Entscheidungsdatum: 10.08.2017
In der Beschwerdesache
…
betreffend die Marke 30 2012 056 422
hat der 30. Senat (Marken- und Design-Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts in der Sitzung vom 10. August 2017 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Prof. Dr. Hacker sowie der Richter Merzbach und Dr. Meiser
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Widersprechenden werden die Beschlüsse der Markenstelle für Klasse 5 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 16. September 2014 und vom 17. April 2015 aufgehoben.
Wegen des Widerspruchs aus der Unionsmarke 011 279 684 wird die Löschung der Marke 30 2012 056 422 angeordnet.
I.
Die am 5. November 2012 angemeldete Wortmarke
Biorganics
ist am 1. März 2013 unter der Nummer 30 2012 056 422 für die Waren
"Klasse 05: Nahrungsergänzungsmittel für Mensch und Tier
Klasse 31: Futtermittel"
in das beim Deutschen Patent- und Markenamt geführte Register eingetragen worden. Die Veröffentlichung erfolgte am 5. April 2013.
Gegen die Eintragung ist am 24. Juni 2013 Widerspruch erhoben worden von der Inhaberin der am 19. Oktober 2012 angemeldeten und am 18. Oktober 2013 eingetragenen Marke Unionsmarke 011 279 684
BIORGA
die für die Waren
"Klasse 05: Pharmazeutische und veterinärmedizinische Erzeugnisse; Hygienepräparate für medizinische Zwecke; Diätetische Lebensmittel und Erzeugnisse für medizinische oder veterinärmedizinische Zwecke; Babykost; Nahrungsergänzungsmittel für Menschen und Tiere; Nahrungsergänzungsmittel; Pflaster, Verbandmaterial; Desinfektionsmittel; Fungizide. Medizinische Bäder, Binden, Schlüpfer oder Damenbinden; Chemische Erzeugnisse für medizinische oder pharmazeutische Zwecke, ausgenommen für zahnmedizinische Zwecke; Medizinische Kräuter; Kräutertees für medizinische Zwecke; Parasitenvertilgungsmittel"
geschützt ist.
Die Markenstelle für Klasse 5 des Deutschen Patent- und Markenamts hat mit zwei Beschlüssen vom 16. September 2014 und vom 17. April 2015, von denen letzterer im Erinnerungsverfahren ergangen ist, eine Verwechslungsgefahr zwischen beiden Marken verneint und den Widerspruch zurückgewiesen
Zwar könnten sich beide Marken auf identischen bzw. hochgradig ähnlichen Waren begegnen. Ferner verfüge die Widerspruchsmarke "BIORGA" als Phantasiewort über eine normale Kennzeichnungskraft. Es sei nicht ohne weiteres erkennbar, dass die Marke sich aus den Bestandteilen "BIO" und "ORGA" (als Kurzform von "ORGANICS") zusammensetze und der Buchstabe "O" in der Wortmitte einmal weggelassen worden sei. "ORGA" sei zudem keine gebräuchliche Kurzform für "ORGANICS" oder "ORGANISCH". Vielmehr werde "ORGA" eher als Kurzform für den vorliegend nicht beschreibenden Begriff "Organisation" verwendet und in diesem Sinne auch verstanden.
Aber auch soweit die angegriffene Marke danach zur Vermeidung einer Verwechslungsgefahr einen deutlichen Markenabstand aufweisen müsse, werde dieser Abstand gewahrt.
In klanglicher Hinsicht liege allenfalls eine entfernte Ähnlichkeit vor. Die Zeichen stimmten zwar in den ersten drei Silben überein. Es bestünden jedoch erhebliche Unterschiede bei Betonung und Aussprache. So werde die angegriffene Marke englisch wie "BI-OR-GÄ-NICKS" oder sogar wie "BEI-OR-GÄ-NICKS" ausgesprochen, die angegriffene Marke hingegen wie "BI-OHR-GA" mit einer Betonung der zweiten, etwas gedehnter artikulierten Silbe. Die angegriffene Marke werde hingegen stark auf der letzten Silbe "-nics" betont und klinge hart und kurz am Ende. Durch die Betonung beider Markenwörter trete die erste Silbe der beiden Worte in der Wahrnehmung leicht zurück, selbst bei einer "deutschen" Aussprache dieser Silbe. Die markant hervortretende Endsilbe der angegriffenen Marke finde hingegen keine Entsprechung in der Widerspruchsmarke. Zudem sei der Sprachrhythmus beider Zeichen verschieden.
