Entscheidungsdatum: 23.09.2010
In der Patentnichtigkeitssache
…
betreffend das deutsche Patent 197 31 532
hat der 4. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 23. September 2010 durch den Vorsitzenden Richter Rauch, die Richterin Friehe, die Richter Dipl.-Phys. Dr. Morawek, Dipl.-Ing. Bernhart und Dipl.-Phys. Dr. Müller
für Recht erkannt:
1. Das deutsche Patent 197 31 532 wird für nichtig erklärt.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte ist eingetragener Inhaber des deutschen Patents 197 31 532 (Streitpatent), das am 25. Juli 1997 angemeldet und am 25. Februar 1999 veröffentlicht wurde. Es betrifft einen Kindernuckel und umfasst einen Patentanspruch mit folgendem Wortlaut:
Kindernuckel, bei dem die Verbindung zwischen Lutschkörper und Lippenschild aus einem flachen Transmitterkörper besteht, dadurch gekennzeichnet, dass der Transmitterkörper (4a, 4b) leicht oder stark abgewinkelt ist.
Die Klägerin ist der Ansicht, der Gegenstand des Streitpatent sei gegenüber der vor dem Anmeldetag des Streitpatents angemeldeten, nachveröffentlichten Druckschrift
N3 WO 98/02132 A 1,
aus der ein auch mit Wirkung für Deutschland erteiltes europäisches Patent hervorging, nicht neu und daher nicht patentfähig.
Die Klägerin beantragt,
das deutsche Patent 197 31 532 für nichtig zu erklären.
Der Beklagte beantragt
Klageabweisung.
Er ist der Ansicht, die Nichtigkeitsklage sei unzulässig. Denn zwischen dem Patentinhaber und einer Firma N… GmbH gebe es einen Lizenzvertrag, der eine Nichtangriffsverpflichtung beinhalte. Bei der Nichtigkeitsklägerin handele es sich um einen Werkzeughersteller, der möglicherweise Werkzeuge für die Herstellung der Kindernuckel herstelle. Es sei nahe liegend, dass es eine Verbindung zwischen der Nichtigkeitsklägerin und der Fa. N… GmbH gebe und dass durch die Klage die Nichtangriffsverpflichtung der N… GmbH umgangen werden solle.
Die Nichtigkeitsklägerin weist hierzu darauf hin, dass eine Nichtigkeitsklage gegen ein bestehendes Patent ein Rechtsschutzinteresse nicht voraussetzt. Sie müsse ein solches auch nicht darlegen; die vom Nichtigkeitsbeklagten behaupteten Indizien reichten nicht aus, um ihr eine Darlegungslast aufzubürden. Soweit der Beklagte ein gemeinsames Interesse der Nichtigkeitsklägerin und der Fa. N… GmbH vermute, würde ein solches gemeinsames Interesse dazu führen, dass unabhängig von der Nichtangriffsverpflichtung der Fa. N… GmbH die vorliegende Nichtigkeitsklage zulässig wäre. Zwischen der Nichtigkeitsklägerin und der Fa. N… GmbH bestünden keine geschäftlichen Beziehungen.
Im Übrigen ist der Beklagte der Ansicht, dass der Gegenstand des Streitpatents patentfähig und insbesondere die Merkmale des Gegenstands des Streitpatents durch die N3 nicht vorweggenommen seien.
I.
Die Klage ist zulässig. Insbesondere gibt es keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür, dass die Nichtigkeitsklägerin als Strohmann für die wegen des Lizenzvertrags von der Erhebung einer Nichtigkeitsklage ausgeschlossene Fa. N… GmbH tätig war, als sie die Nichtigkeitsklage erhob. Die entsprechenden Vermutungen des Beklagten sind nicht geeignet, der Nichtigkeitsklägerin eine entsprechende Darlegungslast aufzubürden.
Ausgangspunkt ist zunächst, dass die Nichtigkeitsklage eine Popularklage ist, mit der der Kläger das öffentliche Interesse an der Nichtigerklärung eines zu Unrecht erteilten Patents wahrnimmt. Entsprechend ist der Nachweis eines rechtlichen Interesses für eine auf den Mangel der Patentfähigkeit gestützte Nichtigkeitsklage grundsätzlich nicht erforderlich, solange das Patent in Kraft ist (BGH GRUR 1998, 904 ff. - Bürstenstromabnehmer).
