Bundespatentgericht

Entscheidungsdatum: 01.12.2015


BPatG 01.12.2015 - 3 Ni 23/14 (EP)

Patentnichtigkeitsklageverfahren – "Behandlungsverfahren und pharmazeutische Zusammensetzung zur Notfall-Empfängnisverhütung (europäisches Patent)" – zur Definierung der Aufgabenstellung bei Patenten


Gericht:
Bundespatentgericht
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsdatum:
01.12.2015
Aktenzeichen:
3 Ni 23/14 (EP)
Dokumenttyp:
Urteil
Zitierte Gesetze
Art II § 6 Abs 1 Nr 1 IntPatÜbkG
Art 138 Abs 1 Buchst a EuPatÜbk
§ 54 EuPatÜbk
§ 56 EuPatÜbk

Tenor

In der Patentnichtigkeitssache

betreffend das europäische Patent 1 448 207

(DE 602 03 929)

hat der 3. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 1. Dezember 2015 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Schramm sowie der Richterinnen Dipl.-Chem. Dr. Proksch-Ledig und Kirschneck, des Richters Dipl.-Chem. Dr. Jäger und der Richterin Dipl.-Chem. Dr. Wagner

für Recht erkannt:

I. Das europäische Patent 1 448 207 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 26. November 2002 unter Inanspruchnahme der ungarischen Priorität HU 0105173 vom 27. November 2001 als internationale Patentanmeldung PCT/HU2002/000129 angemeldeten und vor dem europäischen Patentamt in der regionalen Phase erteilten europäischen Patents EP 1 448 207 (Streitpatent), dessen Erteilung mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland beim europäischen Patentamt am 27. April 2005 bekannt gemacht wurde und das vom Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nummer DE 602 03 929 geführt wird. Das Streitpatent, das beschränkt mit einem neuen Hauptantrag und drei Hilfsanträgen verteidigt wird, betrifft "Behandlungsverfahren und pharmazeutische Zusammensetzung zur Notfall-Empfängnisverhütung" und umfasst drei Patentansprüche, die in deutscher Übersetzung folgendermaßen lauten:

2

1. Pharmazeutische Zusammensetzung als Einzel-verabreichungsdosis, dadurch gekennzeichnet, dass sie 1,5 ± 0,2 mg Levonorgestrel als Wirkstoff zusammen mit bekannten Trägerstoffen, Verdünnungsmitteln, Geschmacks- oder Aromastoffen, Stabilisatoren sowie formulierungs-unterstützenden oder formulierungsbereitstellenden Zusätzen enthält, die gewöhnlich in der pharmazeutischen Praxis verwendet werden.

3

2. Verwendung von 1,5 ± 0,2 mg Levonorgestrel zur Herstellung eines Arzneimittels zur Schwangerschafts-verhütung im Notfall.

4

3. Verwendung wie in Anspruch 2 beansprucht, wobei das Arzneimittel für die Verabreichung einer Einzelverabreichungsdosis bis zu 72 Stunden nach dem Koitus ist.

5

Die Klägerin, die das Streitpatent in vollem Umfang angreift, macht die Nichtigkeitsgründe mangelnder Patentfähigkeit, unzulässiger Erweiterung sowie unzureichender Offenbarung geltend. Sie stützt ihr Vorbringen u.a. auf folgende Dokumente:

6

TBK1 EP 1 448 207 B1 (Streitpatent)

7

TBK2 DE 602 03 929 T2 (Streitpatent, deutsche Übersetzung)

8

TBK3 WO 03/045397 A1 (Offenlegungsschrift)

9

TBK5 RHR, HRP - UNDP/UNFPA/WHO/World Bank Special Programme of Research, Development and Research Training in Human Reproduction, Annual Technical Report 1998, WHO/RHR/HRP/ATR/98/99, World Health Organization, Genf 1999, Deckblatt, Impressum, Contents, S. 5 bis 10, 97 bis 100

10

TBK6 RHR Department of Reproductive Health and Research, UNDP/UNFPA/WHO/World Bank Special Programme of Research, Development and Research Training in Human Reproduction, Annual Technical Report 1999, WHO/RHR/00.9, World Health Organization, Genf 2000, Deckblatt, Impressum, Contents, S. 9, 10, 109 bis 113, 323 bis 326, 349

11

TBK7 UNDP/UNFPA/WHO/World Bank Special Programme of Research, Development and Research Training in Human Reproduction, Reproductive health research at WHO: a new beginning, Biennial report 1998-1999, World Health Organization, Genf 2000, ISBN 92 4 156200 5, Deckblatt, Impressum, Contents, S. 39 bis 45

12

TBK8 RHR Department of Reproductive Health and Research, UNDPD/UNFPA/WHO/World Bank Special Programme of Research, Development and Research Training in Human Reproduction, Annual Technical Report 2000, WHO/RHR/01.11, World Health Organization, Genf 2001, Deckblatt, Impressum, Contents, S. 4 bis 13, 103, 104, 300, 301

13

TBK 9 Killick, S. R., "Emergency contraception", In: Gynaecology Forum, 2000, Congress Issue, Deckblatt, Impressum/Inhaltsverzeichnis, S. 8 und 9

14

TBK10 von Hertzen, H., Abstract RM1.01.03 "World Health Organization Randomized Studies on Different Regimes of Emergency Contraception", Journal of Gynecology and Obstetrics, 2000, 70, Suppl. 1, S. 4

15

TBK11 [2014] EWHC 1666 (Pat), Urteil des High Court of Justice vom 22. Mai 2014, Case No.: HP13B02148

16

TBK17 von Hertzen, H. et al., "Low dose mifepristone and two regimens of levonorgestrel for emergency contraception: a WHO multicentre randomised trial", The Lancet 2002, 360, S. 1803 bis 1810

17

TBK18 von Hertzen, H. et al., "Efficacy and Side Effects of Immediate Postcoital Levonorgestrel Used Repeatedly for Contraception", Contraception 2000, 61, S. 303 bis 308

18

TBK19 Piaggio, G. et al. "Timing of emergency contraception with levonorgestrel or the Yuzpe regimen", The Lancet 1999, 353, S. 721

19

TBK20 Lee, S. M. et al., "Levonorgestrel versus the "Yuzpe" regimen. New choices in emergency contraception", Canadian Family Physician 1999, 45, S. 629 bis 631

20

TBK21 HEXAL, Preisliste vom 15. September 2001; "duofem®", Deckblatt und S. 86

21

TBK22 HEXAL AG, Fachinformation "duofem® 750 Mikrogramm Tablette", Mai 2000

22

TBK23 Webb, A., "Emergency contraception: is it time to change the method?" BMJ 1999, 318, S. 342 bis 343

23

TBK24 Glasier, A., "Emergency contraception", British Medical Bulletin 2000, 56, S. 729 bis 738

24

TBK25 Assignment zwischen der WHO und Gedeon Richter Ltd., Unterschriften vom November 2002

25

TBK26 Brief der World Health Organization an Mr. Ivan Dozsa, Department for International Relations, Gedeon Richter, 19. Dezember 2001

26

TBK27 Johansson, E. et al., "Pharmacokinetic study of different dosing regimens of levonorgestrel for emergency contraception in healthy women", Human Reproduction 2002, 17, S. 1472 bis 1476

27

Die Klägerin ist der Ansicht, dass infolge der geänderten Anträge der Patentanspruch 1 des Hauptantrags unklar geworden sei und überdies die Patentansprüche gemäß Hauptantrag und Hilfsanträgen den Schutzbereich des erteilten Patents zum Teil unzulässig erweiterten. So stelle das Merkmal „Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall als Einzelverabreichungsdosis“ in Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag ein „aliud“ zu dem Merkmal „Pharmazeutische Zusammensetzung als Einzelverabreichungsdosis“ im erteilten Patentanspruch 1 dar. Ferner sei den erteilten Patentansprüchen kein Verfahren zuzuordnen und daher die Beanspruchung eines Verfahrens zur Empfängnisverhütung in Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 ebenfalls ein „aliud“. Auch der direkt auf „die Verwendung von 1,5 ± 0,2 mg Levonorgestrel zur Empfängnisverhütung“ gerichtete Patentanspruch 2 des Hilfsantrags 1 stelle ein „aliud“ gegenüber den lediglich auf die „Verwendung zur Herstellung eines Arzneimittels“ gerichteten erteilten Patentansprüchen 2 und 3 dar.

