Entscheidungsdatum: 19.07.2012
In der Patentnichtigkeitssache
…
betreffend das europäische Patent 0 645 1019
(DE 694 16 918)
hat der 2. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 19. Juli 2012 unter Mitwirkung der Vorsitzenden Richterin Sredl sowie der Richter Merzbach, Dr.-Ing. Fritze, Dipl.-Ing. Univ. Rothe und Dipl.-Ing. Feterroll
für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent EP 0 645 101 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte ist Inhaberin des am 2. September 1994 in der Amtssprache Englisch angemeldeten europäischen Patents 0 645 101 mit der Bezeichnung "Improved sports shoe" (Sportschuh), für das die Prioritäten der italienischen Patentmeldungen IT TV 930080 vom 10. September 1993 und IT TV 940057 vom 23. Mai 1994 in Anspruch genommen worden sind und das vom Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nummer DE 694 16 918 geführt wird.
Das Streitpatent umfasst 46 Patentansprüche.
Der erteilte Patentanspruch 1 hat in der maßgeblichen englischsprachigen Fassung folgenden Wortlaut:
1. Sports shoe comprising at least on quarter (3,103,403,603) associated with a shell (2,102,502,602), and at least one rigid element (4,104,204,304,404,504,604,605) associated with said shell and affecting the metatarsal region (9), the heel region (8) and the malleolar region (11) at least at the inner side of the foot, said rigid element being shaped like an inverted V and forming a first side (6) and a second side (7) that run respectively from the heel region (8) and from the metatarsal region (9) towards the malleolus (11).
In der deutschen Übersetzung lautet der Anspruch:
1. Sportschuh, der umfaßt: wenigstens einen Abschnitt (3, 103, 403, 603), der mit einer Schale (2, 102, 502, 602) verbunden ist, und wenigstens ein steifes Element (4, 104, 204, 304, 404, 504, 604, 605), das mit der Schale verbunden ist und auf den Mittelfußbereich (9), den Fersenbereich (8) und den Knöchelbereich (11) wenigstens auf der Innenseite des Fußes einwirkt, wobei das steife Element wie ein invertiertes V geformt ist und eine erste Seite (6) und eine zweite Seite (7) bildet, die von dem Fersenbereich (8) bzw. von dem Mittelfußbereich (9) zu dem Knöchel (11) verlaufen.
Wegen des Wortlauts der jeweils mittelbar oder unmittelbar auf Patentanspruch 1 zurückbezogenen Patentansprüche 2 bis 46 wird auf die Streitpatentschrift Bezug genommen.
Die Klägerin macht unter Berufung auf die von ihr vorgelegten Druckschriften
(NK3) FR 2 063 555 A
(NK4) FR 2 629 691 A1
(NK6) FR 2 292 442 A1
(NK7) FR 1 543 178 A
(NK8) EP 0 634115 B1
(NK9) EP 0 679 346 A1
(NK10) FR 2 022 751 A
(NK11) FR 2 119 653 A
(NK12) US 3 545 103 A
(NK13) US 3 067 531 A
(NK14) FR 2 629 691 A1
(NK15) EP 0 466 032 B1
(NK16) WO 92 / 16 120 A1
(NK17) US 3 807 062 A
(NK18) FR 2 653 310 A1
(NK19) EP 0 430 821 B1
(NK20) US 3 636 642 A
(NK21) IT 1210429 B (mit Übers. NK21a)
geltend, der patentgemäße Gegenstand sei gegenüber dem genannten Stand der Technik nicht neu bzw. beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit und sei daher nicht patentfähig (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜbkG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 lit. a EPÜ). Überdies sei der Sportschuh nach Anspruch 26 ursprünglich nicht offenbart und das Patent offenbare die Erfindung nach Anspruch 26 nicht so deutlich und vollständig, dass ein Fachmann sie ausführen könne.
Im Prüfungsverfahren sind außerdem folgende Druckschriften in Betracht gezogen bzw. in der Patentschrift genannt worden:
(P1) IT 1242745 B(=IT 82601 A/90) (nachveröffentlicht)
(P2) EP 0 302 414 A2
Die Klägerin beantragt,
das Europäische Patent EP 0 645 101 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie tritt den Ausführungen der Klägerin in allen Punkten entgegen und hält das Streitpatent für patentfähig.
Zum weiteren Vorbringen der Parteien wird auf deren Schriftsätze verwiesen.
Die zulässige Klage ist begründet. Das Streitpatent war für nichtig zu erklären. Es erweist sich jedenfalls nicht als patentfähig (Artikel II § 6 Absatz 1 Nr. 1 IntPatÜG, Artikel 138 Abs. 1 lit a EPÜ i. V. m. Artikel 54, Artikel 56 EPÜ), da sich die darin beanspruchte Lehre für den Fachmann jedenfalls aus dem Stand der Technik ergibt.