Ausnahmsweise ist eine Nichtigkeitsklage aber dann unzulässig, wenn sich ihre Erhebung als Verstoß gegen Treu und Glauben darstellt, zum Beispiel wenn der Kläger als Strohmann mit einem Dritten zum Zweck der Umgehung einer für diesen geltenden Nichtangriffsabrede kollusiv zusammenwirkt, wie dies vorliegend der Beklagte vermutet. Die materielle Beweislast hierfür liegt bei dem Beklagten. Dessen Vortrag erschöpft sich allerdings insoweit in vagen Vermutungen, die den hinreichenden Verdacht eines kollusiven Zusammenwirkens der Nichtigkeitsklägerin und der Fa. N… GmbH nicht ausreichend nahelegen.
Zunächst trägt der Nichtigkeitsbeklagte selbst vor, die Fa. N… GmbH habe sich für die Details der vorliegenden Nichtigkeitsklage weder interessiert noch dem Nichtigkeitsverfahren beitreten wollen. Das ist entgegen der Ansicht des Beklagten gut nachvollziehbar: Die vorliegende Nichtigkeitsklage ist - jedenfalls für sich allein - nicht geeignet, die Fa. N… GmbH im Hinblick auf den Lizenzvertrag in eine entscheidend bessere Lage zu bringen. Denn nach dem vom Beklagten vorgelegten Lizenzvertrag ist die Lizenzgebühr zu zahlen, wenn der Gegenstand mindestens eines Schutzanspruchs eines der lizenzierten Schutzrechte benutzt wird. Verurteilt wurde die Fa. N… GmbH durch LG und OLG Düsseldorf wegen der Benutzung des Gegenstands des Patents DE 102 27 787 (und nicht wegen der Benutzung des Streitpatents). Allein die Nichtigerklärung des Streitpatents würde an der Situation der Fa. N… GmbH mithin nichts Entscheidendes ändern.
Hinzu kommt, dass die Nichtigkeitsklägerin erklärt hat, dass zwischen ihr und der Fa. N… GmbH keine geschäftlichen Beziehungen bestehen.
Es mag ungewöhnlich sein, dass ein Werkzeughersteller eine Nichtigkeitsklage gegen ein Patent für einen Kindernuckel erhebt. Der Vertreter des Beklagten hat aber in der mündlichen Verhandlung selbst gemutmaßt, dass die Nichtigkeitsklägerin möglicherweise Werkzeuge für die Herstellung von Kindernuckeln herstellt oder herstellen will. Das würde ein eigenes Interesse der Klägerin an der Nichtigerklärung des Patents begründen.
Jedenfalls gibt es keine hinreichenden Indizien für ein kollusives Zusammenwirken der Fa. N… GmbH und der Nichtigkeitsklägerin und damit auch keinen Ausnahmefall, in dem es geboten erschiene, der Nichtigkeitsklägerin aufzugeben, ihr eigenes Interesse an der Nichtigerklärung des Patents konkret darzulegen.
II.
Die Klage ist auch begründet. Der Gegenstand des Streitpatents ist nicht patentfähig, weil er nicht die erforderliche Neuheit aufweist (§ 22 Abs. 1, § 21 Abs. 1 Nr. 1 i. V. mit § 3 PatG).
1. Das Streitpatent betrifft einen Kindernuckel, bei dem die Verbindung zwischen Lutschkörper und Lippenschild aus einem flachen Transmitterkörper besteht (vgl. Streitpatentschrift Spalte 1, erster Absatz).
Wie in der Streitpatentschrift ausgeführt ist, werden zur Beruhigung von Kleinkindern häufig sogenannte Beruhigungssauger oder andere Lutschkörper eingesetzt. Darüber hinaus saugten Kleinkinder zur Beruhigung an ihrem eigenen Daumen. Hierdurch werde, insbesondere bei häufigem Saugen an dem Daumen oder an entsprechenden Lutschkörpern, ein sogenannter lutschoffener oder frontaloffener Biss hervorgerufen, der in späterer Zeit nur mühsam, insbesondere durch kieferorthopädische Maßnahmen, wieder beseitigt werden könne (vgl. Streitpatentschrift Spalte 1, zweiter Absatz).
Bisher angebotene Beruhigungssauger wiesen einen sogenannten Lutschkörper, der sich in der Einsatzlage im Kindesmund befinde, und ein sogenanntes Lippenschild auf, das außerhalb des Mundes vor den Lippen verbleibe, um ein Verschlucken des Kindernuckels zu verhindern. Beide Teile seien herkömmlich in der Weise miteinander verbunden, dass eine Verlängerung des Lutschkörpers die Verbindung und Befestigung zum Lippenschild herstelle. Dies habe zur Folge, dass das Kleinkind die Zahnreihen nicht vollständig schließen könne und infolgedessen ein lutsch- oder frontaloffener Biss entstehe (vgl. Streitpatentschrift Spalte 1, dritter Absatz).