Beide Marken verfügten ferner durch ihre unterschiedlichen Wortlängen sowie der bei der Widerspruchsmarke nicht vorhandenen Überlänge des Buchstabens "i" am Ende der angegriffenen Marke über deutlich verschiedene Schriftbilder, so dass eine allenfalls entfernte schriftbildliche Ähnlichkeit angenommen werden könne.
Auch in begrifflicher Hinsicht bestehe keine Ähnlichkeit zwischen den Marken.
Die angegriffene Marke werde auch nicht durch den Bestandteil "Biorga" geprägt, da der Verkehr keinen Anlass habe, den Bestandteil "organics" auf "orga" zu verkürzen.
Da die Buchstabenfolge BIORGA innerhalb der angegriffenen Marke auch nicht als Stammbestandteil wahrgenommen werden könne, scheide auch eine mittelbare Verwechslungsgefahr unter dem Gesichtspunkt eines Serienzeichens aus.
Gegen diese Beurteilung richtet sich die Beschwerde der Widersprechenden. Sie macht geltend, dass die angegriffene Marke nicht wie "BI-OR-GÄ-NICKS" oder sogar "BEI-OR-GÄ-NICKS", sondern sprachregelkonform wie "BI-OR-GA-NICS" ausgesprochen werde. Dieser stehe die wie "BI-OR-GA" artikulierte Widerspruchsmarke gegenüber. Bei beiden Zeichen trete die Lautfolge "BIO" in ihrer Bedeutung "natürlich" oder "ökologisch" nicht eigenständig hervor; vielmehr handele es sich um Phantasienamen mit dem gemeinsamen kreativen und phantasievollen Bestandteil "BIORGA". Aufgrund des gemeinsamen, aus drei Silben und sechs Buchstaben bestehenden identischen, betonten und die Marken prägenden Wortbestandteils "BIORGA" am jeweiligen Wortanfang bestehe eine hochgradige klangliche wie schriftbildliche Ähnlichkeit. Die Widerspruchsmarke sei komplett in der angegriffenen Marke enthalten. Demgegenüber falle der abweichende Bestandteil nicht wesentlich ins Gewicht, zumal beide Marken im Hinblick auf die kreative Verknüpfung von "Bio" und "organisch" auch in begrifflicher Hinsicht hochgradig ähnlich seien.
Jedenfalls könne aufgrund der Übereinstimmung der Widerspruchsmarke mit dem Zeichenbestandteil "Biorga" der angegriffenen Marke eine mittelbare Verwechslungsgefahr bzw. eine Verwechslungsgefahr im weiteren Sinne nicht verneint werden.
Die Widersprechende beantragt sinngemäß,
die angefochtenen Beschlüsse der Markenstelle für Klasse 5 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 16. September 2014 und vom 17. April 2015 aufzuheben und die Marke 30 2012 056 422 zu löschen.
Die Inhaberin der angegriffenen Marke und Beschwerdegegnerin hat sich am Beschwerdeverfahren nicht beteiligt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg, da zwischen den Vergleichsmarken eine Verwechslungsgefahr im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 125b Nr. 1 MarkenG besteht.
A. Ob Verwechslungsgefahr vorliegt, ist nach der Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofes als auch des Bundesgerichtshofes unter Beachtung aller Umstände des Einzelfalls umfassend zu beurteilen (vgl. z. B. EuGH GRUR 2010, 1098, Nr. 44 - Calvin Klein/HABM; GRUR 2010, 933, Nr. 32 - BARBARA BECKER; GRUR 2011, 915, Nr. 45 - UNI; BGH GRUR 2012, 1040, Nr. 25 - pjur/pure; GRUR 2012, 930, Nr. 22 - Bogner B/Barbie B; GRUR 2012, 64, Nr. 9 - Maalox/Melox-GRY; GRUR 2010, 235, Nr. 15 AIDA/ AIDU). Von maßgeblicher Bedeutung sind insoweit die Identität oder Ähnlichkeit der zum Vergleich stehenden Marken sowie der von diesen erfassten Waren (oder Dienstleistungen). Darüber hinaus ist die Kennzeichnungskraft der älteren Marke und - davon abhängig - der dieser im Einzelfall zukommende Schutzumfang in die Betrachtung mit einzubeziehen. Dabei impliziert der Begriff der Verwechslungsgefahr eine gewisse Wechselwirkung zwischen den genannten Faktoren (st. Rspr., z. B. BGH GRUR 2013, 833, Nr. 30 - Culinaria/Villa Culinaria; GRUR 2012, 1040, Nr. 25 - pjur/pure; GRUR 2012, 930, Nr. 22 – Bogner B/ Barbie B; GRUR 2012, 64, Nr. 9 - Maalox/Melox-GRY; GRUR 2010, 1103, Nr. 37 - Pralinenform II; EuGH GRUR 2008, 343 Nr. 48 - Il Ponte Finanziaria Spa/HABM).