I.
1. Das Streitpatent betrifft einen Sportschuh wie z. B. einen Skischuh. Solche Schuhe werden üblicherweise durch das Einspritzen von Kunststoff in geeignete Hohlräume hergestellt, um eine Schale und wenigstens einen Abschnitt zu erhalten.
2. Dem Streitpatent liegt als Aufgabe zugrunde, einen Sportschuh dieses Typs bereitzustellen, der eine optimale Übertragung von Kräften von dem Bein auf das Sportgerät, wie z.B. einen Ski, Rollschuh etc. zu ermöglicht. Als weitere Aufgabe der Erfindung ist angegeben, einen Sportschuh bereitzustellen, der trotz der Verwendung von Kunststoff die gewünschte Steifigkeit und ein geringes Gewicht aufweist (S. 9, 2 u. 3. Abs. der Patentschrift).
3. Zur Lösung dieser Aufgabe beschreibt Anspruch 1 des Streitpatents einen Sportschuh gemäß folgender Merkmalsgliederung:
1 Sportschuh, der umfasst:
2 wenigstens einen Abschnitt der mit einer Schale verbunden ist,
3 und wenigstens ein steifes Element, das mit der Schale verbunden ist
4 und auf den Mittelfußbereich, den Fersenbereich und den Knöchelbereich wenigstens auf der Innenseite des Fußes einwirkt,
5 wobei das steife Element wie ein invertiertes V geformt ist und eine erste Seite und eine zweite Seite bildet,
6 die von dem Fersenbereich bzw. von dem Mittelfußbereich zu dem Knöchel verlaufen.
4. Als Fachmann ist dabei ein Schuhtechniker mit langjähriger Erfahrung in Konstruktion und Herstellung von Sportschuhen aus Kunststoffschalen anzusehen
II.
1. Der Sportschuh nach dem geltenden Patentanspruch 1 ist dem Fachmann aus der Druckschrift FR 2 063 555 A1 (NK3) in Verbindung mit seinem Fachwissen nahe gelegt.
Der Senat sieht in dem aus der Verbesserungen von Skischuhen ("Perfectionnements aux chaussures de ski") betreffenden Druckschrift NK3 bekannten Sportschuh den dem Streitgegenstand am nächsten kommenden Stand der Technik.
Die Patentinhaberin vertritt die Auffassung, diese Druckschrift zöge der Fachmann nicht heran, da er einen aus Leder gefertigten Schuh, wie er aus der NK3 bekannt sei, nicht als Ausgangspunkt für die Konstruktion eines aus Kunststoffspritzguss gefertigten Skischuhs nehmen würde.
Diese Meinung teilt der Senat nicht. Abgesehen davon, dass es nach dem Anspruch 1 nicht darauf ankommt, aus welchem Material ein patentgemäßer Sportschuh besteht, wurden bereits zur Zeit der Anmeldung des Gegenstandes der NK3 Lederschalen von Skischuhen immer häufiger durch Schalen aus Kunststoff ersetzt. Lediglich zum druckschriftlichen Nachweis dieses Fachwissens wird auf Druckschrift NK11, S. 1, Z. 3 bis 11 verwiesen ("Au cours des dernières anneés, il s'est produit une révolution dans l'industrie des chaussures de ski; ses chaussures, précédemment fabriqueés en cuire, ont de plus en plus remplacé le cuir par des matières plastiques, en particulier dans la fabrication de l'enveloppe extérieur."). Somit ist die Beschreibungspassage auf S. 1, Z. 10 bis 15 der NK3 ("L'expérience démontre cependant que dans le cas où la tige est réalisée en cuir naturel ou en une matière synthétique ne présentant pas une rigidité parfait, …") unter Berücksichtigung des Fachwissens dahingehend zu verstehen, dass diese Art von Skischuhen damals schon nicht nur aus Leder, sondern auch aus Kunststoff gefertigt wurde. Zudem befasst sich die Druckschrift NK3 mit der auch dem Streitpatent zugrunde liegenden Problematik, wonach die Steifigkeit bekannter Schalen von Skischuhen verbesserungsbedürftig ist (S. 1, Z. 10 bis 15), so dass ein Fachmann entsprechende Lösungshinweise für die Aufgabe findet, einen Sportschuh bereitzustellen, der trotz der Verwendung von Kunststoff die gewünschte Steifigkeit und ein geringes Gewicht aufweist, und Kräfte vom Schuh effizient auf das Sportgerät übertragen kann, und zur Problemlösung in Betracht zieht.
Der Sportschuh nach NK3 (Merkmal 1) ist mit wenigstens einem Abschnitt (un haut de tige articulé 3) versehen, der mit einer Schale (tige 2) mittels metallischer Stützelemente (entretoises métalliques 4), Niete (rivets 5) und eines Gelenks (axe d'articulation 6) mit dem Abschnitt 3 verbunden ist, (S. 2, Z. 37 bis S. 3, Z. 5 i. V. m. Fig. 10) (Merkmal 2).