Es seien auch bereits Beruhigungssauger bekannt geworden, bei denen die Verbindung zwischen Lutschkörper und Lippenschild aus einem flachen Transmitterkörper bestehe. So werde in der WO 96/20687 ein Kindernuckel mit einem hohlen und/oder mit Gel gefüllten Transmitterkörper beschrieben. Durch den hohlen Transmitterkörper solle ein Luftkanal gebildet werden, durch den der Druckunterschied zwischen Mundinnerem und Mundäußerem, der beim Saugen entstehe, ausgeglichen werden solle (vgl. Streitpatentschrift Spalte 1, vierter Absatz).
2. Dementsprechend stellt sich das Streitpatent die Aufgabe, einen Kindernuckel der gattungsgemäßen Art derart weiterzubilden, dass die Entstehung eines offenen Bisses besser verhindert und ein vorhandener offener Biss besser geschlossen werden könne (vgl. Streitpatentschrift Spalte 1, fünfter Absatz).
3. Der mit Gliederungspunkten versehene Patentanspruch des Streitpatents beschreibt daher einen
M1 Kindernuckel,
M2 bei dem die Verbindung zwischen Lutschkörper und Lippenschild aus einem flachen Transmitterkörper besteht,
dadurch gekennzeichnet,
M3 dass der Transmitterkörper (4a, 4b) leicht oder stark abgewinkelt ist.
4. Der zuständige Fachmann ist ein mit der Entwicklung von Kindernuckeln befasster und mit der Behandlung eines offenen Bisses vertrauter berufserfahrener Kieferorthopäde.
5. Der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 ist nicht neu gegenüber dem Stand der Technik nach der Druckschrift N3 .
Die Druckschrift N3 stellt Stand der Technik gem. § 3 Abs. 2 Nr. 3 PatG dar und ist daher nur für die Frage der Neuheit zu berücksichtigen.
Aus der Druckschrift N3 (vgl. Seite 1, erster Absatz) ist ein Kindernuckel (pacifier) ( M1 ) bekannt.
Bei diesem Kindernuckel (vgl. die Figuren 1 bis 3 mit Beschreibung) besteht die Verbindung zwischen Lutschkörper (bubble body 18) und Lippenschild (stop disc 16) aus einem flachen Transmitterkörper (transition and connection portion 20).
Flach bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass die Dicke des Transmitters über die ganze Länge gleich ist, wie der Patentinhaber offensichtlich mit seinem Argument, wonach der Transmitterkörper im Sinne des Merkmals M2 als Ganzes flach sei, meint. Ein flacher Transmitter kann auch Verdickungen am Lippenschild bzw. im Lippenbereich oder kerbenartige Vertiefungen aufweisen; ausreichend ist, dass er - wie der Gegenstand der Entgegenhaltung - im entscheidenden Bereich eine geringe Dicke und eine große Breite hat.
Auf Seite 8 der N3 ist im zweiten Absatz hierzu ausgeführt: „The intermediate transition and connection portion 20 is formed and dimensioned such that it exhibits a small thickness and a relatively large width…“.
Ein über die ganze Länge gleich dicker Transmitterkörper ist im Übrigen auch nicht beansprucht und außerdem auch nicht offenbart, auch nicht aus den lediglich schematischen Zeichnungen. Für den Fachmann genügt der oben zitierte Hinweis in der Druckschrift N3 , wonach der Transmitterkörper eine geringe Dicke und eine relativ große Breite aufweist, um diesen als flach ausgebildet zu verstehen.
Der Transmitterkörper ist leicht oder stark abgewinkelt, so dass auch das Merkmal M3 aus der N3 bekannt ist. Dies ist ersichtlich aus den Figuren 1 bis 3 und der Beschreibung Seite 8, dritter Absatz: „…The transition and connection portion 20 exhibits two oppositely directed, in longitudinal cross-sections notch-like grooves 30 and 32…“ sowie aus dem Patentanspruch 10: „…follows an upwardly sloping course“.
Dass die kerbenartigen Vertiefungen (grooves 30, 32) im Transmitterkörper diesen leicht oder stark abgewinkelt ausbilden, ergibt sich von selbst und ist auch aus den Figuren 1 bis 3 ersichtlich.
Damit sind alle Merkmale des Gegenstandes gemäß dem erteilten Patentanspruch aus der Druckschrift N3 bekannt.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.