Entscheidungsdatum: 18.02.2014
In der Patentnichtigkeitssache
…
betreffend das europäische Patent 0 627 919
(DE 692 18 255)
hat der 3. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 18. Februar 2014 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Schramm sowie des Richters Guth, der Richterin Dipl.- Chem. Dr. Proksch-Ledig, des Richters Dipl.-Chem. Dr. Gerster und des Richters Dipl.-Chem. Dr. Jäger
für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent 0 627 919 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 22. Oktober 1992 unter Inanspruchnahme der französischen Priorität 9202696 vom 6. März 1992 als internationale Patentanmeldung PCT/FR92/00992 angemeldeten und vor dem europäischen Patentamt in der regionalen Phase in französischer Sprache erteilten europäischen Patents EP 0 627 919 (Streitpatent), dessen Erteilung mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Patentamt am 12. März 1997 bekannt gemacht worden ist und das vom Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nummer DE 692 18 255 geführt wird. Das mit Wirkung vom 23. Oktober 2012 durch Zeitablauf erloschene Streitpatent, das in vollem Umfang und hilfsweise beschränkt mit einem Hilfsantrag verteidigt wird, betrifft die „Verwendung von Amino-2-trifluormethoxy-6-benzothiazol (Riluzol) zur Herstellung eines Medikamentes zur Behandlung von Erkrankungen des Motoneurons“ und umfasst 5 Patentansprüche, die in deutscher Übersetzung folgendermaßen lauten:
1. Verwendung von 2-Amino-6-trifluormethoxy-benzothiazol oder einem Salz dieser Verbindung mit einer pharmazeutisch akzeptablen Säure zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung von Erkrankungen des Motoneurons.
2. Verwendung nach Anspruch 1 von 2-Amino-6-trifluormethoxy-benzothiazol oder einem Salz dieser Verbindung mit einer pharmazeutisch akzeptablen Säure zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung von amyotrophischer Lateralsklerose.
3. Verwendung nach Anspruch 2 zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung von amyotrophischer Lateralsklerose mit bulbärem Beginn.
4. Verwendung nach Anspruch 2 zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung von amyotrophischer Lateralsklerose in bulbärer Form.
5. Verwendung nach Anspruch 1 bis 4 zur Herstellung eines Arzneimittels, das 25 mg bis 200 mg 2-Amino-6-trifluormethoxy-benzothiazol umfasst.
Die Klägerin, die das Streitpatent in vollem Umfang angreift, macht den Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit geltend und stützt ihr Vorbringen auf folgende Dokumente:
NiK1 EP 0 627 919 B1 (Streitpatent)
NiK1a DE 692 18 255 T2, deutsche Übersetzung der NiK1
NiK2 FR 2 640 624 A1
NiK2a Deutsche Übersetzung der FR 2 640 624 A1 (NiK2)
NiK3 L. M. Yagupolskii et. al., Zh. Obshch. Khim. 1963, 33, 2301 bis 2307
NiK3a Deutsche Übersetzung des Abs. 4 auf S. 2305 der NiK3
NiK4 emeA European Medicines Agency, EMEA/H/C/109, European Public Assessment Report (EPAR) RILUTEK, 10. Juni 1996, last updated 03-2007.
Die Klägerin ist der Ansicht, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht neu gegenüber dem Stand der Technik gemäß Dokument NiK2/NiK2a. 2-Amino-6-trifluormethoxybenzothiazol (= Riluzol) falle unter die allgemeine Formel I nach Anspruch 1 der NiK2/NiK2a, wobei nach Anspruch 2 der Trifluormethoxyrest expressis verbis benannt sei. Darüber hinaus werde Riluzol im Beispiel 7 individualisiert. Die Verbindungen der NiK2/NiK2a seien auch ausdrücklich zur Behandlung und Vorbeugung der amyotrophen Lateralsklerose nützlich.