28

Weiterhin macht die Klägerin geltend, die Lehre sei im Streitpatent nicht ausführbar offenbart. Es würden in der Streitpatentschrift lediglich allgemeine Ergebnisse der zur Wirksamkeit des erfindungsgemäßen Schemas durchgeführten Studie gezeigt, nicht jedoch eine statistische Signifikanz.

29

Zudem äußert die Klägerin Zweifel an der Wirksamkeit der beanspruchten Priorität, da im Hinblick auf die Dokumente TBK25 und TBK26 fraglich sei, ob der Beklagten das Prioritätsrecht von der WHO übertragen worden sei und ob die Beklagte überhaupt das Recht gehabt habe, die ungarische Prioritätsanmeldung einzureichen.

30

Soweit die Gegenstände der Patentansprüche gemäß Hauptantrag und Hilfsanträgen auf die Verwendung einer 1,5 ± 0,2 mg Levonorgestrel enthaltenden pharmazeutischen Zusammensetzung bzw. eines daraus hergestellten Arzneimittels zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall bis zu 72 Stunden nach dem Koitus gerichtet seien, könnten diese nicht als eine zweite medizinische Verwendung im Sinn des sog. „schweizerischen Anspruchsformats“ bzw. als medizinischer Verwendungsanspruch gemäß Art. 54 Abs. 4 und 5 EPÜ interpretiert werden. Denn nach ständiger Rechtsprechung sei eine Schwangerschaft keine Krankheit und daher ein Verfahren zur Schwangerschaftsverhütung kein therapeutisches Verfahren gemäß Art. 52 Abs. 4 Satz 1 EPÜ (1973) bzw. Art. 53 c Satz 1 EPÜ. Es sei auch nicht Ziel der im Streitpatent beschriebenen pharmazeutischen Zusammensetzung bzw. des hergestellten Arzneimittels, zumindest Nebenwirkungen im Empfängnisverhütungsverfahren in therapeutischer Art und Weise zu reduzieren. Die Merkmale der beanspruchten Verwendung seien für die Beurteilung der Patentfähigkeit nicht zu berücksichtigen, da sie nicht mit der Herstellung des Wirkstoffs verbunden seien, sondern lediglich eine nicht beschränkende beabsichtigte Verwendung in einem nichttherapeutischen Verfahren zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall beschrieben. Die Patentansprüche des Hauptantrags und der Hilfsanträge 2 und 3 sowie der Patentanspruch 2 gemäß Hilfsantrag 1 seien daher lediglich auf ein Verfahren für die Zubereitung einer pharmazeutischen Zusammensetzung bzw. die Herstellung eines Arzneimittels gerichtet, das für die Schwangerschaftsverhütung im Notfall geeignet sei.

31

Dem Streitpatent fehle – auch in der Fassung der Ansprüche gemäß Hauptantrag und Hilfsanträgen – im Hinblick auf die Druckschriften TBK5 bis TBK10, TBK21 bzw. TBK22 und TBK27 die Neuheit.

32

Das Vorliegen der erfinderischen Tätigkeit stellt die Klägerin insbesondere im Hinblick auf die Druckschriften TBK5 bis TBK10 sowie ausgehend von TBK20 in Kombination mit TBK23 oder auch TBK7 in Abrede. Ergänzend bezieht sie sich auf die Kombination der TBK18 mit der TBK20.

33

Soweit die Patentansprüche gemäß Hauptantrag und Hilfsanträgen auf ein Verfahren zur Schwangerschaftsverhütung gerichtet zu interpretieren seien, fehle es an der gewerblichen Anwendbarkeit, da ein solches Verfahren in einem privaten, der gewerblichen Anwendbarkeit nicht zugänglichen Bereich eines Menschen anzuwenden sei.

34

Die Klägerin stellt den Antrag,

35

das europäische Patent 1 448 207 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.

36

Die Beklagte stellt den Antrag,

37

die Klage mit der Maßgabe abzuweisen, dass das Streitpatent die Fassung des Hauptantrags, hilfsweise des Hilfsantrags, beide gemäß Schriftsatz vom 5. Mai 2015, weiter hilfsweise die Fassung eines der Hilfsanträge 2 oder 3 gemäß Schriftsatz vom 19. November 2015, erhält.

38

Patentansprüche 1 und 2 gemäß Hauptantrag vom 5. Mai 2015 lauten wie folgt:

39

1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall als Einzelverabreichungsdosis bis zu 72 Stunden nach dem Koitus, dadurch gekennzeichnet, dass

40

sie 1,5 ± 0,2 mg Levonorgestrel als Wirkstoff zusammen mit bekannten Trägerstoffen, Verdünnungsmitteln, Geschmacks- oder Aromastoffen, Stabilisatoren sowie formulierungsunterstützenden oder formulierungsbereitstellenden Zusätzen enthält, die gewöhnlich in der pharmazeutischen Praxis verwendet werden.

41

2. Verwendung von 1,5 ± 0,2 mg Levonorgestrel zur Herstellung eines Arzneimittels zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall, wobei das Arzneimittel für die Verabreichung einer Einzelverabreichungsdosis bis zu 72 Stunden nach dem Koitus ist.

42

Patentansprüche 1 und 2 gemäß Hilfsantrag vom 5. Mai 2015 (= Hilfsantrag 1) lauten wie folgt:

43

1. Verfahren für Empfängnisverhütung im Notfall, gekennzeichnet durch Verabreichung einer pharmazeutischen Zusammensetzung als Einzelverabreichungsdosis bis zu 72 Stunden nach dem Koitus,

44

wobei die Zusammensetzung 1,5 ± 0,2 mg Levonorgestrel als Wirkstoff zusammen mit bekannten Trägerstoffen, Verdünnungsmitteln, Geschmacks- oder Aromastoffen, Stabilisatoren sowie formulierungsunterstützenden oder formulierungsbereitstellenden Zusätzen enthält, die gewöhnlich in der pharmazeutischen Praxis verwendet werden.

45

2. Verwendung von 1,5 ± 0,2 mg Levonorgestrel zur Empfängnisverhütung im Notfall mittels Verabreichung einer Einzelverabreichungsdosis bis zu 72 Stunden nach dem Koitus.

46

Hilfsantrag 2 vom 19. November 2015 unterscheidet sich von dem Hauptantrag lediglich dadurch, dass das Merkmal „als Einzelverabreichungsdosis“ in Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 2 vor dem Merkmal „zur Verwendung zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall“ eingefügt ist.

47

Der einzige Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 vom 19. November 2015 ist identisch mit Patentanspruch 2 gemäß Hauptantrag.