Nach diesen Grundsätzen ist eine markenrechtlich relevante unmittelbare Gefahr von Verwechslungen zwischen den Vergleichsmarken zu besorgen, weshalb die angegriffene Marke nach § 43 Abs. 2 Satz 1 MarkenG zu löschen ist.
1. Ausgehend von der Registerlage können sich beide Marken auf identischen bzw. überdurchschnittlich ähnlichen Waren begegnen. Die Vergleichsmarken sind jeweils für die Waren "Nahrungsergänzungsmittel für Mensch(en) und Tier(e)" eingetragen. Hinsichtlich der Ware "Futtermittel" der angegriffenen Marke besteht eine hochgradige Ähnlichkeit zu diesen Waren der Widerspruchsmarke. Zwar bestehen insoweit bei der stofflichen Zusammensetzung und dem Verwendungszweck (Ernährung bzw. Nahrungsergänzung) leichte Unterschiede; jedoch sind beide Waren für Tiere bestimmt, werden von übereinstimmenden Käuferkreisen (Tierhalter) erworben und sind jeweils zum Verzehr durch Tiere bestimmt, d. h. die Verwendungsart ist gleich. Dabei werden Nahrungsergänzungsmittel häufig zusammen mit Futtermitteln verabreicht. Diese Waren stehen daher in einem engen ergänzenden und funktionalen Zusammenhang. Der Verkehr wird dann aber bei unterstellter identischer Kennzeichnung naheliegend annehmen, dass die Produkte aus dem gleichen Betrieb stammen.
2. Die Widerspruchsmarke verfügt ferner über eine durchschnittliche Kennzeichnungskraft.
Da die Lautfolge "BIO" innerhalb des Markenworts bei einer zu erwartenden dreisilbigen Aussprache wie "BI-OR-GA" nicht eigenständig hervortritt und auch "ORGA" keine Abkürzung bzw. ein im Inland geläufiges Kurzwort für "organisch" darstellt – wie die Markenstelle zutreffend festgestellt hat -, wird der Verkehr in der Verschmelzung von "BIO" und "ORGA" zu "BIORGA" ein von Haus aus ohne weiteres durchschnittlich kennzeichnungskräftiges Phantasiewort erblicken, bei dem sich beschreibende Anklänge in Richtung "bio" und "organisch" allenfalls nach analysierender Betrachtung des Zeichens einstellen können.
3. Bei der Beurteilung der Zeichenähnlichkeit ist grundsätzlich vom jeweiligen Gesamteindruck der einander gegenüberstehenden Zeichen auszugehen (z. B. BGH GRUR 2013, 833, Rn. 45 - Culinaria/Villa Culinaria; GRUR 2012, 1040, Rn. 25 - pjur/pure; GRUR 2012, 930, Rn. 22 - Bogner B/Barbie B; GRUR 2012, 64, Rn. 15 - Maalox/Melox-GRY; GRUR 2010, 729 Rn. 23 - MIXI). Dabei ist von dem allgemeinen Erfahrungssatz auszugehen, dass der Verkehr eine Marke so aufnimmt, wie sie ihm entgegentritt, ohne sie einer analysierenden Betrachtungsweise zu unterwerfen (vgl. Ströbele/Hacker, Markengesetz, 11. Aufl., § 9 Rn. 237). Die Frage der Ähnlichkeit sich gegenüberstehender Zeichen ist nach deren Ähnlichkeit in Klang, (Schrift-)Bild und Sinngehalt zu beurteilen, weil Marken auf die mit ihnen angesprochenen Verkehrskreise in klanglicher, bildlicher und begrifflicher Hinsicht wirken (vgl. EuGH GRUR 2006, 413, Rn. 19 - ZIRH/SIR; GRUR 2005, 1042, Rn. 28 - THOMSON LIFE; GRUR Int. 2004, 843, Rn. 29 - MATRATZEN; BGH GRUR 2010, 235, Rn. 15 - AIDA/AIDU; GRUR 2009, 484, Rn. 32 - METROBUS; GRUR 2006, 60, Rn. 17 - coccodrillo; GRUR 2004, 779, 781 - Zwilling/Zweibrüder). Dabei genügt für die Annahme einer Verwechslungsgefahr regelmäßig bereits die hinreichende Übereinstimmung in einer Richtung (st. Rspr. vgl. z. B. BGH GRUR 2010, 235, Rn. 18 - AIDA/AIDU m. w. N.; vgl. Ströbele/Hacker, a. a. O., § 9 Rn. 224 m. w. N.).