Die Lehre des Streitpatents beruhe auch nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Das Dokument NiK2/NiK2a offenbare Riluzol formelmäßig und in individualisierter Form, wobei es unter die bevorzugten Verbindungen des Patentanspruchs 2 der NiK2/NiK2a falle und lehre weiterhin, dass die erfindungsgemäßen Verbindungen für die Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose eingesetzt werden könnten. Für den Fachmann habe es daher nahe gelegen, dieser Anregung der NiK2/NiK2a zu folgen und insbesondere auch Riluzol für diese Anwendung zu testen. Die im Hilfsantrag beanspruchte Verwendung von Riluzol zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung von amyotropher Lateralsklerose mit bulbärem Beginn bzw. in bulbärer Form unterscheide sich nicht von der im Patentanspruch 2 des Hauptantrags beanspruchten Verwendung von Riluzol zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung von amyotropher Lateralsklerose, da im Hilfsantrag lediglich eine mögliche Symptomatik der amyotrophen Lateralsklerose und keine neue Indikation beansprucht werde.
Die Klägerin stellt den Antrag,
das europäische Patent 0 627 919 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
Die Beklagte stellt den Antrag,
die Klage abzuweisen, hilfsweise die Klage mit der Maßgabe abzuweisen, dass das Streitpatent die Fassung des Hilfsantrags gemäß Schriftsatz vom 24. Januar 2014 erhält.
Gemäß Hilfsantrag werden die Patentansprüche 1 und 2 des Hauptantrags im Patentanspruch 1 auf die Indikation der Behandlung von amyotrophischer Lateralsklerose mit bulbärem Beginn und im nebengeordneten Patentanspruch 2 auf die Indikation der Behandlung von amyotrophischer Lateralsklerose in bulbärer Form beschränkt. Die erteilten Patentansprüche 3 und 4 entfallen. Patentanspruch 3 gemäß Hilfsantrag entspricht mit Anpassungen der Rückbeziehungen dem erteilten Patentanspruch 5.
Die Beklagte tritt dem Vorbringen der Klägerin in allen Punkten entgegen. Zur Stützung ihres Vorbringens verweist sie auf folgende Dokumente:
rop1 Urteil 4b 135/12 im Verfahren A… S.A. ./. C… … GmbH und R… GmbH vor dem LG Düsseldorf vom 19. Oktober 2012
rop2 EP 0 374 041 A1
rop2a AT E 77 375 B (deutsche Übersetzung der rop2)
rop3 Entscheidung T 297/88 – 3.3.1 der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamtes vom 5. Dezember 1989
rop4 Entscheidung T 0158/96 – 3.3.2 der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamtes vom 28. Oktober 1998.
Die Lehre des Streitpatents sei neu gegenüber dem Dokument NiK2/NiK2a, weil die streitpatentgemäß verwendete Verbindung Riluzol dort nicht eindeutig und unmittelbar als individualisierte Verbindung zur Behandlung von amyotrophischer Lateralsklerose offenbart sei. Insbesondere werde in der NiK2/NiK2a eine durch eine Markush-Formel definierte Vielzahl von Verbindungen als – möglicherweise – geeignet zur Behandlung einer Vielzahl von verschiedenen Erkrankungen gelehrt. Diese Druckschrift enthalte somit keine Hinweise, gerade Riluzol zur Behandlung von insbesondere amyotrophischer Lateralsklerose auszuwählen, zumal Wirkungsnachweise zur Behandlung von amyotrophischer Lateralsklerose für die beschriebenen Verbindungen in der NiK2/NiK2a fehlten.
Die Lehre des Streitpatents beruhe auch auf einer erfinderischen Tätigkeit, da das Dokument NiK2/NiK2a keinen Anlass gebe, das bereits seit mehr als 20 Jahren bekannte Riluzol gemäß seiner Lehre auszuwählen und insbesondere als speziell zur Behandlung von amyotrophischer Lateralsklerose geeignet in Betracht zu ziehen.
I.
Die auf den Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 lit. A EPÜ) gestützte Klage ist zulässig. Insbesondere sind die Parteien nach einem einverständlichen Klägerwechsel identisch mit den Parteien des auf das inzwischen erloschene Streitpatent gestützten zivilgerichtlichen einstweiligen Verfügungsverfahrens, so dass ein Rechtsschutzbedürfnis für die Klage vorliegt. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
1.1. Das Streitpatent betrifft die Verwendung von 2-Amino-6-trifluormethoxy-benzothiazol oder einem Salz dieser Verbindung mit einer pharmazeutisch akzeptablen Säure zur Herstellung eines Arzneimittels für die Behandlung von Erkrankungen des Motoneurons, insbesondere für die Behandlung von amyotrophischer Lateralsklerose mit bulbärem Beginn oder in bulbärer Form (vgl. NiK1a Patentansprüche 1 bis 4 und S. 1 Abs. 1).