48

Die Beklagte tritt dem Vorbringen der Klägerin in allen Punkten entgegen und stützt ihre Argumentation auf folgende Dokumente:

49

HE1 Assignment zwischen Dr. T. Türmen und Dr. P.F.A. van Look, World Health Organization und Gedeon Richter Ltd., unterzeichnet am 19. Februar 2002

50

HE2 Ho, P. C. und Kwan, M. S. W., "A prospective randomized comparison of levonorgestrel with the Yuzpe regimen in post-coital contraception" Human Reproduction, 1993, 8, S. 389 bis 392

51

HE3 Task Force on Postovulatory Methods of Fertility Regulation, "Randomised controlled trial of levonorgestrel versus the Yuzpe regimen of combined oral contraceptives for emergency contraception", The Lancet 1998, 352, S. 428 bis 433

52

HE4 Fotherby, K., "Bioavailability of Orally Administered Sex Steroids Used in Oral Contraception and Hormone Replacement Therapy", Contraception 1996, 54, S. 59 bis 69

53

HE5 Schermer, E.-M., "Die Offenbarung der therapeutischen Wirkung eines Stoffs bei der zweiten medizinischen Indikation", GRUR 2009, S. 349 bis 353

54

HE6 Killick, S. (Ed.), "Editorial", Gynaecology Forum FIGO Congress Issue 2000

55

HE7 British Court of Appeal, Appeal No. A3/2014/2161, Permission of Appeal, 14. Januar 2015

56

HE8 Ngai, S. W. et al., "A randomized trial to compare 24h versus 12h double dose regimen of levonorgestrel for emergency contraception", Human Reproduction, 2005, 20, S. 307 bis 311

57

HE9 UNDP/UNFPA/WHO/World Bank Special Programme of Research, Development and Research Training in Human Reproduction, Annual Technical Report 2001, WHO/RHR/02.5, World Health Organization Genf 2002, Deckblatt, Impressum, S. 1, 18 und 19

58

HE10 WHO Medicines, "WHO Model List of Essential Medicines", 15. Ausgabe, März 2007, Deckblatt, "Explanatory Notes", S. 20

59

HE11 Calaf Alsina, J., Gutachten vom 15. April 2015

60

HE11a deutsche Übersetzung zu HE11

61

HE12 Zeichnungen zu HE11

62

HE12a deutsche Übersetzung zu HE12

63

(Nummerierung HE11 bis HE12a vom Senat eingefügt)

64

Die Beklagte ist der Auffassung, es liege keine Schutzbereichserweiterung vor. Die geänderten Patentansprüche wiesen den gleichen oder einen engeren Schutzbereich wie die Kombination der erteilten Ansprüche auf.

65

Die vorliegenden Patentansprüche seien als medizinische Verwendungsansprüche gemäß Art. 54 Abs. 4 und 5 EPÜ zu interpretieren. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Patentamts sei die Frage, ob eine beanspruchte Verwendung therapeutischer oder nicht therapeutischer Natur sei, ausschließlich auf der Grundlage der bei dieser Verwendung durchgeführten Aktivitäten und/oder der dabei erzielten Effekte zu entscheiden (vgl. EPA T 1635/09). Nicht von Bedeutung sei folglich, ob die Absicht oder der Zweck des Verfahrens therapeutisch sei, solange das Verfahren einen Aspekt inhärent therapeutischer Natur aufweise. Ein kontrazeptives Verfahren, das die Verabreichung eines oralen Kontrazeptivums beinhalte, habe stets als therapeutisches Verfahren i. S. d. Art. 53 Buchst. c EPÜ zu gelten, wenn die Sicherheit und die Vermeidung von Nebenwirkungen für orale Kontrazeptiva berücksichtigt würden. Im Übrigen sei ein besseres Nebenwirkungsprofil des beanspruchten Verabreichungsschemas für Levonorgestrel gegenüber dem Yuzpe-Verfahren auch aus der Streitpatentschrift herleitbar.

66

Die Neuheit des beanspruchten Gegenstandes sei gegeben. Hierzu sei erforderlich, dass der Stand der Technik die Tauglichkeit von 1,5 mg Levonorgestrel als Einzelverabreichungsdosis bis zu 72 Stunden nach dem Koitus für die Empfängnisverhütung im Notfall offenbare. Dies sei in keinem der Dokumente TBK5 bis TBK8 gezeigt. Aus der TBK9 mag ersichtlich sein, dass die dortige Angabe 1,5 g Levonorgestrel fehlerhaft sei, nicht ersehen könne der Fachmann daraus jedoch die streitpatentgemäß erforderliche Dosis für die Levonorgestrel-Einzelverabreichungsdosis. Auch enthalte die TBK9 keinerlei Information zum Zeitpunkt der Verabreichung von Levonorgestrel. Eine gemeinsame Betrachtung von TBK9 und TBK10 als die gleiche Offenbarung sei nicht gerechtfertigt.

67

Ferner beruhe der Gegenstand des Streitpatents in seiner beschränkt beanspruchten Fassung auf einer erfinderischen Tätigkeit. Im Hinblick auf das Wissen des Fachmanns zum Prioritätszeitpunkt und den Offenbarungsgehalt der verfahrensgegenständlichen Dokumente, wonach alle bekannten Dosierungsschemata von Levonorgestrel mit bestätigter Tauglichkeit das 12-Stunden-Intervall als notwendiges Merkmal enthielten, habe der Fachmann, auch wenn das 12-Stunden-Intervall als unpraktisch angesehen worden sei, ohne Ergebnisse von klinischen Studien keinen Grund gehabt, zu erwarten, dass das Einmaldosierungsschema von 1,5 mg Levonorgestrel für die Empfängnisverhütung im Notfall wirksam sei. Des Weiteren habe der Fachmann den einschlägigen Dokumenten keine Anregung entnehmen könne, die anspruchsgemäße Zeitspanne von 72 Stunden nach dem Koitus ins Auge zu fassen.

68

Der beanspruchte Gegenstand sei auch gewerblich anwendbar, da die Verwendung eines Notfallkontrazeptivums nicht auf die tatsächliche Verwenderin beschränkt sei, sondern auch unter ärztlicher Aufsicht oder Betreuung durchgeführt werden könne.

Entscheidungsgründe

I.

69

1. Die auf die Nichtigkeitsgründe der mangelnden Patentfähigkeit, unzureichender Offenbarung und unzulässiger Erweiterung (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1, 2, 3 und 4 IntPatÜG, Art. 123 Abs. 2, Art. 138 Abs. 1 lit. a), b), c) und d) EPÜ i. V. m Art. 52 Abs. 1, Art. 54, Art. 56 und Art. 57 EPÜ gestützte Klage ist zulässig und hat in der Sache auch Erfolg.

70

2. Das Streitpatent betrifft eine pharmazeutische Zusammensetzung enthaltend Levonorgestrel als Einzelverabreichungsdosis für die Notfallschwangerschaftsverhütung sowie die Verwendung von Levonorgestrel zur Herstellung eines Arzneimittels zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall (vgl. TBK1 Patentansprüche 1 und 2 sowie S. 2 Abs. [0001]).

71

Nach den Ausführungen im Streitpatent stehen im Fall eines ungeplanten oder ungewollten Koitus mit unzulänglicher Verhütung die bekannten Verhütungsmittel bei regulärem und geplantem Koitus nicht zur Verfügung, weshalb eine sichere postkoitale Schwangerschaftsverhütung von Bedeutung ist. In diesem Fall muss die Verhütung in relativ kurzer Zeit vor der Einnistung des befruchteten Eies erreicht werden, weshalb man auch von Notfallverhütung bzw. Notfallkontrazeption oder Schwangerschaftsverhütung im Notfall spricht (vgl. TBK1 S. 2 Abs. [0002] und [0003]). Die für lange Zeit in Kombinationspräparaten als Verhütungsmittel verwendeten Progestine Norgestrel und Levonorgestrel wurden in den 70er Jahren als postkoitale Routineverhütungsmittel getestet. Als Ergebnis wurde ein geeignetes Mittel aus 0,1 mg Ethinylestradiol und 1,0 mg Norgestrel, anwendbar in einer Einzeldosis innerhalb von fünf Tagen nach dem Koitus, gefunden. Die Reduzierung der Verabreichungszeitspanne auf 72 Stunden und die Verabreichung einer zweiten Dosis 12 Stunden nach der ersten Dosis führte zu einer Verbesserung des Erfolgs des Verfahrens (= Yuzpe-Regime), wobei sich auch eine Gesamtdosis von 0,2 mg Ethinylestradiol mit 1,0 mg Levonorgestrel als wirksam erwiesen hat. Allerdings war das Auftreten von auf der Wirkung des Östrogens Ethinylestradiol beruhenden Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen sehr hoch, wodurch eine verringerte Einhaltung der Dosierung und eine sinkende Wirkung bei Erbrechen zu beobachten war (vgl. TBK1 S. 2 Abs. [0004] bis [0007]). In den 90er Jahren wurde gefunden, dass bei Verwendung von 2 Tabletten à 0,75 mg Levonorgestrel in einer 12 Stunden getrennten Verabreichung weniger Nebenwirkungen bei gleichzeitig besserer Wirkung auftraten als bei dem bis dahin verwendeten Yuzpe-Regime. Die Erfahrung zeigte allerdings auch, dass zur korrekten Einhaltung der Dosisempfehlung die Einnahme der ersten Dosis oftmals so verzögert wurde, dass die Einnahme der zweiten Dosis nach 12 Stunden nicht in eine extrem ungünstige Zeit (z. B. 3 Uhr morgens) fallen würde. Die Verordnung des 12-Stundenintervalls zwischen den beiden Dosen verringerte die Einhaltung dieser Zeitspanne, die zweite Dosis wurde nach statistischen Untersuchungen von einem Großteil der Frauen innerhalb von 12 bis 16 Stunden nach der ersten eingenommen. Da aber die Antiovulationswirkung für die postkoitale Verhütung große Bedeutung hat und diese teilweise von der Zeit abhängt, die zwischen der Verabreichung und der erwarteten Zeit des Eisprungs verstreicht, scheint die Einhaltung des 12 Stundenintervalls wichtig zu sein (vgl. TBK1 S. 2 und 3 Abs. [0008] bis [0012]).