Die Stützelemente 4 sind folglich steife Elemente , die mit der Schale 3 verbunden sind (S. 2, Z. 35 bis 38) (Merkmal 3).
Wie die Fig. 1 und 2 zeigen, erstreckt sich das an der Schale 2 befestigte steife Element 4 vom Fersenbereich über den Mittelfußbereich zum Knöchelbereich auf beiden Seiten des Sportschuhs und wirkt demnach auf diese Bereiche ein (Merkmal 4).
Das steife Element 4 weist außerdem erste und zweite Seiten auf, die von dem Fersenbereich bzw. von dem Mittelfußbereich zu dem Knöchel verlaufen (Fig. 1) (Teilmerkmal des Merkmals 5 und Merkmal 6).
Der bekannte Sportschuh unterscheidet sich von dem patentgemäßen Sportschuh lediglich dadurch, dass das steife Element dort wie ein mit der Spitze nach oben weisendes Dreieck geformt ist (Fig. 1 und 4), wogegen nach dem einzig noch verbleibenden Teilmerkmal des Merkmals 5 im Anspruch 1 des Streitpatents vorgesehen ist, dass das steife Element wie ein invertiertes V geformt ist.
Darin ist nichts Erfinderisches zu erkennen. Nach der Aufgabenstellung der Patentschrift soll unter anderem ein geringes Gewicht erzielt werden (Abs. 0049). Dem Fachmann ist bekannt, dass Stützkonstruktionen nach Art eines Fachwerks aus Stäben gegenüber der vollflächigen Alternative den Vorteil bieten, dass sie im Verhältnis zu ihrer Tragfähigkeit ein geringeres Gewicht aufweisen. Es liegt folglich für den Fachmann nahe, das steife Element so zu gestalten, dass Material nur in den zur Kraftübertragung notwendigen Bereichen vorhanden ist. Somit stellt ausgehend von der dreiecksförmigen Gestalt des steifen Elements gemäß NK3, dessen Umriss bereits die invertiert V-förmige Ausgestaltung im Wesentlichen vorwegnimmt, die Lösung des Streitpatents lediglich eine im Griffbereich des Fachmanns liegende Maßnahme dar.
Der patentgemäße Sportschuh ergibt sich für den Fachmann demnach in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik.
Mit dem Anspruch 1 fallen auch alle auf ihn mittelbar oder unmittelbar rückbezogenen Ansprüche, die von der Patentinhaberin nicht explizit als eigenständig patentfähigverteidigt worden sind. Einen schutzbegründenden Inhalt konnte der Senat insoweit ebenfalls nicht erkennen.
2. Dies gilt insbesondere auch für den Anspruch 26, zu dessen Gegenstand die Klägerin geltend gemacht hat, er sei ursprünglich so nicht offenbart, und das Patent offenbare die damit beanspruchte Erfindung nicht so deutlich und vollständig, dass ein Fachmann sie ausführen könne (Art. 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 lit b EPÜ).
Die ursprüngliche Offenbarung des Gegenstands des Anspruchs 26 sieht der Senat als gegeben an, denn die im Anspruch angegebene Merkmalskombination ist eine Unterkombination, die auf die ursprünglichen Ansprüche 33, 32, 2 und 1 zurückgeführt werden kann. Insoweit liegt keine unzulässige Erweiterung vor.
Mit der gemäß Anspruch 26 angegebenen Merkmalskombination ist die vermeintliche Erfindung jedoch nicht ausführbar.
Den Fig. 13 bis 17 und der Beschreibung zufolge wird der wenigstens eine Abschnitt mit 603, die Schale mit 602 und das steife Element mit 604 bzw. 605 bezeichnet. Nach Anspruch 26, der auf Anspruch 1 rückbezogen ist und dessen Gegenstand er demnach weiterbildet, soll das steife Element wie ein invertiertes V geformt sein. Das steife Element 604 bzw. 605 gemäß Anspruch 26 wird jedoch in der Beschreibung als gitterförmiger Rahmen ("grid-like frame") bezeichnet und ist, wie die Fig. 13 bis 17 zeigen, nicht wie ein invertiertes V geformt, sondern vielmehr schuhförmig (604) oder manschettenförmig (605). Der Fachmann, der den Sportschuh gemäß Anspruchs 26 nacharbeiten will, erhält somit aus der Patentschrift widersprüchliche Informationen darüber, wie das steife Element geformt sein soll. Folglich offenbart das Patent die Erfindung nach Anspruchs 26 nicht so deutlich und vollständig, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 99 Abs. 1 PatG, § 709 Satz 1 und 2 ZPO.