Bei 2-Amino-6-trifluormethoxy-benzothiazol handelt es sich um ein Benzothiazolaminderivat mit folgender Strukturformel:
Diese Verbindung besitzt den internationalen Freinamen (INN) Riluzol (vgl. NiK1a S. 1 Abs. 2). Dem Riluzol liegt als Grundstruktur Benzothiazolamin, auch 2-Aminobenzothiazol genannt, zugrunde. Des Weiteren ist im Riluzol an der Position 6 dieser Grundstruktur ein Trifluormethoxyrest gebunden. Die Verbindung Riluzol wurde mehr als 25 Jahre vor dem Prioritätstag des Streitpatents in der NiK3/NiK3a beschrieben.
Motoneurone sind die efferenten, d. h. die Nervenimpulse vom Zentralnervensystem zur Peripherie leitenden Nervenzellen, die die Muskulatur des Körpers innervieren und somit Grundlage aktiver Kontraktionen der Skelettmuskeln sind. Sie umfassen zwei Gruppen von Nervenzellen, die man als das erste und das zweite Motoneuron bezeichnet. Motoneuronerkrankungen, wie z. B. Poliomyelitis oder spastische Spinalparalyse, sind Erkrankungen, die das erste oder das zweite Motoneuron oder beide Gruppen der motorischen Nervenzellen betreffen. Die amyotrophische Lateralsklerose (= ALS) stellt eine Form der Motoneuronerkrankung dar, in der beide Gruppen des motorischen Nervensystems involviert sind. Dabei kommt es zu einer fortschreitenden und irreversiblen Schädigung oder Degeneration der Motoneurone. Bei der ALS können erste Symptome an unterschiedlichen Stellen des Körpers auftreten. So können Muskelschwund und Schwäche in der Hand- und Unterarmmuskulatur meist zunächst nur auf einer Körperseite auftreten, bevor sie sich auf die andere Körperseite und auf die Beine ausdehnen. Bei einer ALS mit bulbärem Beginn treten erste Symptome im Bereich der Sprech-, Kau- und Schluckmuskulatur auf. Die ALS in bulbärer Form zeichnet sich durch eine Funktionsbeeinträchtigung der Zungen-, Schlund- und Gaumenmuskulatur im Verlauf der Krankheit aus. Diese Lähmungen treten bekanntlich bei ca. 20 % der Erkrankten als Initialsymptom auf (vgl. W. Hacke: „Neurologie“, Springer Verlag, 13. Aufl., 2010, S. 724).
Das Streitpatent führt einleitend unter Bezugnahme auf Stand der Technik aus, dass Riluzol als antikonvulsives, anxiolytisches und hypnotisches Mittel, bei der Behandlung von Schizophrenie, von Schlafstörungen und Depression und von cerebrovasculären Störungen sowie als Anästhetikum anwendbar ist (vgl. NiK1a S. 1 Abs. 2). Zudem sei aus der EP 374 041 A1 (= rop2) die Verwendung von 2-Benzothiazolamin-Derivaten mit Ausnahme von Riluzol bei der Behandlung von ALS bekannt (vgl. NiK1a S. 1 Abs. 3).
1.2. Dem Streitpatent liegt die objektive technische Aufgabe zugrunde, ein Arzneimittel für die Behandlung von Erkrankungen des Motoneurons, insbesondere für die Behandlung von ALS bereitzustellen.
1.3. Gelöst wird diese Aufgabe gemäß Patentanspruch 1 des Hauptantrags durch
1.1. die Verwendung von 2-Amino-6-trifluormethoxy-benzothiazol oder
1.2. einem Salz dieser Verbindung mit einer pharmazeutisch akzeptablen Säure
2. zur Herstellung eines Arzneimittels für
3. die Behandlung von Erkrankungen des Motoneurons.
