Bundespatentgericht

Entscheidungsdatum: 27.11.2012


BPatG 27.11.2012 - 3 Ni 13/11 (EP)

Wirkungslosigkeit dieser Entscheidung


Gericht:
Bundespatentgericht
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsdatum:
27.11.2012
Aktenzeichen:
3 Ni 13/11 (EP)
Dokumenttyp:
Urteil

Tenor

In der Patentnichtigkeitssache

betreffend das europäische Patent 1 153 979

(DE 501 00 327)

hat der 3. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 27. November 2012 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Schramm sowie der Richter Dr. Egerer und Schell, der Richterin Zettler und des Richters Dr. Lange

für Recht erkannt:

I. Das europäische Patent 1 153 979 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 12. April 2001 angemeldeten, auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 153 979 (Streitpatent), das vom Deutschen Patent- und Markenamt unter dem Aktenzeichen 501 00 327.4 geführt wird. Das Streitpatent nimmt die Priorität der Patentanmeldung DE 100 22 992 vom 11. Mai 2000 in Anspruch und trägt die Bezeichnung „Funktionalisierte Copolymerisate für die Herstellung von Beschichtungsmitteln“. Im Einspruchsbeschwerdeverfahren vor dem europäischen Patentamt wurde das Streitpatent mit 23 Patentansprüchen beschränkt aufrechterhalten. Die zueinander in Nebenordnung stehenden Patentansprüche 1, 12 und 19 lauten in der geltenden Fassung, die als EP 1 153 979 B2 veröffentlicht wurde, wie folgt:

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2

Wegen der unmittelbar oder mittelbar rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 11, 13 bis 18 und 20 bis 23 wird auf die EP 1 153 979 B2 verwiesen.

3

Die Klägerin greift das Patent in vollem Umfang an und trägt vor, die patentgeschützte Lehre sei gegenüber dem zu berücksichtigenden Stand der Technik weder neu, noch beruhe sie auf erfinderischer Tätigkeit. In diesem Zusammenhang macht die Klägerin geltend, der Gegenstand des Streitpatents sei durch den Vertrieb der Produkte Mowilith LDM 1871 sowie Mowilith LDM 1880 offenkundig vorbenutzt worden. Weiter stützt sie ihre Klage auf den Einwand der unzulässigen Erweiterung des Streitpatents, da Anspruch 1 über den Inhalt der Offenbarung in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen hinausgehe. Außerdem sei der Schutzbereich des Streitpatents durch die Streichung der Komponenten „Epoxysilan" und „Aminosilan" in Merkmal b) von Anspruch 1 im Verlauf des Einspruchsbeschwerdeverfahrens vor dem EPA unzulässig erweitert worden. Die Priorität der Patentanmeldung DE 100 22 992 werde ebenfalls zu Unrecht in Anspruch genommen, da die Mengenangaben des Streitpatents auf einer anderen Referenz als in der Prioritätsschrift basierten und damit unterschiedliche Bereiche definierten. Außerdem seien die in Anspruch 1 des Streitpatents beanspruchten Mengenbereiche für die Silankomponente b) sowie die Epoxidkomponente c) breiter definiert als in der entsprechenden Prioritätsanmeldung. Dem Streitgegenstand komme daher als maßgeblicher Zeitrang nur der Anmeldetag zu.

4

Die Klägerin stützt sich in ihrem Vorbringen insbesondere auf folgende Dokumente:

5

K8 EP 0 822 240 A1

6

K9 GB 1 328 136

7

K10 EP 0 896 029 A1

8

K11 XXIII FATIPEC Concress, Brussels, 10-14 June 1996, B. Momper, R. Kuropka, Hoechst AG Frankfurt: “Vinylacetat/Ethylen Copolymerdispersionen als Bindemittel für emissionsarme Innen- und Seidenglanzfarben“, S. D-67 bis D-88

9

K12 WO 00/63313 A1

10

K15 US 4 389 432 A

11

K23 DE 199 45 626 A1

12

K24 DE 44 38 563 A1

13

K25 DE 1 644 703 A1

14

K25a DE 1 644 703 B

15

K33 DE 38 03 450 A1

16

K34 DE 2 148 458 A

17

K35 DE 195 37 935 A1

18

N2 Auszug aus dem Register des Deutschen Patent und Markenamtes zu Aktenzeichen-DE 501 00 327.4 vom 25. Februar 2011

19

N4 DE 100 22 992 A1

20

N5 EP 1 153 979 B1

21

N6 EP 1 153 979 A2

22

N7 EP 1 153 979 B2 (Streitpatent)

23

sowie auf die in der mündlichen Verhandlung überreichten Grafiken zur Inanspruchnahme der Priorität des Streitpatents (Anlage 1 zum Protokoll) und zum Hilfsantrag 1 (Anlage 2 zum Protokoll) sowie auf die Tabelle “Mengen für die Silan- und Epoxidkomponente im Stand der Technik“ (Anlage 3 zum Protokoll).

24

Die Klägerin beantragt,

25

das europäische Patent 1 153 979 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.

26

Die Beklagte beantragt,

27

die Klage abzuweisen,

28

hilfsweise die Klage mit der Maßgabe abzuweisen, dass das Streitpatent die Fassung eines der Hilfsanträge 1 oder 2 gemäß Schriftsatz vom 22. November 2012 erhält.

29

Gemäß Hilfsantrag 1 sind die erteilten Patentansprüche wie folgt geändert: In Patentanspruch 1 ist “oder in Wasser redispergierbare Pulver“ gestrichen und Punkt a) lautet jetzt “Vinylacetat-Ethylen-Copolymerisaten, mit“. In Patentanspruch 2 ist “und wässrige Redispersionen der Copolymerpulver“ gestrichen. Die Patentansprüche 3 und 18 sind ganz gestrichen. In Patentanspruch 19 (jetzt 17) ist “Beschichtungsmitteln“ durch „in Beschichtungsmitteln“ ersetzt. Die restlichen Patentansprüche 4 bis 23 sind umnummeriert und entsprechend rückbezogen.

30

Gemäß Hilfsantrag 2 sind die erteilten Patentansprüche zusätzlich zu den Änderungen gemäß Hilfsantrag 1 wie folgt geändert: In Patentanspruch 1 ist unter Punkt b) der Gew.-%-Bereich jetzt 0,1 bis 1,0 Gew.-% und unter Punkt c) ist der Gew.-%-Bereich jetzt 0,25 bis 1,5 Gew.-%. Patentanspruch 11 ist gestrichen. Die Nummerierung und Rückbeziehung der Patentansprüche ist der Anspruchsfassung angepasst.

