4.2 –4.10), spricht die Patentanmeldung im Übrigen für das Halten des Arms ausschließlich von „an inner channel, recess, slot or undercut“ des Katheteransatzes und zeigt auch in den genannten Figuren nicht anderes. Somit müsste sich der Fachmann von der patentanmeldungsgemäßen Lösung abwenden und eine anders gestaltete Vorrichtung überlegen, welche nicht zwingend den weltweit standardisierten (ISO)-Normen genügen muss, wie die Rechtbank meint (a. a. O.: Abs. 4.8).

147

Die Beklagte hat in diesem Zusammenhang als Anlage 1 eine Seite eines von der Klägerin als verspätet beanstandeten Gutachtens von Dr. H… in der Verhand- lung präsentiert. In diesem Gutachten nimmt Dr. H… zu der Frage Stellung, ob das Streitpatent dem Fachmann auch eine Lösung nahelege, bei welcher die Ausnehmung außen am Katheteransatz angebracht ist. Das Streitpatent lasse danach dem Fachmann freie Wahl in der Anbringung der Vertiefung, denn hinsichtlich des Kopplungsmechanismus seien durch das Streitpatent weder der Arm in der Ausbildung beschränkt („design freedom“) noch eine Bewegung des distalen Vorsprungs nach innen festgelegt. Damit gelange man beispielsweise zu der folgenden Ausgestaltungsmöglichkeit:

Abbildung

148

Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Vorrichtung funktionstauglich ist, was die Klägerin bestreitet. Aus der Zeichnung erschließt sich zumindest nicht, wie die Verbindung von Nadelschutzanordnung und Katheteransatz im oberen, der Ausnehmung gegenüberliegenden Teil der Vorrichtung zu stabilisieren wäre, um ein Auseinanderfallen entlang des die Durchführung der „projection“ nach außen ermöglichenden Spaltes zu verhindern. Die vorgestellte konstruktive Lösung weicht jedenfalls wesentlich von der allgemeinen Lehre der Passage auf S. 7 der B&M 9 ab, insoweit, als sich der Großteil des mit Arm bezeichneten Bauelements gerade nicht nach innen, sondern über die Nadelachse hinaus nach außen bewegt und damit nicht die allgemeine Lehre verwirklicht. Zudem verlangt sie die Durchführung der „projection“ durch das Gehäuseinnere. Ausgehend von der funktionsfähigen Ausgestaltung der Fig. 118 der B&M 9 handelt es sich deshalb aus Sicht des Senats um eine erfinderische Weiterbildung im Lichte der Aufgabe, die Ausnehmung außen am Katheteransatz vorzusehen.

149

Der Auffassung der Beklagten, dass das Merkmal 1.7.2 durch die wörtliche Formulierung „a recess“ in der B&M 9 S. 7 ab Z. 20 als allgemeine technische Lehre offenbart sei, kann deshalb aus den oben genannten Gründen nicht beigetreten werden.

150

Auch das von der Beklagten herangezogene Argument, dass die Anmeldeunterlagen B&M 9 in Fig. 19 eine Ausführungsform mit einer äußeren Ausnehmung offenbaren, führt nicht weiter. Denn hierzu müsste der Fachmann eine der unmittelbaren Offenbarung entgegenstehende derartige Transferleistung vornehmen, da die mit den Fig. 15 bis 19 verbundene Lehre schon nicht die Befestigung eines I.V.-Katheters (vgl. B&M9: S. 20 Z. 13 – S. 22 Z. 2 i. V. m. Fig. 15–19) betrifft. Nach dem dort gelehrten Prinzip wird ein Nadelschutz 41 mittels Federkraft über die Nadelspitze geschoben, wobei das Lösen einer Verbindung wie die Freigabe des Katheteransatzes nicht vorgesehen ist. Aber selbst wenn der Fachmann den dort gezeigten „latching arm 26“, der als Kippschalter ausgebildet ist, für die Ausführungsform nach z. B. Fig. 118 nicht nur aufgrund weiterführender Überlegungen in Betracht zöge, sondern sich ihm eine derartige Lehre unmittelbar aus der Offenbarung erschlösse, ließe sich mit dieser konstruktiven Lösung keine Inwärtsbewegung des Arms realisieren, da sich konstruktionsbedingt immer ein Teil des Arms nach außen bewegt. Eine derartige Lehre wäre deshalb nicht einmal zielführend.

151

Somit geht der Inhalt von Patentanspruch 1 – und damit auch die abhängigen weiteren angegriffenen Ansprüche in ihrem Rückbezug auf Anspruch 1 – über denjenigen der ursprünglichen Anmeldeunterlagen in unzulässiger Weise hinaus und Patentanspruch 1 hat keinen Bestand.

152

Damit erweisen sich auch sämtliche Fassungen nach den Hilfsanträgen I–IX als unzulässig geändert, da sie das Merkmal 1.7.2 uneingeschränkt übernehmen und die hinzugekommenen Merkmale nicht eine weitere Ausbildung dieses Merkmals betreffen, insbesondere die Lehre nicht auf die ursprüngliche Offenbarung zurückführen.

III.

153

Ein mit den Merkmalen 1.7.1 und 1.7.2 beanspruchter Arm mit Nadelfänger und Vorsprung ist, von den Parteien unstreitig, einzig in der prioritätsbegründenden US 31399 P (B&M 12/P3) als Ausbildung offenbart (vgl. a. a. O.: Fig. 19–21 und 33, 35).

154

Was eine beliebig an dem Katheteransatz angebrachte Ausnehmung („recess“) anbelangt, bleibt die Offenbarung der B&M 12 hinter den Anmeldeunterlagen B&M 8 und B&M 9 zurück. Denn eine der B&M 9, S. 7 Z. 20 ff. bzw. der B&M 8 Abs. [0036]) entsprechende Passage enthält die B&M 12 nicht. Damit offenbart auch das zur Prioritätsbegründung herangezogene Dokument B&M 12 nur Katheteransätze mit innerer Ausnehmung („inner recess“; vergl. in B&M 12 die den Fig. 103–105 des Streitpatents entsprechenden Fig. 19–21 sowie S. 31, Z. 21, S. 22, Z. 11 ff. und, die anderen Ausführungsformen betreffend, den Hinweis auf den „inner recess“ auf S. 40 Z. 11, S. 42, Z. 7–8, 25–26, S. 44 Z. 31 – S. 45 Z. 1). Zur Auslegung der Formulierung „an inner channel, recess, slot or undercut 32“ in P3 kann auf die obigen Ausführungen zur unzulässigen Erweiterung Bezug genommen werden.

155

Im Übrigen wird insoweit auf die gleichlautende Einschätzung der Einspruchsabteilung (vgl. B&M 2: S. 7–9, Pkt. 3), des Handelsgerichts Wien (vgl. B&M 4: S. 14) und der Rechtbank Den Haag (vgl. B&M 36.3: S. 3 Abs. 4.12.) verwiesen.

IV.

156

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. §§ 91 Abs. 1 ZPO.

157

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.