1.4. Bei dem zuständigen Fachmann handelt es sich um einen in der klinischen Forschung tätigen Facharzt für Neurologie, der mit einem auf dem Gebiet der pharmazeutischen Technologie promovierten und berufserfahrenen Chemiker oder Pharmazeuten in einem Team zusammenarbeitet.
II.
Die Patentansprüche 1 bis 5 gemäß Hauptantrag erweisen sich mangels Patentfähigkeit als nicht bestandsfähig.
1. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist gegenüber dem Stand der Technik der NiK2/NiK2a nicht neu.
Für die Beurteilung, ob der Gegenstand eines Patents durch eine Vorveröffentlichung neuheitsschädlich getroffen ist, ist maßgeblich, welche technische Information dem Fachmann im Gesamtinhalt der Vorveröffentlichung unmittelbar und eindeutig offenbart wird. Dabei setzt die Neuheit einer medizinischen Indikation voraus, dass die Verwendung des Arzneimittels in der Art seiner Anwendung oder für sein medizinisches Einsatzgebiet noch nicht als wirksam oder zumindest erfolgversprechend vorbeschrieben oder vorbenutzt ist (vgl. Schulte, PatG, 9. Aufl., § 3 Rn. 93 bis 96, 157 Teilpunkt i) und 177; Busse/Keukenschrijver, PatG, 7. Aufl., § 3 Rn. 134 und 165; Benkard/Melullis, PatG, 10. Aufl., § 3 Rn. 20, 91c; BGH, GRUR 2011, 999, 31, 33 – Memantin). Dies ist hier nicht der Fall. Die Verwendung eines Arzneimittels mit dem Wirkstoff Riluzol zur Behandlung der Motoneuronerkrankung ALS war zum Prioritätszeitpunkt im Stand der Technik als wirksam vorbeschrieben.
NiK2/NiK2a offenbart im Patentanspruch 1 unmittelbar und eindeutig Riluzol.
Gemäß erstem Teilstrich im Patentanspruch 1 sind als Substituenten der Verbindung der angegebenen allgemeinen Formel für R1 Polyfluoralkoxy-(1C), mit anderen Worten Trifluormethoxy, und für R2 und R3 jeweils ausschließlich ein Wasserstoffatom vorgesehen. Expressis verbis wird der Trifluormethoxyrest ferner als bevorzugter Polyfluoralkoxyrest im Patentanspruch 2 angegeben. Darüber hinaus wird in der Beschreibung unter Bezugnahme auf die NiK3/NiK3a die Herstellung von Riluzol ausdrücklich angegeben (vgl. NiK2a S. 9 Z. 6 bis 8). Damit ist in der NiK2/NiK2a Riluzol dem Fachmann ohne Weiteres als individualisierte Verbindung der allgemeinen Formel im Patentanspruch 1 aufgezeigt. Des Weiteren gibt diese Druckschrift an, dass die Verbindungen der allgemeinen Formel im Patentanspruch 1 interessante pharmakologische Eigenschaften haben. Sie sind nützlich zur Behandlung und Vorbeugung von neurologischen Störungen, an denen Glutamat beteiligt sein kann und zu denen ALS gehört (vgl. NiK2a S. 4/5 übergreifender Abs. und S. 10/11 übergreifender Abs.). Damit gibt die NiK2/NiK2a die Verwendung von Verbindungen der allgemeinen Formel im Patentanspruch 1 zur erfolgversprechenden Behandlung von ALS, einer Erkrankung der Motoneuronen, an und individualisiert zugleich Riluzol als Beispiel für eine dieser Verbindungen. Die streitpatentgemäß beanspruchte Verwendung von Riluzol zur Behandlung der Erkrankung des Motoneurons ist daher in NiK2/NiK2a neuheitsschädlich vorbeschrieben.