31

Die Patentansprüche 1 bis 20 des Hilfsantrags 2 lauten

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32

Die Beklagte tritt dem Vorbringen der Klägerin in allen Punkten entgegen und ist der Ansicht, das Streitpatent weise sowohl in der geltenden als auch in den hilfsweise verteidigten Fassungen Neuheit und Erfindungshöhe auf. Bezüglich der von der Klägerin geltend gemachten Vorbenutzung bestreitet sie, dass die hierzu vorgelegten Dokumente geeignet seien, die Offenkundigkeit der angeblichen Vorbenutzungshandlungen sowie den Erfindungsbesitz vor dem maßgeblichen Zeitpunkt zu belegen. Auch die Inanspruchnahme der Priorität der DE 100 22 992 sei zu Recht erfolgt, da diese Anmeldung bereits sämtliche Merkmale des Streitpatents enthalten habe. Ferner ist die Beklagte der Auffassung, dass der Gegenstand des Streitpatents weder unzulässig erweitert sei, noch eine unzulässige Erweiterung des Schutzbereichs vorliege.

33

Zur Stützung ihres Vorbringens verweist die Beklagte auf folgende Dokumente:

34

B1 T0621/07-3303 Entscheidung der Beschwerdekammer des EPA vom 30.10.2009

35

B2 Entscheidung der Einspruchsabteilung des EPA vom 16.02.2007

36

B3 EP 1 153 979 B2 (Streitpatent)

37

B4 Merkmalsgliederung von Anspruch 1 des Streitpatents

38

B5 Entgegenhaltungen D8, D12, D13, D8a, D12a, D13a aus dem Einspruchsverfahren

39

B6 Grafik 1 H-NMR-spektroskopische Messungen

40

B7 Grafik 29 Si-NMR-spektroskopische Messungen

41

B8 Prospekt/Datenblatt zu Mowilith LDM 1871, Version 2 - Ausgabe 2004/12

42

B9 Auszug Chemical Week vom 16. September 1998, “Hoechst-Perstorp JV Expands“

43

B10 EPA Entscheidung T65/92

44

B11 Schriftsatz der Klägerin vom 21.07.2011 (paralleles Verletzungsverfahren - Landgericht München I))

45

B12 Datenblatt Silan A 174 (D 10 im Einspruchsverfahren)

46

B13 Schreiben der Klägerin vom 17.01.2011 (Besichtigungsverfahren)

47

B14 EP 0 327 006 B1

48

B15 Datenblatt Agitan R 280

49

B16 US 5 741 543 A

50

B17 Dilek Solpan et al.,“Modification of some mechanical properties…“Iranian Polymer Journal, Vol. 8 Nr. 2 (1999), S. 73 bis 81

51

B18 EP 1 020 438 A2

52

B19 Gutachten von Dr. Michael Maiwald vom 12. Juni 2012

53

B20 Fachveröffentlichung aus dem Fachmagazin "Die Mappe" 7/2004, S. 44 bis 45 zu DIN 13300 bzw. 53778

54

B 21 Fachveröffentlichung "Dispersions for high quality decorative Coatings" PPCJ - Mai 2012

55

B22 WO2012/13071 A1

56

B23 Anlage zum BGH-Urteil “Olanzapin"

57

B24 Anlage zu K10, K23, K24 “Neuheit"

58

B25 C. E. Mortimer und U. Müller, “Chemie - Das Basiswissen der Chemie“, 8. Aufl. 2003, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, S. 579 bis 585

59

B26 Anlage “Haftvermittler"

60

B27 Anlage “Technische Entwicklung"

61

B28 Firmenschrift der Hoechst AG, “Mowilith R -Dispersionen für den Anstrichsektor", März 1995

62

B29 Schriftsatz der Klägerin im parallelen Verletzungsverfahren vom 23.01.2012.

Entscheidungsgründe

I.

63

Die auf die Nichtigkeitsgründe der mangelnden Neuheit und mangelnden erfinderischen Tätigkeit (Art. II § 6 (1) Nr. 1 IntPatÜG, Art. 54 EPÜ, Art. 56 EPÜ) und unzulässiger Erweiterung (Art. II § 6 (1) Nr. 3 IntPatÜG, Art. 123 (2) EPÜ) sowie Erweiterung des Schutzbereiches (Art. II § 6 (1) Nr. 4 IntPatÜG, Art. 123 (3) EPÜ) gestützte Klage ist zulässig. Sie erweist sich auch als begründet. Der von der Klägerin geltend gemachte Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit führt zur Nichtigkeit des Streitpatents, da der Patentgegenstand weder in der Fassung der EP 1 153 979 B2 (Hauptantrag) noch in den hilfsweise verteidigten Fassungen auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit. a EPÜ, Art. 52, 56 EPÜ).

64

1. Der Gegenstand des Streitpatents betrifft funktionalisierte Copolymerisate in Form deren wässrigen Dispersionen oder in Wasser redispergierbaren Pulver, Verfahren zu deren Herstellung sowie deren Verwendung (vgl EP 1 153 979 B2 Abs [0001]). Als problematisch bei den bisher bekannten Polymerdispersionen ist beschrieben, dass diese keine generelle Verbesserung der Nasshaftung bewirkten, sondern sehr unterschiedlich in den verschiedenen Farbformulierungen wirkten. So könne eine Dispersion in einer Silikat reichen Formulierung gute Nassabriebsbeständigkeiten aufweisen, werden jedoch mehr carbonatische Füllstoffe in der Formulierung verwendet, könne die gleiche Dispersion nur noch zu Farben mit schlechter Nassabriebsfestigkeit führen (vgl. EP 1 153 979 B2 Abs [0003])

65

Zur Lösung des Problems sollen Polymerisate entwickelt werden, die in unterschiedlichen wässrigen Farbrezepturen, beispielsweise sowohl silikatreichen als auch carbonatreichen, zu Beschichtungsmitteln mit sehr guter Nassabriebsbeständigkeit führen (vgl EP 1 153 979 B2 Abs [0004]). Dabei soll die hohe Nassabriebsfähigkeit auch bei einer hohen Pigmentvolumenkonzentrationen (PVK), insbesondere in hochgefüllten emissionsarmen Innenfarben Verwendung finden können (vgl. EP 1 153 979 B2 Abs [0032]).