72

3. Vor diesem Hintergrund ist die dem Streitpatent zugrunde liegende Aufgabe darin zu sehen, eine pharmazeutische Zusammensetzung und ein Verfahren für die Schwangerschaftsverhütung im Notfall mit einer verbesserten Einhaltung des Dosierungsschemas ohne Verringerung der Effizienz bereitzustellen (vgl. TBK1 S. 3 Abs. [0013] und [0014]).

73

Die weitere Aufgabe des Streitpatents liegt entgegen der Auffassung der Patentinhaberin nicht in der Vermeidung von Nebenwirkungen. Denn das technische Problem ergibt sich aus dem, was die Erfindung tatsächlich leistet (vgl. BGH GRUR 2010, 602 Ls. und 605 Rn. 27 – Gelenkanordnung m. w. N.). Dabei sind aber nicht kumulativ alle Vorteile zu berücksichtigen, die die Erfindung objektiv mit sich bringt (vgl. BGH GRUR 2015, 352 Rn. 12 – Quetiapin). Insbesondere wenn sich erst bei den Bemühungen der Erfinder um eine Weiterentwicklung des Standes der Technik herausgestellt hat, dass die Lösung die genannten vorteilhaften Eigenschaften aufweist, sind Elemente, die sich bei der Erarbeitung der patentgemäßen Lösung herausgestellt haben, bei der Aufgabendefinition nicht zu berücksichtigen (vgl. BGH GRUR 2015, 356, 357 Rn. 9 – Repaglinid). Da sich in der Streitpatentschrift erst in Folge der klinischen Studie der Einzeldosis von 1,5 mg Levonorgestrel herausgestellt hat, dass dieses Dosisregime bezüglich der Nebenwirkungen dieselben vorteilhaften Eigenschaften wie die bekannte Doppeldosis für die Notfallverhütung zeigt, bei der zweimal 0,75 mg Levonorgestrel verabreicht werden (vgl. TBK1 S. 3 Abs. [0018] bis Abs. [0020]), und sich zudem die Streitpatentschrift schwerpunktmäßig nur mit der Vereinfachung des Dosisregimes beschäftigt (vgl. TBK1 S. 3 Abs. [0011] und [0013]), sind die Offenbarungen hinsichtlich der Nebenwirkungen als Elemente zu werten, die sich bei der Erarbeitung der patentgemäßen Lösung herausgestellt haben. Sie sind somit nicht bei der Aufgabenbestimmung zu berücksichtigen.

74

4. Gelöst wird die streitpatentgemäße Aufgabe gemäß Patentanspruch 1 nach Hauptantrag durch eine

75

1.1 Pharmazeutische Zusammensetzung

76

1.2 zur Verwendung zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall

77

1.3 als Einzelverabreichungsdosis

78

1.4 bis zu 72 Stunden nach dem Koitus, enthaltend

79

1.5 1,5 ± 0,2 mg Levonorgestrel als Wirkstoff

80

1.6 zusammen mit bekannten Trägerstoffen, Verdünnungsmitteln, Geschmacks- oder Aromastoffen, Stabilisatoren sowie formulierungsunterstützenden oder formulierungsbereitstellenden Zusätzen, die gewöhnlich in der pharmazeutischen Praxis verwendet werden.

81

und nach Patentanspruch 2 gemäß Hauptantrag durch die

82

2.1 Verwendung von 1,5 ± 0,2 mg Levonorgestrel

83

2.2 zur Herstellung eines Arzneimittels

84

2.3 zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall

85

2.4 für die Verabreichung einer Einzelverabreichungsdosis

86

2.5 bis zu 72 Stunden nach dem Koitus.

87

5. Bei dem zuständigen Fachmann handelt es sich um ein Team, dem jedenfalls ein klinischer Pharmakologe und ein Gynäkologe jeweils mit langjähriger praktischer Erfahrung auf dem Gebiet der oralen Schwangerschaftsverhütung angehören (vgl. BGH GRUR 2010, 123, 125 Rn. 27 – Escitalopram; BGH GRUR 2007, 404, 406/407 Rn. 26 – Carvedilol II).

II.

88

Die Patentansprüche 1 bis 3 nach Hauptantrag sind zwar zulässig, erweisen sich aber mangels Patentfähigkeit als nicht bestandsfähig.

89

1. Die von der Klägerin geltend gemachte unzulässige Erweiterung liegt nicht vor.

90

Der Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag leitet sich von den erteilten Patentansprüchen 1 bis 3 sowie von den Patentansprüchen 1 und 2 der Offenlegungsschrift TBK3 her. Der Patentanspruch 2 nach Hauptantrag ist aus den erteilten Patentansprüchen 2 und 3 sowie den Patentansprüchen 4 und 2 der TBK3 ableitbar.

91

Durch die im Patentanspruch 1 nach Hauptantrag eingefügte Zweckangabe "zur Verwendung zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall …" wird der Schutzbereich nicht erweitert, weil dadurch die Verwirklichung der in Patentanspruch 1 geschützten Lehre an eine zusätzliche Bedingung geknüpft wird. Zum anderen liegt kein Aliud vor, wenn der Fachmann aus dem Hauptanspruch, einem Unteranspruch, der Beschreibung und den Zeichnungen das Merkmal entnehmen kann, das in der geänderten Fassung der Ansprüche als wesentliches Merkmal verwendet worden ist (vgl. Benkard/Schäfers, PatG, 11. Aufl., § 38 Rn. 21a i. V. m. BGH GRUR 2010, 513, 519 Rn. 62, 63 – Hubgliedertor II). Demzufolge ist im Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag durch die Ergänzung kein Austausch des erteilten Gegenstands durch einen anderen erfolgt, da in der Streitpatentschrift sowohl die Patentansprüche 2 und 3 als auch die gesamte Beschreibung auf die ergänzte Zweckangabe der Notfallkontrazeption gerichtet sind (vgl. TBK1 Patentansprüche 2, 3, S. 2 Abs. [0001], S. 3 Abs. [0014], Abs. [0017] und [0020]).

92

2. Die Prüfung der Patentfähigkeit erfordert die Auslegung des Patentanspruchs, bei der dessen Sinngehalt in seiner Gesamtheit und der Beitrag, den die einzelnen Merkmale zum Leistungsergebnis der Erfindung liefern, zu bestimmen sind. Grundlage für die Auslegung ist dabei die Patentschrift, wobei zur Ermittlung des Sinngehalts eines Merkmals das Verständnis des Fachmanns entscheidend ist, der Begriffe in Patentansprüchen so deutet, wie sie sich ihm anhand des Gesamtinhalts der Patentschrift unter Berücksichtigung von Aufgabe und Lösung erschließen (vgl. BGH GRUR 2012, 1124 Ls. 1, 1126 Rn. 27, 28 – Polymerschaum m. w. N. sowie BGH GRUR 1999, 909 Ls. 1, 911 III.3.a) bis 912 III.3.c) – Spannschraube; BGH GRUR 2001, 232 Ls., 233 I. – Brieflocher).