Der Hinweis der Beklagten auf die BGH-Entscheidung Olanzapin kann nicht durchgreifen, da Riluzol dem Fachmann als übliche Verwirklichungsform der genannten allgemeinen Formel geläufig ist, so dass sich Riluzol ihm sofort als jedenfalls auch gemeint aufdrängt (vgl. BGH, GRUR 2009, 382, Rn. 28 - Olanzapin (Juris-Version)). Dafür spricht auch der Gesamtinhalt der NiK2/NiK2a. Denn in der Beschreibung dieser Druckschrift wird angegeben, dass Verbindungen der genannten allgemeinen Formel mit Ausnahme von einem Riluzolderivat – dieses weist einen Trifluormethylthio-Rest anstelle eines Trifluormethoxyrests an der Position 6 des Benzothiazolamin-Grundgerüsts auf – neu und als solche Gegenstand der Erfindung seien, wobei dieses vorbeschriebene Riluzolderivat in NiK3/NiK3a ohne Erwähnung einer pharmakologischen Eigenschaft offenbart sei (vgl. NiK2a S. 2 Z. 11 bis 7 v. u.). Des Weiteren lehrt die Beschreibung der NiK2/NiK2a, dass 6-Polyfluoralkoxy-2-benzothiazolamine der allgemeinen Formel des Patentanspruchs 1 durch Anwendung oder Anpassung der in NiK3/NiK3a beschriebenen Methode hergestellt werden können (vgl. NiK2a S. 4 Mitte). Für ein derartiges 6-Polyfluoralkoxy-2-benzothiazolamin stellt Riluzol das einfachste Beispiel dar, in dem lediglich an Position 6 ein Trifluormethoxyrest für den Polyfluoralkoxyrest steht und ansonsten keine weiteren Substituenten vorgesehen sind. Demgegenüber finden sich in der Beschreibung keine Hinweise, dass Riluzol als übliche Verwirklichungsform der genannten allgemeinen Formel gerade nicht unter die Lehre dieser Druckschrift fallen soll. Vielmehr wird beschrieben, dass die Verbindungen der allgemeinen Formel des Patentanspruchs 1 und ihre Salze interessante pharmakologische Eigenschaften haben und nützlich sind zur Behandlung und Vorbeugung von Störungen, an denen Glutamat beteiligt sein kann, z. B. von ALS (vgl. NiK2/NiK2a S. 4/5 übergreifender Abs. und S. 10/11 übergreifender Abs.).
Die von der Beklagten des Weiteren angeführte BGH-Entscheidung Escitalopram führt ebenfalls zu keiner anderen Beurteilung. Denn diese Entscheidung weist in Folge der Olanzapin-Entscheidung darauf hin, dass es entscheidend sei, die streitpatentgemäße Verbindung ohne Weiteres in die Hand zu bekommen (vgl. BGH GRUR 2009, 382, Rn. 27, 28 – Olanzapin (Juris-Version); BGH GRUR 2010, 123, Rn. 31, 32, 35 – Escitalopram). Im Unterschied zum Stand der Technik im Escitalopram-Fall wird vorliegend in der NiK2/NiK2a die streitpatentgemäß verwendete Verbindung Riluzol nicht nur expressis verbis benannt, sondern zudem ein Herstellverfahren dafür angegeben. Damit war der Fachmann ohne Weiteres in die Lage versetzt, Riluzol in die Hand zu bekommen.
Ein Wirkungsnachweis ist im Übrigen entgegen der Auffassung der Beklagten, die sie unter Hinweis auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des europäischen Patentamts – in der mündlichen Verhandlung wurde insbesondere auf T 609/02 und T 158/96 verwiesen – vertritt, zum Nachweis einer medizinischen Indikation, wie sie in der NiK2/NiK2a für die Benzothiazolaminderivate der allgemeinen Formel des Patentanspruchs 1 im Zusammenhang mit einer medizinischen Indikation beschrieben wird, nicht erforderlich. Vielmehr ist es ausreichend, dass der Stand der Technik dem Fachmann den Stoff und seine Anwendung in einem medizinischen Verfahren so deutlich und vollständig offenbart, dass er eine bestimmte Krankheit erfolgreich behandeln kann (vgl. Schulte/Moufang, PatG, 9. Aufl., § 3 Rn. 142 Aufzählungspunkt c)). Die NiK2/NiK2a offenbart unmittelbar und eindeutig die Behandlung von ALS durch die Benzothiazolaminderivate der allgemeinen Formel des Patentanspruchs 1. Sie enthält dazu nicht nur allgemeine Angaben zur Eignung dieser Verbindungen für die Anwendung auf dem Gebiet der Medizin oder Pharmazie zur Behandlung von Krankheiten, sondern gibt Tests zur Überprüfung der Aktivität der Verbindungen der Formel des Patentanspruchs 1 an und offenbart Dosierungsangaben und Formulierungsbeispiele (vgl. NiK2a S. 5 Z. 5 bis 10 und S. 11 Z. 4 bis S. 12).