66

Gelöst wird dieses Problem gemäß Patentanspruch 1, durch:

67

1 Funktionalisierte Copolymerisate

68

1.1 in Form deren wässrigen Dispersionen

69

1.2 oder in Wasser redispergierbaren Pulver,

70

1.3 auf Basis von

71

2 a)

72

2.1 Vinylester-Copolymerisaten von Vinylacetat mit weiteren Vinylestern,

73

2.2 oder Vinylester-Ethylen-Copolymerisaten,

74

2.3 oder Vinylester-Ethylen-Vinylchlorid-Copolymerisaten,

75

2.4 oder Vinylester-Acrylsäureester-Copolymerisaten,

76

2.5 oder Methylmethacrylat-Copolymerisaten,

77

2.6 oder Styrol-1,3-Butadien-Copolymerisaten, mit

78

3 b) 0.05 bis 5.0 Gew.-%

79

3.1 von einem oder mehreren hydrolysierbaren Silan-Monomeren

80

3.1.1 aus der Gruppe umfassend ethylenisch ungesättigte, hydrolysierbare Siliciumverbindungen

81

3.1.2 und hydrolysierbare Siliciumverbindungen aus der Gruppe umfassend Mercaptosilane,

82

4 c) 0.05 bis 5.0 Gew.-%

83

4.1 von einem oder mehreren Monomeren aus der Gruppe umfassend ethylenisch ungesättigte Epoxidverbindungen,

84

5 d) 0 bis 2.0 Gew.-%

85

5.1 von einem oder mehreren Monomeren aus der Gruppe umfassend ethylenisch ungesättigte 1,3-Dicarbonylverbin-dungen,

86

6 sowie ggf. noch 0.05 bis 10 Gew.-% Hilfsmonomere aus der Gruppe umfassend

87

- ethylenisch ungesättigte Mono- und Dicarbonsäuren,

88

- ethylenisch ungesättigte Carbonsäureamide und -nitrile,

89

- Mono- und Diester der Fumarsäure und Maleinsäure,

90

- ethylenisch ungesättigte Sulfonsäuren bzw. deren Salze,

91

- vorvernetzende Comonomere aus der Gruppe der mehrfach ethylenisch ungesättigten Comonomere, und

92

- nachvernetzende Comonomere aus der Gruppe umfassend  Acrylamidoglykolsäure  (AGA), Methylacrylamidoglykolsäure-methylester (MAGNE), N-Methylolacrylamid (NMA), N-Methylolmethacrylamid, N-Methylolallylcarbamat, Alkylether oder Ester des N-Methylolacrylamids, des N -Methylolmethacrylamids und des N-Methylolallylcarbamats,

93

7 wobei die Angaben in Gew.-% jeweils auf das Gesamtgewicht der eingesetzten Monomeren a) bezogen sind.

94

In der gemäß Hilfsantrag 1 verteidigten Fassung des Patentanspruchs 1 ist Merkmal 1.2 gestrichen. Die Merkmale 2.1 bis 2.6 sind ersetzt durch Merkmal 2.2* ”Vinylacetat-Ethylen-Copolymerisaten”.

95

In der gemäß Hilfsantrag 2 verteidigten Fassung des Patentanspruchs 1 ist Merkmal 1.2 gestrichen. Die Merkmale 2.1 bis 2.6 sind ersetzt durch Merkmal 2.2* ”Vinylacetat-Ethylen-Copolymerisaten”. Merkmal 3 ist geändert zu Merkmal 3* mit “b) 0,1 bis 1,0 Gew.-%” und Merkmal 4 ist geändert zu Merkmal 4* mit ”c) 0,25 bis 1,5 Gew.-%”.

96

 Verfahrensansprüche 12, 11 und 10 nach Hauptantrag, Hilfsanträgen 1 und 2:Die Herstellung der funktionalisierten Copolymerisate des Streitpatents erfolgt mittels radikalischer Polymerisation (Merkmal 8).Verwendungsansprüche 19, 17 und 16 nach Hauptantrag, Hilfsanträgen 1 und 2:Die funktionalisierten Copolymerisate des Streitpatents werden in Beschichtungsmitteln verwendet (Merkmal 9).

97

2. Bei der Beurteilung des Gegenstandes des Streitpatents, nämlich funktionalisierte Copolymerisate in Form deren wässriger Dispersionen oder in Wasser redispergierbarer Pulver, die in unterschiedlichen Farbrezepturen zu Beschichtungsmitteln mit sehr guter Nassabriebsbeständigkeit führen, ist das Wissen und Verständnis des einschlägigen Fachmanns bezüglich des anwendungstechnischen Profils für Bindemittel, die in lösungsmittelfreien und emissionsarmen Farben eingesetzt werden, von Bedeutung. Der zuständige Fachmann ist hier als ein berufserfahrener mit der Entwicklung von Dispersionsfarben betrauter Diplomchemiker der Fachrichtung makromolekulare Chemie oder Polymerchemie zu definieren, der sich praktisch wie theoretisch weitgehende Kenntnisse auf dem Gebiet der Herstellung solcher Materialien angeeignet hat.

98

Zur Erläuterung dieses Wissens wird auf die im einschlägigen Fachkongress FATIPEC 1996 vorgetragenen Ergebnisse über “Vinylacetat/Ethylen Copolymerdispersionen als Bindemittel für emissionsarme Innen- und Seidenglanzfarben“ (veröffentlicht als K11) Bezug genommen. Dort sind am Beispiel von Vinylacetat/Ethylen Copolymerdispersionen Strategien zur Entwicklung eines Universalbindemittels für hochgefüllte Innenfarben und Seidenglanzfarben aufgezeigt (vgl. K11 S D-84 Zusammenfassung).Im Rahmen des Vortrages wird dargelegt, durch welche Maßnahmen eine weitere Verbesserung der Eigenschaften von Vinylacetat/Ethylen Copolymeren, die schon seit einigen Jahren als Bindemittel für emissionsarme Innenfarben auf dem Markt eingeführt sind und sich hervorragend bewährt haben, ermöglicht werden kann. Diskutiert wird die Optimierung des bei der Herstellung der Dispersionen verwendeten Vernetzersystems und der Einfluß des Emulgator/Schutzkolloid Systems auf die geforderten anwendungstechnischen Eigenschaften wie Pigmentbindevermögen, Waschbeständigkeit bzw. Scheuerbeständigkeit (DIN Norm 53778) und Glaspunkt (vgl. K11 S D-71 Abs. 3 und S D-69 Abs. 3).Es ist aus der Patentliteratur seit langem bekannt, dass durch Copolymerisation von Vernetzern das Pigmentbindevermögen von Dispersionen erheblich gesteigert werden kann. Bei Vinylacetat-Copolymerdispersionen haben sich dabei insbesondere Silane wie Vinyltrimethoxysilan oder Methacryloxypropyltrimethoxysilan bewährt. Die Vernetzung erfolgt während der Filmbildung über die Silanolgruppen, die durch Hydrolyse der Alkoxygruppen gebildet werden. Üblicherweise werden die Silane in einer Menge von ca. 1,0 Gew.-%, bezogen auf die Monomeren, copolymerisiert. Bei der Untersuchung des Einflusses des Silangehaltes auf das Pigmentbindevermögen hat sich gezeigt, dass die entsprechenden Silane nicht nur in wesentlich geringeren Konzentrationen wirksam sind, sondern darüber hinaus noch eine zusätzliche Verbesserung des Pigmentbindevermögens bewirken. Bei 0,4 Gew.-% Methacryloxypropyltrimethoxysilan werden die höchsten Abriebwerte (Scheuerzyklen) erhalten (vgl. K11 S D-71 und D-73 “Optimierung des Vernetzersystems“).An Dispersionen, die als Bindemittel für Farben Verwendung finden, werden hohe Ansprüche bezüglich kolloidchemischer und mechanischer Stabilität gestellt. Gefordert werden hohe Stabilitäten gegenüber verschiedenartigsten Pigmenten und Füllstoffen und eine problemlose Herstellung der Farben in Rühr- und Mischwerken, in denen die Dispersionen zum Teil einer hohen Scherbelastung ausgesetzt sind. Bewährt haben sich als Stabilisierungssysteme Kombinationen aus Schutzkolloiden und nichtionischen Emulgatoren. Schutzkolloide sind hochmolekulare, wasserlösliche Polymere, wobei zur Herstellung von Vinylacetat Copolymerdispersionen vorwiegend Hydroxyethylcellulosen oder Polyvinylalkohole Verwendung finden. Als nichtionische Emulgatoren werden zumeist ethoxilierte native Fett- oder synthetische Oxoalkohole mit hydrophoben Alkylresten verwendet. Darüber hinaus können zur weiteren Stabilisierung funktionelle Monomere wie Acryl- und Methacrylsäure oder auch Na-Ethensulfonat copolymerisiert werden (vgl. K11 S D-73 Abs 2).