93

2.1. Vorliegend enthält die Streitpatentschrift an keiner Stelle eine Definition des Begriffs "Einzelverabreichungsdosis". Somit bedarf es hinsichtlich dieses Begriffs der Ermittlung des objektiven fachmännischen Verständnisses. Der Fachmann wird daher den Sinngehalt des in Rede stehenden Merkmals anhand der Ausführungen im Streitpatent, insbesondere anhand der angeführten Studie ermitteln. Daraus ergibt sich, dass die streitpatentgemäße Dosis von 1,5 mg Levonorgestrel nicht, wie im bekannten Schema, in zwei Schritten bzw. Einzeldosen à 0,75 mg Levonorgestrel im 12 Stunden-Abstand verabreicht wird (vgl. TBK1 S. 3 Abs. [0016]), sondern die Gesamtdosis von 1,5 mg Levonorgestrel zu einem Zeitpunkt eingenommen wird (vgl. TBK1 S. 3 Abs. [0017]). Dabei spielt die Anzahl der Dosierungseinheiten – z. B. Einnahme von 1 Tablette mit 1,5 mg Levonorgestrel oder gleichzeitige Einnahme von 2 Tabletten à 0,75 mg Levonorgestrel – keine Rolle, solange das zeitliche Dosierungsschema eingehalten wird (vgl. TBK1 S. 3 Abs. [0013] bis [0015]). Der Fachmann wird das Merkmal "Einzelverabreichungsdosis" somit im Sinne einer an einem einzigen Einnahmezeitpunkt erfolgten Gabe der streitpatentgemäßen Gesamtdosis von 1,5 mg Levonorgestrel verstehen.

94

2.2. Auszulegen ist weiterhin, ob die Merkmale 1.2 und 1.4 eine therapeutische Behandlung des menschlichen Körpers i. S. d. Art. 53 lit.c, 54 Abs. 3, 4 EPÜ implizieren und damit im Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag ein Erzeugnis mit einer zweiten medizinischen Indikation beansprucht wird.

95

Die Empfängnisverhütung als solche stellt in der Regel keine therapeutische Behandlung des menschlichen Körpers dar, weil die Schwangerschaft kein pathologischer Zustand ist und damit keine Krankheit darstellt (vgl. Benkard/Mellulis PatG, 11. Aufl., § 2a Rn. 82 le. Satz; Benkard EPÜ, 2. Aufl., Art. 53 Rn. 112, 113; EPA T 74/93 Rn. 2.2.3 und BPatG, BPatGE 1965, 1, 3 vorle. Abs. – 14 W 122/63). Kontrazeptive Verfahren sind nur dann als therapeutische Verfahren des menschlichen Körpers anzusehen, wenn sie einer möglichen gesundheitlichen Gefährdung durch eine ungewollte Schwangerschaft vorbeugen oder wenn die Vermeidung oder Abschwächung von zu erwartenden pathologischen Nebenwirkungen bei der Bemessung des jeweiligen Anteils der Inhaltsstoffe eine Rolle spielt (vgl. Schulte/Moufang PatG, § 2a, Rn. 73, Benkard, EPÜ, 2. Aufl., 2012, Art. 53 Rn. 112 m. w. N.). Ein derartiger Fall liegt mit dem Streitpatent nicht vor. Denn gemäß der Streitpatentschrift geht es nicht um die Vermeidung oder Abschwächung von Nebeneffekten, wie z. B. Übelkeit oder Erbrechen, bei der Schwangerschaftsverhütung im Notfall, sondern um einen effektiven Notfallschutz bei einem leichter handhabbaren Dosierungsschema, wobei die Gesamtdosis gegenüber dem herkömmlichen Verfahren unverändert bleibt (vgl. streitpatentgemäße Aufgabe in I.1.3. und TBK1 S. 3 Abs. [0017]). Daran ändern auch die Ausführungen in den Abs. [0018] bis [0020] der Streitpatentschrift nichts. Denn die Beachtung und Vermeidung von Nebenwirkungen bei der Notfallkontrazeption stellt im Gesamtzusammenhang der Streitpatentschrift einen lediglich untergeordneten Aspekt dar, den der Fachmann im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht bei klinischen Studien stets im Auge zu behalten hat. Die streitpatentgemäße Verwendung weist somit keinen zugleich verfolgten therapeutischen Zweck auf.

96

Demgegenüber wurden in den Ausnahmefällen der von der Patentinhaberin angeführten Entscheidungen des Europäischen Patentamts der kontrazeptiven Zusammensetzung Östrogen- und Gestagensteroide explizit zur Vermeidung schädlicher Folgen des Kontrazeptivums zugegeben bzw. die Konzentration an kontrazeptiven Wirkstoff ausdrücklich zur Vermeidung oder Reduzierung von Nebenwirkungen entsprechend gering gewählt (vgl. EPA T 820/92 Rn. 5.2 und EPA T 1635/09 1. Orientierungssatz).

97

Auch der Hinweis der Patentinhaberin auf die Entscheidung G 0002/08 der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts, wonach ein Dosisschema als funktionales Merkmal für die Beanspruchung einer zweiten medizinischen Indikation zulässig sei, führt im Streitfall nicht zu einer anderen Beurteilung. Denn gemäß BGH-Rechtsprechung ist eine reine Dosierungsempfehlung dem Patentschutz nicht zugänglich, da die Verabreichung einer für die Behandlung einer bestimmten Krankheit vorgesehenen Medizin als solche ein therapeutisches Verfahren zur Behandlung des menschlichen Körpers ist. Der Patentschutz wird vielmehr durch die Herrichtung eines Stoffes zur Verwendung bei der Behandlung einer Krankheit ermöglicht, wobei jedoch durch von der Herrichtung des Stoffs gelöste, reine Dosisempfehlungen keine Patentfähigkeit begründet wird (vgl. BGH GRUR 2007, 404 Ls. 1 und 2, 405 Rn. 16 – Carvedilol II). Konsequenterweise stellt somit eine Dosisempfehlung wie im Streitfall auch keine Basis für eine zweite medizinische Indikation dar.

98

Als Folge davon, dass der vorliegend beanspruchte Verwendungszweck keine therapeutische Behandlung betrifft, kommt den Merkmalen "zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall" und "bis zu 72 Stunden nach dem Koitus" auch keine im Sinne des Art. 54 Abs. 3, 4 EPÜ bzw. des § 3 Abs. 3, 4 PatG die Patentfähigkeit begründende Bedeutung zu. Zu beachten sind diese Merkmale somit nur insoweit, als dass die anspruchsgemäß hergestellte pharmazeutische Zusammensetzung für die Schwangerschaftsverhütung im Notfall als Einzelverabreichungsdosis bis zu 72 Stunden nach dem Koitus geeignet sein muss (vgl. BGH GRUR 2009, 837 Ls. – Bauschalungsstütze).

99

3. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag mag ausführbar sein, weil die Streitpatentschrift nicht nur die Ergebnisse einer Doppelblindstudie hinsichtlich der erzielten Wirkung angibt, sondern auch mehrere Ausführungsbeispiele aufzeigt (vgl. TBK1 S. 3 Abs. [0017] bis S. 4 Abs. [0029]). Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hauptantrag ist jedenfalls gegenüber dem Stand der Technik gemäß TBK9/TBK10 nicht neu.