Schließlich kann auch die im Beispiel 7 der NiK2/NiK2a ausdrückliche Erwähnung von Riluzol als Ausgangsprodukt zur Herstellung eines in Position 5 eine weitere Aminogruppe aufweisendes Benzothiazolaminderivats – eine von mehreren Verbindungen von speziellem Interesse in der NiK2/NiK2a – nicht in Frage stellen, dass der Fachmann Riluzol den Patentansprüchen 1 und 2 der NiK2/NiK2a unmittelbar und eindeutig entnimmt (vgl. NiK2a S. 8/9 Beispiel 7 i. V. m. S. 5 Z. 13 bis 17). Denn die Ausführungen in diesem Beispiel legen die Herstellung einer in dieser Druckschrift als bevorzugt beschriebenen Verbindung dar, schließen aber nicht Riluzol als zur Offenbarung der NiK2/NiK2a gehörend aus, da für die Bestimmung des Gesamtinhalts der Vorveröffentlichung zu beachten ist, dass ein weiter zu verstehender Sinngehalt der Patentansprüche nicht auf Ausführungsformen eingeschränkt ist, auf die sich die Beschreibung und die Ausführungsbeispiele des Patents ausschließlich beziehen (vgl. BGH, GRUR 2007, 309, 1. Ls. - Schussfädentransport; BGH, GRUR 2004, 1023, 1. Ls. – Bodenseitige Vereinzelungsvorrichtung).
Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist damit vom Stand der Technik neuheitsschädlich vorbeschrieben und hat daher keinen Bestand.
2. Die weiteren Patentansprüche des Hauptantrags bedürfen keiner weiteren, isolierten Prüfung, weil die Beklagte in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass sie den Hauptantrag als geschlossenen Anspruchssatz versteht und das Streitpatent in der Reihenfolge Hauptantrag und Hilfsantrag verteidigt (vgl. BGH GRUR 2007, 862 – Informationsvermittlungsverfahren II; BGH GRUR 1997, 120 - Elektrisches Speicherheizgerät; BPatG GRUR 2009, 46 – Ionenaustauschverfahren).
III.
Die von der Beklagten hilfsweise verteidigte Fassung gemäß Hilfsantrag erweist sich aufgrund mangelnder erfinderischer Tätigkeit gleichfalls als nicht bestandsfähig.
Die Anspruchsfassung gemäß Hilfsantrag ist gegenüber der erteilten Fassung nicht unzulässig erweitert. Denn der Patentanspruch 1 des Hilfsantrags stellt eine Kombination der Patentansprüche 1 bis 3 des Hauptantrags und der nebengeordnete Patentanspruch 2 des Hilfsantrags eine Kombination der Patentansprüche 1, 2 und 4 des Hauptantrags dar. Patentanspruch 3 des Hilfsantrags entspricht Patentanspruch 5 des Hauptantrags. Auch mag die Verwendung gemäß den Patentansprüchen 1 und 2 des Hilfsantrags von NiK2/NiK2a nicht neuheitsschädlich vorweggenommen sein, da in NiK2/NiK2a eine Behandlung der ALS mit bulbärem Beginn bzw. in bulbärer Form nicht unmittelbar und eindeutig beschrieben wird. Die Gegenstände der nebengeordneten Patentansprüche 1 und 2 des Hilfsantrags beruhen indessen nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Zur Lösung der Aufgabe, ein Arzneimittel für die Behandlung von Erkrankungen des Motoneurons, insbesondere für die Behandlung von ALS bereitzustellen, konnte der Fachmann von der NiK2/NiK2a ausgehen. NiK2/NiK2a befasst sich nämlich mit der Bereitstellung von Benzothiazolaminderivaten, die als Wirkstoffe