Ausgehend davon weisen die Zeichen bereits in klanglicher Hinsicht eine (noch) durchschnittliche Zeichenähnlichkeit auf.
Insoweit ist zunächst entgegen der Auffassung der Markenstelle davon auszugehen, dass die angegriffene Marke jedenfalls von einem nicht unerheblichen Teil des inländischen Verkehrs deutschen Ausspracheregeln entsprechend wie "Bi-or-ga-nic(k)s" ausgesprochen wird, die Widerspruchsmarke wie "BI-OR-GA". Die Widerspruchsmarke ist dann aber vollständig mit identischer Silbengliederung sowie weitgehend übereinstimmendem Sprech- und Betonungsrhythmus in der jüngeren Marke enthalten und bildet deren Wortanfang. Die Zeichen stimmen dabei in sechs Buchstaben überein und unterscheiden sich nur durch die zusätzliche, aus vier Buchstaben bestehende Endsilbe "-nics" der angegriffenen Marke. Bei der Prüfung der Zeichenähnlichkeit der zu vergleichenden Marken ist aber grundsätzlich mehr auf die Gemeinsamkeiten abzuheben als auf die Abweichungen, weil erstere stärker im Erinnerungsbild zu haften pflegen (vgl. BGH GRUR 1998, 924, 925 - salvent/Salventerol). Dies gilt erst recht bei Übereinstimmungen am Wortanfang, weil der Verkehr diesem regelmäßig größere Beachtung schenkt als Endsilben (vgl. BGH GRUR 1998, 924, 925 - salvent/Salventerol; Ströbele/Hacker, a. a. O., § 9 Rdnr. 267).
Die Übereinstimmungen am Wortanfang fallen im Gesamtklangbild dabei umso deutlicher auf, als die angegriffene Marke mit der vollständigen Übernahme der Widerspruchsmarke auch von jenem charakteristischen Element Gebrauch macht, nämlich der Verschmelzung "Bio" und "orga(nics)" zu der Lautfolge "Biorga" welches auch - neben der Verkürzung von "organisch/organics" auf "ORGA" - den Gesamteindruck der Widerspruchsmarke maßgeblich mitbestimmt. Demgegenüber handelt es sich bei der Endsilbe "-nics" als Pluralform der Endung "-nic" ebenso wie bei der deutschen Entsprechung "-nisch" um eine häufig vorkommende Endung englischer wie auch deutscher Adjektive. Soweit sich diese Silbe mit der Lautfolge "orga" formal zu der beschreibenden Angabe "organics" verbindet, erschließt sich dies für den Verkehr innerhalb der angegriffenen Marke aufgrund der - bei diesem Zeichen sogar schutzbegründenden - Verschmelzung von "Bio" und "organics" zu dem Markenwort "Biorgancis" jedenfalls nicht sofort und ohne weiteres; vielmehr handelt es sich bei der Buchstabenfolge "-nics" lediglich eine auf den ersten und übereinstimmenden Teil der Zeichen bezogene Ergänzung. Diese trägt aber aufgrund ihrer Kennzeichnungsschwäche wenig zur Unterscheidung beider Marken bei, sondern bewirkt eher, dass der mit der Widerspruchsmarke übereinstimmende phantasievolle Bestandteil "Biorga" am Wortanfang für den Verkehr, dessen Erinnerungsbild - wie bereits dargelegt - erfahrungsgemäß von den Übereinstimmungen in den Marken stärker geprägt wird als von den Abweichungen, umso deutlicher im Klangbild hervortritt.
4. Ausgehend davon kann aber in der Gesamtabwägung angesichts der teilweisen Identität und ansonsten engen Ähnlichkeit der Waren, der durchschnittlichen Kennzeichnungskraft der Widerspruchsmarke sowie der jedenfalls (noch) durchschnittlichen Ähnlichkeit der Kollisionszeichen eine Verwechslungsgefahr zwischen beiden Marken nicht verneint werden.
B. Hinsichtlich der Kosten des Beschwerdeverfahrens verbleibt es bei der gesetzlichen Regelung des § 71 Abs. 1 S. 2 MarkenG, da Billigkeitsgründe für die Auferlegung der Kosten auf einen Beteiligten weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich sind.