100

3.1. TBK9 referiert über drei Vorträge zum Thema Notfallkontrazeption, die im Rahmen des internationalen Gynäkologie- und Geburtsmedizinkongresses "XVI FIGO World Congress of Gynecology and Obstetrics", der vom 3. bis zum 8. September 2000 stattgefunden hat, gehalten worden sind (vgl. TBK9 Deckblatt und S. 8 li. Sp. Abs. 1). Dabei werden unter Hinweis auf den Vortrag von Frau Dr. von H… die Ergebnisse einer WHO-Studie vorgestellt, in der drei Dosisregime verglichen werden, von denen ein Dosisregime als Einmalgabe von 1,5 g Levonorgestrel beschrieben wird (vgl. TBK9 S. 9 re. Sp. Abs. 1). Weiterhin zeigen nach den Angaben in TBK9 alle drei untersuchten Dosisregime eine Wirksamkeit, so dass der Fachmann dem Vortrag von Frau Dr. von H… die Eignung der Einmalgabe von Levonorgestrel für die Notfallkontrazeption entnehmen konnte (vgl. TBK9 S. 9 Tab. II). Gemäß dem Vortragsabstract TBK10, das durch Bezugnahme auf den Vortrag von Frau Dr. von H… in TBK9 zur Grundlage dieser Zusammenfassung und damit zu deren Inhalt gemacht worden ist (vgl. BGH GRUR 1980, 283 Ls. 1, 284 II.3.b) – Terephthalsäure), hat die Vortragende zudem die Verwendung von 1,5 mg Levonorgestrel innerhalb von 120 Stunden nach dem Koitus für die Notfallkontrazeption vorgestellt (vgl. TBK10 Abstract RM1.01.03, vorletzter Abs.). Durch die Bereichsangabe "innerhalb von 120 Stunden" werden sämtliche Zwischenwerte und -bereiche von unmittelbar nach dem Koitus bis 120 Stunden nach dem Koitus und damit auch der streitpatentgemäße Bereich innerhalb von 72 Stunden nach dem Koitus offenbart (vgl. BGH GRUR 1990, 510, 512 III3d) – Crackkatalysator; BGH GRUR 1992, 842 Ls. 2 – Chrom-Nickel-Legierung; BGH GRUR 2000, 591 Ls. 1, 593 IV1b) – Inkrustierungsinhibitoren).

101

Bei der Angabe "1,5 g Levonorgestrel" in TBK9 handelt es sich um einen für den Fachmann offensichtlichen Druckfehler, den er erkennt und ohne weiteres korrigiert (vgl. Schulte/Moufang PatG, 9. Aufl, § 3 Rn. 98; Benkard/Mellulis PatG, 11. Aufl., § 3 Rn. 182, 183), da eine gegenüber der fachüblichen Dosis um den Faktor 1000 erhöhte Gabe des hormonellen Wirkstoffs Levonorgestrel weder im Stand der Technik für die Notfallkontrazeption beschrieben noch in dieser Größenordnung in der von Frau Dr. von H… vorgestellten WHO-Studie verwendet worden ist (vgl. TBK5 S. 10 re. Sp. Abs. 2, S. 99 re. Sp. mittl. Abs.; TBK6 S. 9 re. Sp. vorle. Abs., S. 324/325 seitenübergr. Abs.; TBK7 S. 45 re. Sp. le. Abs.; TBK8 S. 13 re. Sp. Abs. 2, S. 104 li. Sp. vorle. Abs.). Darüber hinaus liegt mit dem Abstract TBK10 der Abstract-Sammlung zu dem Kongress "XVI FIGO World Congress of Gynecology and Obstetrics" eine zweite druckschriftliche Zusammenfassung des in TBK9 zitierten Vortrags von Frau Dr. von H… vor (vgl. TBK9 S. 9 re. Sp. Abs. 1 und TBK10 Abstract RM1.01.03 Titel und Autorin/Vortragende). Aus diesem Abstract ist ersichtlich, dass Frau Dr. von H… in ihrem Vortrag bezugnehmend auf die WHO-Studien in Verbindung mit der Verabreichung einer Einzeldosis von Levonorgestrel nur ein Dosisregime von 1,5 mg für die Notfallkontrazeption vorgestellt hat (vgl. TBK10 Abstract RM1.01.03 le. Abs.).

102

Bei der Bezugnahme auf TBK10 im Zusammenhang mit der Offenbarung der TBK9 handelt es sich nicht um eine für die Neuheitsprüfung unzulässige Verknüpfung unterschiedlicher Druckschriften. Beide Entgegenhaltungen offenbaren eine Zusammenfassung des Vortrags von Frau Dr. von H…, den sie anlässlich des Kongresses "XVI FIGO World Congress of Gynecology and Obstetrics" gehalten hat, so dass der Vortrag an sich die neuheitsschädliche Vorbeschreibung darstellt, dessen Zusammenfassung sich jeweils in TBK9 und TBK10 widerspiegelt. Zudem wird in TBK9 expressis verbis auf diesen Vortrag hingewiesen (vgl. TBK9 S. 8 li. Sp. Abs. 1 und S. 9 re. Sp. Abs. 1). Damit stellt das Abstract zu diesem Vortrag, das sich in der Abstractsammlung TBK10 findet, – wie vorstehend unter Bezugnahme auf die BGH-Entscheidung "Terephthalsäure" ausgeführt – einen integralen Bestandteil der Veröffentlichung TBK9 dar, so dass es sich bei der gemeinsamen Betrachtung der Dokumente TBK9 und TBK10 nicht um eine Verknüpfung unterschiedlicher Schriften handelt, die allenfalls die erfinderische Tätigkeit berühren könnte (vgl. Benkard/Mellulis PatG, 11. Auflage, § 3 Rn. 25).

103

Mit dem Vortrag von Frau Dr. von H… gemäß TBK9 und TBK10 sind somit sämtliche Merkmale des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag neuheitsschädlich vorbeschrieben.

104

3.2. Der Einwand der Beklagten, dass der britische High Court of Justice die Korrektur der Dosis von 1,5 g auf 1,5 mg Levonorgestrel im Rahmen der Neuheitsprüfung nicht akzeptiert habe (vgl. TBK11 Rn. 31), führt zu keiner anderen Sichtweise. Denn auch der britische High Court of Justice vertritt die Meinung, dass die Dosis von 1,5 g Levonorgestrel so weit entfernt von der fachüblichen Dosis an Levonorgestrel ist, dass der Fachmann beim Studium des Artikels TBK9 sofort die fehlerhafte Dosisangabe erkennt (vgl. TBK11 Rn. 32). Aus Sichtweise des britischen High Court of Justice handelt es sich bei der Korrektur dieses Fehlers allerdings nicht um eine Frage der Neuheit sondern um eine Frage des Naheliegens, weil der fachkundige Leser zur Ermittlung der richtigen Dosis Kontakt mit Frau Dr. von H… aufgenommen hätte und infolge dessen dann die richtige Dosisangabe von 1,5 mg Levonorgestrel herausgefunden hätte (vgl. TBK11 Rn. 32, 33 und 44).

105

3.3. Die explizite Angabe von Studienergebnissen zum Nachweis einer Wirkung ist im Übrigen entgegen der Auffassung der Beklagten, die sie unter Hinweis auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des europäischen Patentamts – in der mündlichen Verhandlung wurde insbesondere auf T 158/96 verwiesen – vertritt, zur Offenbarung einer medizinischen Indikation, wie sie in der TBK9 für Levonorgestrel im Zusammenhang mit der Notfallkontrazeption beschrieben werde, nicht erforderlich (vgl. Benkard/Mellulis, PatG, 11. Aufl. § 3 Rn. 384). Abgesehen davon, dass mit der Einmaldosis von 1,5 mg Levonorgestrel zur Notfallkontrazeption keine therapeutische Behandlung des menschlichen Körpers beansprucht wird (vgl. II.2.2.), ist mit der Tatsache, dass sich dieses Dosisregime in der klinischen Prüfung befindet, eine im patentrechtlichen Sinn ausreichende Offenbarung der Wirkung anzuerkennen, weil klinische Versuche grundsätzlich erst dann durchgeführt werden dürfen, wenn pharmakologische und toxikologische Voruntersuchungen mehr als nur eine plausible Erfolgsaussicht belegen (vgl. HE5 S. 6 von 8 Abs. 2 m. w. N.). Dass dabei auf dem Gebiet der Notfallkontrazeption weder Tiermodelle noch geeignete in vitro Versuche vorhanden sind, erzeugt beim Fachmann keine weniger plausible Erfolgsaussicht, weil ihm zum einen bereits die empfängnisverhütende Wirkung von Levonorgestrel im Notfall aus dem Dosisregime von zweimal 0,75 mg Levonorgestrel im 12 h Abstand bekannt ist und es sich zum anderen bei der WHO-Studie um eine große multinationale randomisierte Doppelblindstudie mit zum Zeitpunkt des Vortrags von Frau Dr. von H…

bereits über 3700 untersuchten Probandinnen handelt (vgl. TBK9 S. 9 Tab. II), die schon aus ethischen Gründen nur mit einer entsprechenden Erfolgsaussicht durchgeführt und fortgesetzt wird (vgl. HE11a S. 22 le. Abs.).