99

Eine Erhöhung der Menge des nichtionischen Emulgators von 1.5 auf 5.0 Gewichtsteile bewirkt sowohl eine Verringerung der Teilchengröße als auch der Teilchengrößenverteilung der Emulsionspolymerisate. Gleichzeitig nimmt die Latexviskosität, bestimmt bei einem Schergefälle von D = 18 s-1, deutlich zu. Qualitativ kann die Zunahme der Latexviskosität durch die kleineren Partikelgrößen und die engere Teilchengrößenverteilung erklärt werden (vgl K11 S D-74 le. Abs.).

100

Eigene Untersuchungen zur Teilchengrößenabhängigkeit des Pigmentbindevermögens zeigen, dass mit abnehmender Teilchengröße das Pigmentbindevermögen des Bindemittels ansteigt (vgl. K11 S D-78 Abs. 3 v. u.).

101

Zusammenfassend wird in K11 vorgeschlagen, dass geeignete Universalbindemittel für hochgefüllte Innenfarben und Seidenglanzfarben einen Glaspunkt der Copolymeren von 6 bis 14°C, einen Vernetzergehalt kleiner 1,0 Gew.-% copolymerisierbare Silane, einen Gehalt an nichtionischem Emulgator von 2 bis 4 Gew.-% und einen Ethoxilierungsgrad des nichtionischen Emulgators von 15 bis 30 Mol Ethylenoxid enthalten sollten (vgl. K11 S D-84 “Zusammenfassung“).

II.

102

1. Entgegen der Ansicht der Klägerin sind die Gegenstände der Patentansprüche 1 bis 23 des Streitpatents EP 1 153 979 B2 gegenüber den Anmeldeunterlagen (vgl. EP 1 153 979 A2 (N6)) nicht unzulässig erweitert. So lässt sich Patentanspruch 1 aus den Patentansprüchen 1, 3 und 4 i. V. m. Abs. [0010] der N6 herleiten. Die nebengeordneten Patentansprüche 12 und 19 gehen auf die Patentansprüche 14 und 21 der N6 zurück. Die Unteransprüche 2 bis 11, 13 bis 18 und 20 bis 23 finden ihre Basis in den Unteransprüchen 2 und 5 bis 13, 15 bis 20 sowie 22 und 24 bis 26 der N6. Die Patentansprüche 1 bis 21 in der Fassung des Hilfsantrags 1 und die Patentansprüche 1 bis 20 in der Fassung des Hilfsantrags 2 lassen sich aus den Patentansprüchen des Streitpatents herleiten; sind damit ebenfalls ursprünglich offenbart und zulässig.

103

2. Eine Erweiterung des Schutzbereichs beim Übergang von der EP 1 153 979 B1 zur EP 1 153 979 B2 im Verlauf des Verfahrens vor dem Europäischen Patentamt nach der Patenterteilung liegt nach Ansicht des Senats nicht vor.

104

In Patentanspruch 1 des Streitpatents in der geänderten Fassung der EP 1 153 979 B2 sind gegenüber der Fassung des erteilten Patents EP 1 153 979 B1 unter a) “Acrylsäureester-Coplymerisate“ und unter b) “Epoxysilane, Aminosilane“ gestrichen worden. Optional hinzugenommen wurde unter “gegebenenfalls noch 0,05 bis 10 Gew.-% Hilfsmonomere“ eine Liste von bestimmten Hilfsmonomeren aus der Beschreibung der EP 1 153 979 B1 (vgl dort Abs. [0009]). Patentanspruch 1 des Streitpatents in der geänderten Fassung der EP 1 153 979 B2 schließt jedoch diese Verbindungen nicht aus. So sind dort unter a) auch weiterhin Methylmethacrylat-Copolymerisate aufgelistet. Aus der Beschreibung ist ersichtlich, dass bevorzugt u. a. Methylmethacrylat-Copolymerisate mit Butylacrylat eingesetzt werden (vgl. EP 1 153 979 B2 S. 3 Z. 30). Damit umfassen die Copolymerisate a) trotz Streichung auch weiterhin Acrylsäureester-Coplymerisate. Der Begriff auf “Basis von“ ist deshalb nicht abschließend auszulegen. In diesem Sinne ist auch die Einschränkung bezüglich der Komponenten b) zu verstehen. Damit kann auch die Komponente b) weiterhin Epoxysilane, Aminosilane mit 0.05 Gew.-% bis 5 Gew.-% umfassen. Die Möglichkeit, dass über die optionalen Hilfsmonomere zusätzlich Epoxysilane und Aminosilane eingebracht werden können, ist auch gemäß EP 1 153 979 B1 gegeben, so dass auch hier keine Schutzbereichserweiterung vorliegt.

105

Entsprechendes gilt dann diesbezüglich auch für den jeweiligen Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag 1 und Hilfsantrag 2.

III.