gegen neurologische Störungen, an denen Glutamat beteiligt sein kann, z. B. gegen ALS anwendbar sind (vgl. NiK2a Patentansprüche 1, 3, 5, S. 2 Abs. 1, S. 4/5 übergreifender Abs. und S. 10/11 übergreifender Abs.). Der Fachmann hatte somit zur Lösung der streitpatentgemäßen Aufgabe die Veranlassung, diese Druckschrift in Betracht zu ziehen. Die NiK2/NiK2a offenbart weiterhin mehrere individualisierte Benzothiazolaminderivate, darunter – wie vorstehend unter II.1. ausgeführt – auch Riluzol (vgl. NiK2a S. 2 Z. 11 bis 7 von unten, S. 5 Z. 13 bis 17 und Beispiele 1 bis 9). Der Fachmann zieht daher neben den als bevorzugt genannten Verbindungen für seine Zielsetzung auch Riluzol in Betracht, insbesondere weil dessen Verwendung als Wirkstoff in der Neurologie der Fachwelt zum Prioritätszeitpunkt bereits bekannt war, wie im einleitenden Teil des Streitpatents unter Bezugnahme auf druckschriftlichen Stand der Technik ausgeführt ist (vgl. NiK1a S. 1 Abs. 2). Er war umso mehr dazu veranlasst, als es sich bei Riluzol um eine leicht zugängliche und im Vergleich zu den in NiK2/NiK2a bevorzugt genannten Verbindungen einfacher – d. h. in weniger Verfahrensschritten – herstellbare Verbindung handelt (vgl. NiK2a S. 9 Abs. 2 i. V. m. NiK3a sowie NiK2a Beispiele 1, 2, 7 und 8). Somit bestand gemäß der Offenbarung der NiK2/NiK2a auch eine hinreichende Erfolgsaussicht, Riluzol zur Behandlung von ALS aus den in dieser Druckschrift individualisierten Verbindungen einzusetzen. Die Ausrichtung der beanspruchten Verwendung von Riluzol zur Behandlung von ALS auf die Symptomatik „mit bulbärem Beginn“ bzw. „in bulbärer Form“ kann vor diesem Hintergrund die Patentfähigkeit nicht begründen. Denn – wie vorstehend unter I.1.1. ausgeführt – versteht der Fachmann unter einer ALS mit bulbärem Beginn bzw. in bulbärer Form keine von ALS unterschiedlichen Krankheiten. Vielmehr handelt es sich dabei lediglich um jene Ausprägung der Krankheit, die durch Funktionsbeeinträchtigungen im Zungen-, Schlund- und Gaumenbereich gekennzeichnet ist. Bei der aus NiK2/NiK2a nahe gelegten Verwendung von Riluzol zur Behandlung von ALS wird der Fachmann Riluzol auf Grund dessen zur Behandlung von ALS jeglicher Symptomatik und damit auch zur Behandlung von ALS mit bulbärem Beginn bzw. in bulbärer Form einsetzen. Bei der Auswertung der Anwendung stellt der Fachmann daher zwangsläufig und ohne selbst erfinderisch tätig zu werden fest, dass ALS mit bulbärem Beginn bzw. in bulbärer Form mit Riluzol vorteilhaft behandelt werden kann. Hierin liegt mithin im Sinn ständiger Rechtsprechung des BGH ein „Bonus-Effekt“, der nichts daran ändert, dass das Streitpatent insoweit dem Fachmann keine andere Lehre zur Behandlung der Motoneuronerkrankung ALS gibt als sie ihm im Stand der Technik gemäß NiK2/NiK2a bereits gegeben worden ist, und der daher für die Bejahung erfinderischer Tätigkeit nicht herangezogen werden kann (vgl. BGH GRUR 2010, 123, 127 Rn. 41 – Escitalopram; BGH GRUR 2009, 936, 938 Rn. 22 – Heizer; Schulte/Moufang, PatG, 9. Aufl., § 4 Rn. 158 m. w. N.).
