Entscheidungsdatum: 23.05.2016
In der Beschwerdesache
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betreffend die Patentanmeldung 10 2014 217 457.0
hat der 19. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts am 23. Mai 2016 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dipl.-Ing. Kleinschmidt, der Richterin Kirschneck sowie der Richter Dipl.-Phys. Dipl.-Wirtsch.-Phys. Arnoldi und Dipl.-Ing. Matter
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Anmelderin wird der Beschluss der Prüfungsstelle für Klasse H 02 H des Deutschen Patent- und Markenamts vom 15. Mai 2015 aufgehoben und die Sache zur weiteren Bearbeitung der Patentanmeldung an das Deutsche Patent- und Markenamt zurückverwiesen.
I.
Die Anmelderin hat am 2. September 2014 einen Antrag auf Erteilung eines Patents mit der Bezeichnung „Schutzvorrichtung mit richtzonenselektiver Verriegelungsfunktionalität“ beim Deutschen Patent- und Markenamt (i. W. DPMA) eingereicht, dem sieben Blatt Zeichnungen, Figuren 1 bis 8, beigefügt waren. In der Beschreibung der Anmeldung (Seiten 7 bis 17) wird auf Figuren 1, 2A, 2B, 3, 4, 5, 6 und 7 Bezug genommen. Dem Antrag beigefügt ist weiterhin eine Abschrift der chinesischen Voranmeldung CN 2013P05982, deren Priorität vom 10. September 2013 in Anspruch genommen wird, und die sieben Blatt Zeichnungen, Figuren 1, 2A, 2B, 3 bis 7, umfasst.
Auf einen Hinweis der Prüfungsstelle vom 23. September 2014 bezüglich Unstimmigkeiten bei der Nummerierung der Figuren in der Beschreibung und in den Zeichnungen, hat die Anmelderin mit Eingabe vom 30. Januar 2015, eingegangen am selben Tag, einen Satz Zeichnungen nachgereicht, die mit der Nummerierung (Figuren 1, 2A, 2B, 3 bis 7) in der Beschreibung übereinstimmen und auch mit der jeweils zugehörigen Figurenbeschreibung korrespondieren. Die nachgereichten Figuren 1 und 3 bis 7 weichen jedoch sämtlich in dem dargestellten Inhalt von dem der ursprünglich mit der Anmeldung eingereichten Figuren 1 und 3 bis 7 ab.
Mit Bescheid vom 12. Februar 2015 hat die Prüfungsstelle darauf hingewiesen, dass die mit der Anmeldung eingegangenen Unterlagen eine Bezugnahme auf Zeichnungen (Figuren 1, 2A, 2B, 3 bis 7) enthielten, die ursprünglich eingereichten Zeichnungen aber ersichtlich nicht zur Beschreibung der Ausführungsbeispiele gehörten. Die entsprechenden zur Anmeldung gehörenden Zeichnungen (Figuren 1, 2A, 2B, 3 bis 7) seien erst am 30. Januar 2015 nachgereicht worden. Die Anmelderin ist – unter Fristsetzung von einem Monat ab Zustellung – aufgefordert worden zu erklären, ob die Bezugnahme auf Zeichnungen als nicht erfolgt gelten solle mit dem dann ursprünglichen Anmeldetag oder ob sie als erfolgt gelten solle mit dem dann verschobenen Anmeldetag 30. Januar 2015.
Mit Eingabe vom 18. Februar 2015 hat die Anmelderin geltend gemacht, dass die korrekten Zeichnungen zusammen mit der Anmeldung in der Abschrift der chinesischen Prioritätsanmeldung eingereicht und offenbart worden seien. Sinn und Zweck der §§ 34 Abs. 3 und 35 Abs. 2 PatG sei es, mit nachgereichten Unterlagen nicht nachträglich den Offenbarungsgehalt der Anmeldung zu erweitern. Dies sei aber vorliegend mit den am 30. Januar 2015 nachgereichten Zeichnungen nicht geschehen, da diese mit den Zeichnungen der am Anmeldetag eingegangenen Abschrift der chinesischen Prioritätsanmeldung übereinstimmten. Auch unter Hinweis auf Regel 56 Abs. 3 AusfOEPÜ werde deshalb beantragt, den ursprünglichen Anmeldetag für die nachgereichten Zeichnungen beizubehalten.
Durch Beschluss vom 15. Mai 2015 hat die Prüfungsstelle die Patentanmeldung zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, dass gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 und 2 PatG bei einer Bezugnahme auf Zeichnungen der Tag des Eingangs von fehlenden Zeichnungen beim DPMA Anmeldetag sei. Die Erfindung sei gemäß § 34 Abs. 4 PatG in der Anmeldung zu offenbaren, wobei zur Anmeldung gemäß § 34 Abs. 3 PatG Antrag, Beschreibung, Ansprüche und Zeichnungen gehörten, nicht jedoch andere mit der Anmeldung eingereichte Unterlagen, wie Prioritätsunterlagen. In dem Erteilungsantrag oder der Beschreibung finde sich auch kein Hinweis, dass die chinesischen Prioritätsunterlagen, insbesondere die Zeichnungen, als Teil der Anmeldungsunterlagen zu werten seien. Die Zeichnungen aus der Abschrift der chinesischen Voranmeldung könnten daher nicht als zu den Anmeldungsunterlagen gehörend berücksichtigt werden.