106

Ob der Gegenstand des Streitpatents neu ist und in diesem Zusammenhang offenkundig vorbenutzt ist, kann dahinstehen, da der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag als auch der Hilfsanträge 1 und 2 jedenfalls mangels erfinderischer Tätigkeit gegenüber dem Stand der Technik, der sich aus den Druckschriften DE 1 644 703 B (K25a), DE 38 03 450 A1 (K33) und EP 0 896 129 A1 (K10) ergibt, keinen Bestand hat. Bei dieser Sach- und Rechtslage kommt es auf die von der Klägerin aufgeworfene Frage nach der Wirksamkeit der vom Streitpatent in Anspruch genommenen Priorität und die im Prioritätsintervall liegenden Druckschriften K12 und K23 nicht mehr an.

107

1. Ausgehend von der Problemstellung, Polymerisate zu entwickeln, die in unterschiedlichen wässrigen Farbrezepturen zu hochgefüllten Beschichtungsmitteln mit sehr guter Nassabriebsbeständigkeit führen, wird der Fachmann den Stand der Technik beachten, der ihm Hinweise zur Lösung des Problems geben kann. Damit geraten vor allem die Druckschriften DE 1 644 703 B (K25a), DE 38 03 450 A1 (K33) und EP 0 896 129 A1 (K10) in sein Blickfeld. Die Druckschrift K25a beschäftigt sich mit verbesserten wässrigen Dispersionslacken für Anstrichzwecke, wobei insbesondere die Prüfung der Abwaschbarkeit und Nassscheuerfestigkeit K25a als Kriterium von Bedeutung ist (vgl. K25a Sp. 3 Zn. 33 bis 37, Sp. 6 Zn. 50 bis 58, Sp. 7 Zn. 1 bis 6). Die Druckschrift K33 betrifft wässrige Dispersionsfarben, Anstrichmittel und Putze, die außer Wasser keine nennenswerten Anteile an nichtwässrigen flüchtigen Verbindungen enthalten und als Bindemittel Kunststoffdispersionen enthalten. Sie sollen keine Filmbildungshilfsmitteln enthalten und ein hohes Pigmentbindevermögen und damit hohe Nassabriebfestigkeit aufweisen (vgl. K33 S. 2 Zn. 36 bis 41). Die Aufgabenstellungen der K25a und K33 zielen demnach in die gleiche Richtung wie die Aufgabenstellung des Streitpatents. Die Druckschrift K10 betrifft eine vernetzbare, in Wasser redispergierbare Pulverzusammensetzung sowie deren Verwendung in bauchemischen Produkten wie Putzen, Farben (vgl. K10 Abs. [0001] u [0046]). Bevorzugt soll die Dispersionspulverzusammensetzung als Bindemittel in Anwendungsgebieten eingesetzt werden, in denen neben einer guten Haftung auch eine reduzierte Wasseraufnahme und/oder gute Lösungsmittelbeständigkeit erwünscht ist (vgl. K10 S. 7 Zn. 1 bis 2). Damit stimmt der Gegenstand der K10 im Hinblick auf die prinzipielle materielle Zusammensetzung als auch Anwendung mit dem Gegenstand des Streitpatents überein. Der Fachmann hatte damit Anlass, die Druckschriften K25a, K33 und K10 in Betracht zu ziehen und zu prüfen, ob diese ihm Hinweise oder Anregungen zur Lösung des Problems bzw. der Aufgabe geben können (BGH GRUR 2009, 1039 - Fischbissanzeiger).

108

a) Die Druckschrift DE 1 644 703 B K25a betrifft wässrige Dispersionslacke für Anstrichzwecke, die aus einem Latex eines Vinylacetat-Ethylen-Glycidyldylacrylat-Mischpolymerisats und einem Pigment bestehen. Diese Dispersionslacke sind Farbmischungen, die für Innen- und Außenanstriche geeignet sind (vgl. K25a Sp. 1 Zn.  22 bis 27). Diese sollen bei Sommertemperaturen nicht bis zur Klebrigkeit erweichen und bei den niedrigen Wintertemperaturen nicht spröde werden oder reißen (vgl. K25a Sp. 1 Zn. 42 bis 57). Als Kriterium für die verbesserten Eigenschaften der Dispersionslacke liegt in der Druckschrift K25a insbesondere die Prüfung der Abwaschbarkeit und Nassscheuerfestigkeit im Blickfeld (vgl. K25a Sp. 3 Zn. 33 bis 37, Sp. 6 Zn. 50 bis 58, Sp. 7 Zn. 1 bis 6).

109

Zur Lösung des Problems ist in der Druckschrift K25a ein funktionalisiertes Copolymerisat (Merkmal 1) in Form einer wässrigen Dispersion (Merkmal 1.1) auf Basis eines (Merkmal 1.3) Vinylacetat-Ethylen-Glycidylacrylat-Mischpolymerisats (Merkmale 2, 2.2, 4.1) vorgeschlagen. Dabei beträgt die Menge des Glycidylacrylats 0,5 bis 10 % in Bezug auf die Menge des Vinylacetats, wobei das Mischpolymerisat zusätzlich 5 bis 40 % Ethylen enthält (vgl K25a Patentanspruch 1). Gemäß Beispiel 1 in Spalte 7 von K25a sind die Mengen der eingesetzten Stoffe der Latexdispersion in Gramm, also als Gewicht, angegeben, so dass der Fachmann hier die Angaben der Menge des Glycidylacrylats von 0,5 bis 10 % bezüglich der Menge des Vinylacetats als Gewichtsprozent liest. Der Bezug der Menge des Glycidylacrylats ist auf das Comonomere Vinylacetat ohne Ethylenanteil gerichtet, was dem Vorgehen gemäß dem Streitpatent entspricht (vgl. dort S. 11/12 die Beispiele der Tabellen 3, 4 und 5 i. V. m. S. 11 Zn. 17 bis 18, 40 bis 41 und 2 bis 3). Aber auch bei Einbeziehung der Menge des Ethylens im Vinylacetat-Ethylen-Comonomeren gemäß Merkmal 7, überlappen die Bereiche der Menge des Glycidylacrylats mit den Bereichen gemäß Merkmal 4.

110

Allgemein bestätigt die K25a das Fachwissen des Fachmanns dahingehend, dass wässrige Vinylacetat-Ethylen-Copolymerisate durch Zugabe von geringen Mengen eines Vernetzers (vgl. K25a Patentanspruch 1), hier Glycidylacrylat, und nicht-ionogenen Emulgatoren (vgl. K25a Sp. 3 Z. 65 bis Sp. 4 Z. 10) zur Einstellung der Teilchengröße im Bereich von 0,2 µm und kleiner (vgl. K25a Patentanspruch 1), für die Herstellung einer verbesserten Farbrezeptur mit hoher PVK geeignet sind. So kann gemäß K25a der Festkörpergehalt der Dispersions-Anstrichfarbe 35 bis 70 % betragen, d. h. die Pigmentvolumenkonzentration (PVK) reicht bis in den überkritischen Bereich (PVK > 65 %) (vgl. K25a Sp. 2 Zn. 62 bis 66).