Das Argument der Beklagten, dass die NiK2/NiK2a das vorbekannte Riluzol weder als bevorzugte Verbindung auf Seite 5 noch im Zusammenhang mit den ebenfalls auf dieser Seite beschriebenen Tests, sondern nur als Zwischenprodukt und damit nicht unter die allgemeine Formel des Patentanspruchs 1 und insbesondere nicht als speziell zur Behandlung von ALS geeignet in Betracht gezogen habe und daher der streitpatentgemäße Gegenstand für den Fachmann nicht nahe gelegen habe, kann nicht überzeugen. Denn die Gesamtlehre dieser Druckschrift zeigt dem Fachmann die Eignung von allen unter die allgemeine Formel des Patentanspruchs 1 fallenden Benzothiazolaminderivaten für die Behandlung von ALS (vgl. Patentansprüche 1 und 2 i. V. m. NiK2/NiK2a S. 4/5 und S. 10/11 jeweils übergreifender Abs.). Des Weiteren lehrt zwar die Druckschrift vier bevorzugte Derivate (vgl. NiK2/NiK2a S. 5 Z. 13 bis 17). Dass sich aber die Beschreibung und die Ausführungsbeispiele dieser Druckschrift auf diese bevorzugten Derivate beziehen, schränkt einen weiter zu verstehenden Sinngehalt der Patentansprüche der Druckschrift nicht auf diese Ausführungsformen ein. Dies gilt insbesondere, da der NiK2/NiK2a nicht zu entnehmen ist, dass das unter die allgemeine Formel des Patentanspruchs 1 fallende Riluzol für die Behandlung von ALS nicht geeignet sei (vgl. BGH GRUR 2007, 309, 1. Ls. - Schussfädentransport). Vielmehr weisen die Ausführungen in der Beschreibung, dass die Verbindungen der allgemeinen Formel des Patentanspruchs 1 durch Anwendung oder Anpassung der in NiK3/NiK3a beschriebenen Methode erhältlich sind und dass diese Verbindungen interessante pharmakologische Eigenschaften hinsichtlich der Behandlung von u. a. ALS haben, den Fachmann auch auf Riluzol hin (vgl. S. 4 4. vollständiger Abs. und S. 4/5 übergreifender Abs.). Daran kann auch der Disclaimer von Riluzol aus dem Schutzbereich der europäischen Nachanmeldung rop2 der NiK2/NiK2a nichts ändern (vgl. rop2 Patentansprüche 1, 4, S. 2 Z. 15 bis 22), da der Offenbarungsgehalt der Voranmeldung unabhängig von der Nachanmeldung ist und sich dieser für den Fall der Patenterteilung im Laufe der Patentprüfungsverfahren vor verschiedenen Patentämtern insbesondere zur Abgrenzung vom jeweiligen Stand der Technik unterschiedlich ändern kann.
Die Angaben in dem die Seiten 4 und 5 übergreifenden Absatz vermitteln dem Fachmann auch eine technische Lehre, obwohl sich in der NiK2/NiK2a – worauf die Beklagte hinweist – keine experimentellen Daten hinsichtlich der Eignung von Verbindungen der allgemeinen Formel des Patentanspruchs 1 für die Behandlung von ALS finden. NiK2/NiK2a beschreibt die Aktivität der Verbindungen der allgemeinen Formel des Patentanspruchs 1 und damit auch von Riluzol gegenüber Glutamat induzierten Krankheiten wie z. B. Krampfzuständen oder schizophrenen Störungen sowie gegenüber neurologischen Störungen, an denen Glutamat beteiligt sein kann, wie u. a. ALS (vgl. NiK2a S. 4/5 und S. 10/11 jeweils übergreifender Abs.). Die NiK2/NiK2a lehrt des Weiteren die einzusetzenden Dosen und gibt sogar in den Beispielen A bis C beispielhafte Formulierungen an (vgl. NiK2a S. 11 Z. 4 bis S. 12). Damit offenbart die NiK2/NiK2a dem Fachmann die Anwendung der Verbindungen der allgemeinen Formel im Patentanspruch 1 zur Behandlung von ALS ausreichend deutlich und vollständig (vgl. Schulte/Moufang, PatG, 9. Aufl. § 3, Rn. 142 Aufzählungspunkt c)).
Die Gegenstände der Patentansprüche 1 und 2 des Hilfsantrags sind daher nahegelegt und somit nicht bestandsfähig.
Ein bestandsfähiger Rest ist für den Senat auch nicht in dem Gegenstand des nachgeordneten Patentanspruchs 3 zu erkennen. Die Beklagte hat nicht vorgetragen, dass ihm ein eigenständiger patentfähiger Gehalt zukäme. Ein solcher ist auch nicht ersichtlich. Dieser Patentanspruch ist daher ebenfalls nicht patentfähig.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.