106

3.4. Auch der Hinweis der Beklagten unter Bezugnahme auf die HE4, dass die Einmaldosis gegenüber der herkömmlichen zweifachen Gabe von Levonorgestrel im 12 h Abstand eine völlig andere Pharmakokinetik aufzeige (vgl. HE4 Fig. 1, S. 64 Tab. 1, S. 65 li. Sp. Abs. 2, re. Sp. vorle. Abs., S. 66 re. Sp. Abs. 4), weshalb es für den Fachmann nicht unmittelbar und eindeutig auf der Hand gelegen habe, dass auch die Einmaldosis für die Notfallkontrazeption innerhalb von 72 h erfolgreich sein könnte, kann nicht überzeugen. Denn der Vortrag von Frau Dr. von

H… offenbart unmittelbar und eindeutig die Wirkung der Einmaldosis von 1,5

mg Levonorgestrel zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall (vgl. TBK9 S. 9 Tab. II), wobei eine statistische Signifikanz der vorgestellten Ergebnisse für eine neuheitsschädliche Offenbarung nicht erforderlich ist.

107

4. Im Hinblick auf den über TBK9/TBK10 hinausgehenden Stand der Technik beruht der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag auch nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

108

4.1. Ausgangspunkt zum Auffinden einer Lösung des dem Streitpatent zugrunde liegenden Problems, eine pharmazeutische Zusammensetzung und ein Verfahren für die Schwangerschaftsverhütung im Notfall mit einer verbesserten Einhaltung des Dosierungsschemas ohne Verringerung der Effizienz bereitzustellen, stellt die Druckschrift TBK20 dar. TBK20 beschreibt die Verabreichung von zwei 0,75 mg Levonorgestrel enthaltenden Tabletten in einem zeitlichen Abstand von 12 Stunden für die Notfallkontrazeption, wobei die Wirksamkeit dieses Dosisregimes 72 Stunden nach dem Koitus absinkt (vgl. TBK20 S. 629/630 seitenübergr. Abs. und S. 631 2. Spiegelpunkt). Somit erfährt der Fachmann aus dieser Druckschrift, dass Levonorgestrel mit einer Gesamtdosis von 1,5 mg innerhalb von 72 Stunden nach dem Koitus für eine effiziente Schwangerschaftsverhütung verabreicht werden muss. Darüber hinaus lehrt ihn diese Publikation, dass mit Levonorgestrel weniger Nebenwirkungen auftreten (vgl. TBK20 S. 631 3. Spiegelpunkt). Aufgrund dieser Angaben hatte der Fachmann folglich eine Veranlassung, zur Lösung der streitpatentgemäßen Aufgabe auch Levonorgestrel in Betracht zu ziehen. Da die Überlegungen des Fachmanns naturgemäß bei der Fehleranalyse vorhandener Lösungen und deren Verbesserung ansetzen (vgl. BGH, GRUR 2010, 814, 816 Rn. 24 – Fugenglätter), wird er sich insbesondere unter dem Aspekt der Verbesserung der Einhaltung des Dosierungsschemas mit dem Dosisregime von Levonorgestrel beschäftigen. In diesem Zusammenhang vermittelt ihm die TBK7 den Hinweis, dass die zweifache Gabe von 0,75 mg Levonorgestrel in einem 12-Stundenintervall mit Nachteilen verbunden ist und zur Vermeidung dieser Nachteile u.a. auch die Verabreichung von 1,5 mg Levonorgestrel in einer Einzeldosis in Betracht kommt (vgl. TBK7 S. 45 re. Sp. le. Abs). Damit brauchte er nur noch diese Anregung aufzugreifen und die Eignung einer Gabe von 1,5 mg Levonorgestrel als Einzelverabreichungsdosis zur Notfallkontrazeption insbesondere hinsichtlich der Verbesserung der Einhaltung des Dosierungsschemas zu überprüfen. Diese Veranlassung war auch ohne endgültige Ergebnisse der sich in der klinischen Phase befindlichen WHO-Studie gegeben. Denn aufgrund deren langjähriger Durchführung konnte er nicht nur von vornherein davon ausgehen, dass gleichzeitig damit weiterhin die kontrazeptive Wirkung erzielt wird, sondern auch davon, dass der gewünschte Erfolg, die Nachteile des 12-Stunden Intervalls zu eliminieren, erreicht wird. Daher war diese Vorgehensweise für den Fachmann auch mit einer hinreichenden Erfolgserwartung verbunden. Dabei im Zusammenhang mit der Überprüfung seines Wissens aus der TBK20 auch zu berücksichtigen, dass die Schwangerschaftsverhütung im Notfall mit Levonorgestrel innerhalb von 72 Stunden nach dem Koitus am wirksamsten ist, lag auf der Hand.

109

Die in der pharmazeutischen Praxis üblichen Zusätze gemäß Merkmal 1.6 sind dem Fachmann bei der Formulierung von Tabletten aus seinem Fachwissen geläufig, so dass dieses Merkmal nicht zur Begründung der erfinderischen Tätigkeit dienen kann.

110

Bei der Zusammenschau der TBK20 mit der TBK7 gelangt der Fachmann somit ohne erfinderisches Zutun zu einer streitpatentgemäßen pharmazeutischen Zusammensetzung, so dass der Streitgegenstand nahe gelegt gewesen ist.

111

4.2. Der Fachmann hatte auch Anlass, ausgehend von TBK20 sein Augenmerk auf eine Einmaldosis von Levonorgestrel zu richten, obwohl sich die TBK20 mit einem Vergleich des herkömmlichen Yuzpe-Regimes und der Zweimaldosis von 0,75 mg Levonorgestrel im 12 Stunden Abstand beschäftigt und die Einzelverabreichung von Levonorgestrel nicht erwähnt (vgl. TBK20 S. 629 Titel, li. Sp. Abs. 1, S. 629/630 seitenübergr. Abs). Denn für den Fachmann, der sich mit dem technischen Problem befasst, eine vorteilhafte Wirkungen aufweisende Zusammensetzung bereitzustellen, liegt es in der Regel nahe, sich zunächst mit für diese Wirkungen bekannten Zusammensetzungen zu befassen, deren Wirkstoffe zu ermitteln und diese anzureichern, insbesondere wenn Anhaltspunkte für eine Verbesserung der Wirkung durch eine höhere Wirkstoffdosis bestehen (vgl. BGH GRUR, 2010, 607 Ls., 611 Rn. 70 - Fettsäurezusammensetzung). Im Streitfall lag es somit für den Fachmann, der mit der Wirkung von Levonorgestrel bei der Notfallkontrazeption befasst und vertraut ist, nahe, sich auf der Suche nach verbesserten Rezepturen zunächst mit bekannten Levonorgestrelhaltigen Zusammensetzungen zu befassen und diese auf Optimierungsmöglichkeiten zu überprüfen. Zu den nahe liegenden Optimierungsmöglichkeiten gehört es dabei, in bekannten Präparaten die Wirkstoffe anzureichern. Es bestand somit Anlass, die TBK20 in Betracht zu ziehen und ausgehend von deren Lehre, verbesserte Rezepturen zu entwickeln und zu überprüfen, um eine verbesserte Einhaltung des Dosierungsschemas bei der Schwangerschaftsverhütung im Notfall zu erreichen.