111

In K25a ist damit ein funktionalisiertes Copolymerisat mit den Merkmalen 1, 1.1, 1.3, 2, 2.2, 4, 4.1 und 7 beschrieben. Die Merkmale 5 bis 6 sind nur optional, so dass sie außer Betracht bleiben können. Nicht offenbart sind die Merkmale der Merkmalsgruppe 3 (Silanvernetzer). Der Einsatz von Silanvernetzern in gattungsgemäßen funktionalisierten Copolymerisaten erschließt sich dem Fachmann in naheliegender Weise jedoch aus der Druckschrift DE 38 03 450 A1 (K33).

112

b) Die Druckschrift DE 38 03 450 A1 (K33) betrifft emissionsarme Dispersionsfarben, Anstrichmittel und Kunststoff-Dispersions-Putze in Form von wäßrigen Zubereitungen auf Basis von wäßrigen Kunststoffdispersionen mit einer Pigmentvolumenkonzentration (PVK) von mindestens 60 %. Sie betrifft ferner Verfahren zu deren Herstellung und deren Verwendung als Bautenschutzmittel bzw. als Baustoffe, insbesondere in unzureichend belüfteten und in bewohnten Räumen (vgl. K33 S. 2 Zn. 5 bis 11).

113

Der K33 liegt die Aufgabe zugrunde, solche wässrigen Dispersionsfarben, Anstrichmittel und Putze zur Verfügung zu stellen, die außer Wasser keine nennenswerten Anteile an nichtwässrigen flüchtigen Verbindungen enthalten und als Bindemittel Kunststoffdispersionen enthalten. Sie sollen frei sein von Filmbildungshilfsmitteln und ein hohes Pigmentbindevermögen und damit hohe Nassabriebfestigkeit aufweisen. Deren Filme sollen außerdem eine geringe Anschmutzneigung und geringe Blockneigung auch bei niedriger Glastemperatur (Tg) bzw. niedriger Mindestfilmbildungstemperatur (MFT) der Dispersion besitzen (vgl. K33 S. 2 Zn. 36 bis 41).

114

Zur Lösung der Aufgabe sind in K33 wässrige Vinylacetat-Ethylen-Vinyltrimethoxysilan-Copolymerisatdispersionen (Merkmale 1, 1.1, 1.3, 2, 2.2) mit 0,1 bis 1 Gew.-% Vinyltrimethoxysilan bezogen auf das Vinylacetat-Ethylen-Copolymerisat beschrieben (Merkmale 3, 3.1, 3.1.1, 7) (vgl. K33 Beispiele 1 bis 4 S. 9 Zn. 25 bis 49 i. V. m. Vergleichsbeispiel 1 S. 8 Z. 60 bis S. 9 Z. 23). Die wesentlichen Charakteristiken der erhaltenen Dispersionscopolymerisate sind, bei steigender Menge an eingesetztem Silan, der sich erniedrigende Schmelzindex, d. h. eine Erhöhung der Viskosität, die Verminderung bzw. das Nichtauftreten von sogenanntem Ausreißen des Anstrichs und die Verbesserung der Nassscheuerbeständigkeit des Anstrichs, hier auf Basis einer hochgefüllten carbonatreichen Dispersionsinnenfarbe mit 3800 Gew.-Teile Calciumcarbonat und 1000 Gew.-Teile Silikatverbindungen. Dabei wird die beste Nassscheuerbeständigkeit zwischen 0,2 und 0,5 Gew.-% Vinyltrimethoxysilan erzielt (vgl. K33 S. 10 Tabelle 1). Die K33 zeigt auch den Einfluss des Emulgator/Schutzkolloidsystems auf die Teilchengröße des Copolymerisats. Bei Variation der durchschnittlichen Teilchengröße des Dispersionscopolymerisats aus Vinylacetat und Ethylen unter Beibehaltung eines Vinyltrimethoxysilangehalts von 0,2 Gew.-% durch den Fachmann bekannte Modifikation des Emulgator/Schutzkolloidsystems zeigt sich, dass mit abnehmender Teilchengröße von 0,26, 0,22 und 0,18 µm mittlerem Teilchendurchmesser die Nassscheuerbeständigkeit und somit das Pigmentbindevermögen der Dispersion ansteigt. Die MFT der Dispersionen liegt bei < 0°C. Im Vergleich dazu zeigt eine handelsübliche Vinylacetat-Ethylen-Terpolymer-Dispersion ohne den Vernetzter Vinyltrimethoxysilan mit einer MFT von 12°C bei 0,16 µm mittlerem Teilchendurchmesser eine deutlich schlechtere Nassscheuerbeständigkeit (vgl. K33 S. 11 Zn. 5 bis 17 und Tabelle 2).

115

In K33 sind damit funktionalisierte Copolymerisate mit den Merkmalen 1, 1.1, 1.3, 2, 2.2, 3, 3.1, 3.1.1 und 7 beschrieben. Die Merkmale 5 bis 6 sind nur optional, so dass sie außer Betracht bleiben können. Nicht offenbart ist in K33 der Einsatz von Epoxidvernetzern (Merkmalsgruppe 4).

116

Aus den Lehren der K25a und der K33 erschließt sich dem Fachmann der gemeinsame Einsatz von Silanen und Epoxiden als Vernetzer in Vinylacetat-Äthylen-Copolymerisaten, um sowohl silikatreiche als auch carbonatreiche wässrige Beschichtungsmittel mit sehr guter Nassabriebsbeständigkeit zu erhalten.

117

c) Der gemeinsame Einsatz von Silanen und Epoxiden als Vernetzungsmittel in gattungsgemäßen funktionalisierten Copolymerisaten erschließt sich dem Fachmann zudem aus der Druckschrift EP 0 896 129 A1 (K10). Gegenstand der K10 ist eine vernetzbare, in Wasser redispergierbare Pulverzusammensetzung (Merkmal 1.2) (vgl. K10 S. 2 Zn. 33 bis 34) von einem oder mehreren in Wasser unlöslichen, filmbildenden Polymerisaten a) (vgl. K10 S. 2 Zn. 36 bis 37), wie u. a. Vinylester-Ethylen-Copolymerisate, insbesonders Vinylacetat-Ethylen-Copolymerisate (Merkmale 1, 1.3, 2, 2.1 2.2) (vgl. K10 S. 2 Zn. 46 bis 50), und einem oder mehreren Comonomereinheiten aus vernetzbaren Gruppen (vgl. K10 S. 2 Zn. 33 bis 40 u. S. 3 Zn. 46 bis 50). Wenn die Pulverzusammensetzung in Wasser redispergiert ist, liegt sie als wässrige Dispersion vor (Merkmal 1.1). Gemäß den Patentansprüchen 1 und 3 enthalten die filmbildenden Polymerisate a) ein oder mehrere vernetzbare Comonomereinheiten u. a. aus der Gruppe der Alkoxysilane und Epoxysilane (vgl. K10 Patentanspruch 1 S. 11 Zn. 8 u. 9 u. Patentanspruch 3 Zn. 22 bis 23). Als bevorzugte alkoxysilanfunktionelle Monomereinheiten sind in K10 Vinyltrimethoxysilan und gamma-Methacryloxypropyltriethoxysilan und als bevorzugte epoxidhaltige Comonomere Glycidylacrylat oder Glycidylmethacrylat herausgehoben (vgl. K10 S. 3 Zn. 14 u 15 sowie 20 u 21 i. V. m. Beispiel 1 S. 7 Z. 56 und Beispiel 2 S. 8 Z. 18). Dabei sollen die vernetzbaren Monomereinheiten vorzugsweise in einer Menge von 0,5 bis 5 Gew.-% (Merkmale 3, 4), jeweils bezogen auf das Gesamtgewicht des Polymerisats a) (Merkmal 7), eingesetzt werden (vgl. K10 S. 3 Zn. 40 u 41).

118

Nachdem der Fachmann aufgrund seines Fachwissens die besondere Eignung von Vinyltrimethoxysilan und Methaycryloxypropyltrimethoxysilan (Merkmale 3.1, 3.1.1) als Vernetzer für Vinylacetat-Ethylen-Copolymerisate zur Verbesserung des Pigmentbindevermögens und der Scheuerbeständigkeit kennt (vgl. die Ausführungen zu Kap. I.2. und K33 S. 9 Z. 28), war es für ihn naheliegend, solche Vernetzer, die auch in der K10 hervorgehoben sind, zusammen mit Glycidylmethacrylat oder Glycidylacrylat, die ebenfalls in K10 hervorgehoben sind, auszutesten (Merkmale 4, 4.1) um eine Verbesserung der anwendungstechnischen Eigenschaften zu erzielen. Dabei wird der Fachmann auch die Mengenangaben der K10 beachten, womit er ohne Weiteres zu einem funktionalisierten Copolymerisat mit den Merkmale 1 bis 1.31, 2, 2.1 2.2, 3, 3.1, 3.1.1, 4, 4.1 und 7 gelangt. Die Merkmale 5, 5.1 und 6 sind optional und deshalb unerheblich.

119

d) Auch der Hinweis der Beklagten, dass gemäß K10 die Vernetzung mittels Vinyltrimethoxysilan oder gamma-Methacryloxypropyltriethoxysilan über Kondensationsreaktionen und die Vernetzung mittels Glycidylmethacrylat oder Glycidylacrylat über Additionsreaktionen erfolgt (vgl. K10 Abs [0013] u [0015]) und der Fachmann deshalb eine gemeinsame Anwendung von diesen unterschiedlichen Vernetzern niemals in Betracht gezogen hätte, kann den Senat nicht überzeugen. So ist in der K10 ausgeführt, dass geeignete Comonomere mit vernetzbaren Gruppen im Allgemeinen solche mit funktionellen Gruppen sind, die über nucleophile Substitutionsreaktionen, Kondensationsreaktionen oder Additionsreaktionen vernetzen. Die vernetzbaren Gruppen werden dabei bevorzugt durch Copolymerisation von, die gewünschten funktionellen Gruppen enthaltenden, Monomeren eingebaut. Entsprechend substituierte Comonomereinheiten können aber auch nachträglich eingebaut werden (vgl. K10 Abs. [0012]). Das bedeutet aber, dass die unterschiedlichen Vernetzer (z. B. Epoxide und Silane) bevorzugt zusammen eingesetzt werden können. Im konkreten Fall von Vinyltrimethoxysilan oder Methacryloxypropyltriethoxysilan sowie Glycidylacrylat oder Glycidylmethacrylat erfolgt die Copolymerisation mit Ethylen und Vinylacetat über die Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindungen dieser Molecule und die Vernetzung über die Hydroxygruppen, die aus den Alkoxysilangruppen bzw. den Epoxygruppen entstehen (vgl. auch die Ausführungen unter Kapitel I.2.). Auch die Ausführungsbeispiele der K25a, K33 und K10 zeigen, dass bei unterschiedlichen Vernetzern, nämlich Glycidylacrylat oder Glycidylmethacrylat (Epoxide) und Vinyltrimethoxysilan oder Methacryloxypropyltriethoxysilan bzw. Methacryloxypropyltrimethoxysilan die jeweilige radikalische Copolymerisation bei vergleichbaren Reaktionsbedingungen erfolgt, so dass der Fachmann auch hier keinerlei getrennte Vorgehensweise bei der Herstellung der verschiedenen Copolymerisatdisperionen in Betracht ziehen würde. Dies bestätigt auch die Lehre der Druckschrift EP 0 822 240 A1 (K8). Dort ist der gemeinsame Einsatz von 3-Mercaptopropyltrimethoxysilan, Methacryloxypropyltrimethoxysilan und Glycidylmethacrylat als Vernetzer in einem gattungsgemäßen funktionalisierten Copolymer, hier n-Butylmethacrylat, beschrieben (vgl. K8 Herstellungsbeispiel B-1 S. 15 Zn. 27 bis 29).

120

Funktionalisierte Copolymerisate mit den Merkmalen 1, 1.1, 1.2, 1.3, 2, 2.2, 3, 3.1, 3.1.1, 4, 4.1, 7 waren deshalb für den Fachmann im Hinblick auf die Druckschriften K25a und K33 auch i. V. m. seinem Fachwissen und K10 sowie K8 naheliegend, so dass Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung des Hauptantrags mangels erfinderischer Tätigkeit keinen Bestand hat.

121

2. Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von Patentanspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass Merkmal 1.2 gestrichen ist und die Merkmale 2.1 bis 2.6 durch das Merkmal 2.2* ”Vinylacetat-Ethylen-Copolymerisaten” ersetzt sind. Diese Vinylacetat-Ethylen-Copolymerisate wurden schon zum Hauptantrag abgehandelt und diesbezüglich ihre erfinderische Tätigkeit verneint. Auf die betreffenden Ausführungen wird deshalb vollumfänglich verwiesen (vgl. Kap. III.1). Damit beruht Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 1 mit den zwingend vorgeschriebenen Merkmalen 1, 1.1, 1.2, 1.3, 2, 2.2*, 3, 3.1, 3.1.1, 4, 4.1 und 7 nicht auf erfinderischer Tätigkeit.