112

4.3. Auch der Einwand, dass die Entgegenhaltung TBK7 keine Ergebnisse sondern nur ein gerade in Durchführung befindliches Forschungsprogramm offenbare, weshalb der Fachmann mit dieser Druckschrift keine angemessene Erfolgserwartung verbinde, um sie in seine Überlegungen einzubeziehen, kann nicht durchgreifen. Der Nachweis des Ergebnisses klinischer Tests ist nach anerkanntem Grundsatz kein notwendiges Erfordernis für die ausreichende Offenbarung der therapeutischen Wirksamkeit eines Stoffs (vgl. HE5 S. 5 von 8 vorle. Abs. und S. 6 von 8 Abs. 2 jeweils m. w. N.). Die Tatsache, dass die Einmaldosis von 1,5 mg Levonorgestrel bereits in einer mehrjährigen, multizentrischen und internationalen WHO-Studie für die Schwangerschaftsverhütung im Notfall untersucht wird (vgl. TBK5 bis TBK8) und dabei nicht vom Abbruch dieser Studie bis zum Prioritätstag des Streitpatentes berichtet wird, der bei sich abzeichnender Unwirksamkeit erfolgt wäre, und zugleich die Wirksamkeit dieses Dosisregimes bereits bei über 3700 Frauen nachgewiesen und der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden ist (vgl. Vortrag von Frau Dr. von H… beim "XVI FIGO World Congress of Gynecology and Obstetrics" im September 2000, dokumentiert durch TBK9 S. 9 Fig. II und TBK10 Abstract-Nr. RM1.01.03), ist als eine im patentrechtlichen Sinn ausreichende Offenbarung der therapeutischen Wirkung der Einmalverabreichung von 1,5 mg Levonorgestrel anzuerkennen. Denn klinische Versuche dürfen grundsätzlich erst dann durchgeführt werden, wenn die pharmakologischen und toxikologischen Voruntersuchungen mehr als eine nur plausible Erfolgsaussicht belegen (vgl. HE5 S. 6 von 8 Abs. 2 m. w. N.).

113

Ebenso kann die vom Fachmann erwartete unterschiedliche Pharmakokinetik der Einmalverabreichung von 1,5 mg Levonorgestrel im Gegensatz zur Zweimalgabe von 0,75 mg Levonorgestrel im 12 Stunden Abstand ihn nicht davon abhalten, die Einmalverabreichungsdosis mit der angemessenen Erfolgserwartung auszuprobieren. Denn bei den pharmakokinetischen Überlegungen handelt es sich nur um theoretische Betrachtungen, die kein Vorurteil der Fachwelt im Hinblick auf die Einmaldosis von 1,5 mg Levonorgestrel begründen können. Zudem rechnet der Fachmann aufgrund seines allgemeinen Erfahrungswissens stets mit der Möglichkeit, dass im Stand der Technik vorgeschlagene weitere Schritte sich als verallgemeinerungsfähig und in dem ihm selbst vorschwebenden Lösungsweg verwendbar erweisen könnten (vgl. BGH, MittdtschPatAnw. 2011, 26 Ls. und 29 Rn. [27] – Gleitlagerüberwachung).

114

4.4. Schließlich kann auch dem Einwand, dass die Überprüfung der Einzeldosisverabreichung im vorliegenden Fall der Durchführung einer kompletten klinischen Studie und damit einem vollständigen Forschungsprogramm entspräche, so dass diese keinesfalls als Routinetätigkeit angesehen werden könne, nicht beigetreten werden. Denn die Durchführung von klinischen Studien gehört zur alltäglichen Tätigkeit eines Pharmakologen (vgl. HE11a S. 11 bis 14 Kap. 5; TBK14 S. 5ff. Kap. E), der Teil des für das streitpatentgemäße Fachgebiet zuständigen Teams ist (vgl. I.5.), und damit zu seiner Routine. Der dafür notwendige Aufwand ist durch das Fachgebiet vorgegeben, so dass auf Gebieten, in denen keine geeigneten in vitro Versuche oder Tiermodelle zur Verfügung stehen - wie im Streitpatent –, die Überprüfung der Wirksamkeit auch routinemäßig nur durch klinische Studien möglich ist.

115

5. Der Patentanspruch 2 des Hauptantrags bedarf keiner weiteren, isolierten Prüfung, weil die Beklagte in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass sie den Hauptantrag und auch die Hilfsanträge als jeweils in sich geschlossene Anspruchssätze versteht (vgl. BGH GRUR 2007, 862 Informationsübermittlungsverfahren II; BGH GRUR 1997, 120 – Elektrisches Speicherheizgerät; BPatG GRUR 2009, 46 –Ionenaustauschverfahren).

III.

116

Der Gegenstand des Streitpatents in den Fassungen der Hilfsanträge 1 bis 3 mag zwar gewerblich anwendbar sein, er hat jedenfalls auch in diesen Fassungen sowohl mangels Neuheit als auch mangels erfinderischer Tätigkeit keinen Bestand.

117

1. Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 unterscheidet sich vom Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag dadurch, dass nunmehr ein Verfahren für die Empfängnisverhütung im Notfall durch Verabreichung der pharmazeutischen Zusammensetzung mit den Merkmalen 1.3 bis 1.6 gemäß Patentanspruch 1 des Hauptantrags beansprucht wird.

118

Da sich aber sowohl der Vortrag von Frau Dr. von H…, dokumentiert durch

TBK9 und TBK10, als auch die TBK20 und die WHO-Studie gemäß TBK7 mit der Schwangerschaftsverhütung im Notfall beschäftigen (vgl. TBK7 S. 44 li. Sp. Z. 6 v. u., S. 45 re. Sp. le. Abs., TBK9 S. 8 Titel, li. Sp. Abs. 2; TBK10 Abs. RM1.01.03 Titel; TBK20 S. 629 li. Sp. Abs. 2) und ansonsten die Merkmale des Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 auch im Patentanspruch 1 des Hauptantrags enthalten sind, kann auch dieser Hilfsantrag wegen mangelnder Patentfähigkeit nicht zum Erfolg führen, wobei vollumfänglich auf die Ausführungen zum Patentanspruch 1 nach Hauptantrag verwiesen wird.

119

2. Der Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 unterscheidet sich vom Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag nur dadurch, dass das Merkmal 1.3 vor dem Merkmal 1.2 eingefügt ist. Da sich durch diese sprachliche Umstellung der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag im Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 2 nicht geändert hat, gelten für Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 vollumfänglich dieselben Gründe wie für den Patentanspruch 1 nach Hauptantrag. Die Verteidigung des Streitpatents mit diesem Hilfsantrag ist daher ebenfalls mangels Patentfähigkeit nicht erfolgreich.

120

3. In der Anspruchsfassung gemäß Hilfsantrag 3 ist gegenüber der Anspruchsfassung nach Hauptantrag der Patentanspruch 1 gestrichen worden. Auch der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 3 ist weder neu noch beruht er auf einer erfinderischen Tätigkeit. Dieser Patentanspruch betrifft die Verwendung von 1,5 mg Levonorgestrel zur Herstellung eines Arzneimittels zur Schwangerschaftsverhütung im Notfall. Die gattungsgemäße Verwendung von Levonorgestrel ist aus dem Stand der Technik gemäß TBK9 und TBK10 sowie TBK20 in Verbindung mit TBK7 bekannt (vgl. TBK7 S. 45 re. Sp. le. Abs.; TBK9 S. 8 Titel, li. Sp. Abs. 1 und S. 9 re. Sp. Abs. 1; TBK10 Abs. RM1.01.03 le. Abs.; TBK20 S. 629 Abs. 2). Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag 3 ist damit vom Stand der Technik vorbeschrieben bzw. nahegelegt, so dass er ebenfalls nicht bestandsfähig ist.

IV.

121

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO.

122

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.

V.

123

Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung gegeben.

124

Die Berufungsschrift muss von einer in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Rechtsanwältin oder Patentanwältin oder von einem in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Rechtsanwalt oder Patentanwalt unterzeichnet und innerhalb eines Monats beim Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45a, 76133 Karlsruhe eingereicht werden. Die Berufungsfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.

125

Die Berufungsschrift muss die Bezeichnung des Urteils, gegen das die Berufung gerichtet wird, sowie die Erklärung enthalten, dass gegen dieses Urteil Berufung eingelegt werde.