122

3. Das Streitpatent hat auch in der Fassung der Patentansprüche 1 bis 20 nach Hilfsantrag 2 mangels erfinderischer Tätigkeit keinen Bestand.

123

a) In der gemäß Hilfsantrag 2 verteidigten Fassung des Patentanspruchs 1 ist Merkmal 1.2 gestrichen. Die Merkmale 2.1 bis 2.6 sind ersetzt durch Merkmal 2.2* ”Vinylacetat-Ethylen-Copolymerisaten”. Merkmal 3 ist geändert zu Merkmal 3* mit “b) 0,1 bis 1,0 Gew.-%” und Merkmal 4 ist geändert zu Merkmal 4* mit ”c) 0,25 bis 1,5 Gew.-%”.

124

Zu den Merkmalen 1, 1.1, 1.2, 1.3, 2, 2.2*, und 3.1, 3.1.1 mit 4.1 sowie 7 des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag 2 wurde bereits zum Hauptantrag 1 Stellung genommen und die erfinderische Tätigkeit verneint (vgl. Kap. III.1). Die Bereichsangaben der Merkmale 3* und 4* sind ebenfalls aus K25a (vgl. dort bezüglich Merkmal 4* Patentanspruch 1), K33 (vgl. dort bezüglich Merkmal 3* Beispiele 1 bis 4), K10 (vgl. dort bezüglich Merkmalen 3* und 4* Abs. [0019]) und K11 (vgl. dort bezüglich Merkmal 3* unter “Optimierung des Vernetzersystems“) bekannt mit der Folge, dass auch der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der Fassung des Hilfsantrags 2 nahegelegen hat und nicht patentfähig ist. (vgl. die Ausführungen unter Kap. III.1.).

125

b) Was das Merkmal 8 gemäß Patentanspruch 10 “Herstellung der funktionalisierten Copolymerisate aus Anspruch 1 bis 9 mittels radikalischer Polymerisation“ und das Merkmal 9 gemäß Patentanspruch 16 “Verwendung der funktionalisierten Copolymerisate nach Anspruch 1 bis 9 in Beschichtungsmitteln“ betrifft, so ergeben sich Hinweise darauf bereits aus der K25a, dort Sp. 3 Zn. 4 bis 12 und Beispiel 2 Sp. 8, aus der K33, dort S. 5 Zn. 36 bis 40 S. 4 Zn. 57 bis 61 oder aus der K10, dort Abs. [0037] und [0046], mit der Folge, dass die nebengeordneten Patentansprüche 10 und 16 in der Fassung des Hilfsantrags 2 mangels erfinderischer Tätigkeit keinen Bestand haben.

        

126

c) Auch die auf den Hauptanspruch 1 bzw. die nebengeordneten Ansprüche 10 und 16 des Hilfsantrags 2 rückbezogenen Ansprüche 2 bis 9, 11 bis 15 und 17 bis 20 haben keinen Bestand, da deren Ausgestaltungen sich aus dem vorgebrachten vorveröffentlichten Stand der Technik ergeben und deshalb nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen.

127

So sind Hinweise auf wässrige Kunststoffdispersionen gemäß Unteranspruch 2 auf Basis von Comonomeren (Hauptmonomeren) wie Vinylacetat-Ethylen-Copolymeren, die ohne Zusatz von Filmbildehilfsmitteln eine Mindestfilmbildungstemperatur (MFT) von < 10°C aufweisen bereits in K33 gegeben (vgl. K33 S. 6 Zn. 1 bis 8). Funktionalisierte Copolymerisate mit Vinyltrimethoxysilan oder Methacryloxypropyltrimethoxysilan gemäß den Unteransprüchen 3, 5 und 6 sowie Glycidylacrylat oder Glycidylmethacrylat gemäß den Unteransprüchen 7 und 8 als Vernetzer sind ebenfalls bereits bekannt (vgl. die Ausführungen zu Kapitel III. d)). Die Druckschrift EP 0 822 240 A1 (K8) gibt Hinweise auf die gemeinsame Verwendung von 3-Mercaptopropyltrimethoxysilan (gamma-Mercaptopropyltrimethoxysilan), 3-Methacryloxypropyltrimethoxysilan (Trimethoxysilylpropylmethacrylat) und Glycidylmethacrylat als Vernetzer (vgl. K8 S 15 Zn. 27 bis 28), so dass dem Fachmann auch Mercaptosilane der Unteransprüche 4 bis 6 als Vernetzer bekannt waren. In K10 sind auch Vernetzer vom Typ einer ethylenisch ungesättigten 1,3-Dicarbonylverbindung wie Allylacetoacetat (Acetessigsäureallylester) gemäß Unteranspruch 9 beschrieben (vgl. K10 S. 3 Z. 31), so dass auch diese zum Handwerkszeug des Fachmanns gehörten.

128

Die Herstellung der funktionalisierten Copolymerisate gemäß den Unteransprüchen 11 bis 15 erfolgt üblicherweise mittels radikalischer Emulsionspolymerisation in Gegenwart von anionischen oder nichtionischen Emulgatoren oder deren Gemischen (vgl. K33 dort S. 5 Zn. 36 bis 42). Die Vernetzer, hier die Silane (vgl. K33 S 6 Zn. 19 bis 22), können mit den Hauptmonomeren abgemischt oder getrennt bei der Emulsionscopolymerisation zugegeben werden. Sie können gleichmäßig mit den anderen Monomeren im Laufe der Polymerisation oder auch mit der ersten oder der zweiten Hälfte der Monomerenmenge zudosiert werden (vgl. K33 S. 6 Zn. 23 bis 25). Die Entfernung der Restmonomere gemäß Unteranspruch 15 kann chemisch, beispielsweise durch Auspolymerisieren oder physikalisch, beispielsweise durch Abdestillation erfolgen (vgl. K33 S. 6 Zn. 29 u 30, 53 bis 55). Gemäß K10 kann die Polymerisation, unabhängig vom Polymerisationsverfahren, diskontinuierlich oder kontinuierlich, unter Vorlage aller oder einzelner Bestandteile des Reaktionsgemisches, oder nach dem Dosierverfahren ohne Vorlage durchgeführt werden (vgl. K10 S. 6 Abs [0040)]).

129

Die Verwendung der funktionalisierten Copolymerisate in Beschichtungsmitteln im Baubereich und in emissionsarmen Kunststoffdispersionen mit einer PVK vom mindestens 60 %, demnach in hochgefüllten und auch überkritischen Rezepturen gemäß den Unteransprüchen 17 bis 20 ist aus K33 bekannt (vgl. K33 Patentansprüche 1 und 8).

IV.

130

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO.

131

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.