Regel 56 Abs. 3 AusfOEPÜ, wonach fehlende Zeichnungen oder Beschreibungsteile unter Wahrung des Anmeldetags nachgereicht werden könnten, sofern diese vollständig in einer früheren Anmeldung enthalten seien, deren Priorität beansprucht werde, sei im deutschen Anmeldeverfahren nicht vorgesehen und daher nicht anwendbar. Nachdem die Anmelderin auf dem ursprünglichen Anmeldetag bestehe, sei die Anmeldung zurückzuweisen gewesen.
Gegen den Beschluss richtet sich die Beschwerde der Anmelderin vom 19. Juni 2015. Die Anmelderin hat ihre Beschwerde weder begründet noch Anträge gestellt.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Akte verwiesen.
II.
Die statthafte und auch sonst zulässige Beschwerde hat Erfolg und führt unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur Zurückverweisung der Sache an das DPMA wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels (§ 79 Abs. 3 Nr. 2 PatG).
Entgegen dem angefochtenen Beschluss ist eine Verschiebung des Anmeldetags auf den 30. Januar 2015, dem Tag der nachgereichten Zeichnungen, Figuren 1, 2A, 2B, 3 bis 7, nicht gemäß § 35 Abs. 2 Satz 2 PatG eingetreten, so dass die Zurückweisung der Patentanmeldung wegen des von der Anmelderin nicht auf diesen Anmeldetag gerichteten Erteilungsantrags zu Unrecht erfolgt ist.
Zwar erachtet der Senat den Anwendungsbereich der Bestimmung des § 35 Abs. 2 PatG, wonach der Anmeldung nicht beigefügte Zeichnungen, auf die die Anmeldung eine Bezugnahme enthält, unter Verschiebung des Anmeldetags auf den Tag ihres Eingangs nachgereicht werden können, grundsätzlich für eröffnet, da jedenfalls ein Teil der in Bezug genommenen Zeichnungen, und zwar die Figuren 2A und 2B, der Anmeldung nicht beigefügt waren. Ob die Bestimmung darüber hinaus auch Anwendung findet, wenn der Anmeldung zwar Zeichnungen beigefügt sind (wie vorliegend die Figuren 1, 3 bis 7), die in der Anmeldung enthaltene Bezugnahme jedoch nicht zu den beigefügten Zeichnungen passt, mithin diejenigen Zeichnungen fehlen, auf die in der Anmeldung Bezug genommen ist, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben.
Die Figuren 2A und 2B, sind, ebenso wie die übrigen Figuren der chinesischen Prioritätsanmeldung, der Anmeldung auch nicht dadurch beigefügt, dass sie von der zusammen mit der Anmeldung eingereichten chinesischen Prioritätsanmeldung umfasst sind. Zutreffend hat die Prüfungsstelle festgestellt, dass Prioritätsunterlagen grundsätzlich nicht zu der Anmeldung i. S. d. § 34 Abs. 3 PatG gehören und nur dann berücksichtigt werden können, wenn sie als Offenbarungsgehalt der Anmeldung eindeutig gekennzeichnet sind (vgl. Schulte, a. a. O., § 34 Rdn. 298 und § 35 Rdn. 20 a. E.; Benkard, PatG, 11. Aufl., 2015, § 34 Rdn. 35a). Ein irgendwie gearteter Hinweis darauf, dass die Zeichnungen der chinesischen Prioritätsanmeldung diejenigen sein sollen, die zu der Anmeldung gehören, findet sich jedoch an keiner Stelle in dem Erteilungsantrag und den dazu eingereichten Unterlagen.
Voraussetzung für eine Verschiebung des Anmeldetags auf den Tag des Eingangs nachgereichter Zeichnungen ist gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 PatG eine Aufforderung des Patentamts, die fehlenden Zeichnungen nachzureichen oder zu erklären, dass die Bezugnahme als nicht erfolgt gelten soll. Anerkannt ist hierbei, dass diese Aufforderung – wie vorliegend – auch noch erfolgen kann, wenn fehlende Zeichnungen bereits ohne eine solche Aufforderung nachgereicht worden sind, um dem Anmelder die Wahlmöglichkeit zu eröffnen (vgl. Schulte, PatG, 9. Aufl., 2014, § 35 Rdn. 57; Benkard, a. a. O., § 35 Rdn. 28). Obwohl der Bescheid der Prüfungsstelle vom 12. Februar 2015 inhaltlich eine Aufforderung nach § 35 Abs. 2 Satz 1 PatG mit einmonatiger Fristsetzung ab Zustellung darstellt, kann der Bescheid gleichwohl die Rechtsfolge des Satz 2 nicht auslösen.
Hierzu müsste der Bescheid bzw. die Aufforderung förmlich zugestellt worden sein (vgl. den Wortlaut von Satz 1 sowie Benkard, a. a. O., § 35 Rdn. 18; Busse, PatG, 7. Aufl., 2013, § 35 Rdn. 5; BPatG, Beschluss vom 13. März 2008 – 10 W (pat) 18/07, BlPMZ 2008, 219 – Brennstoffe), was aber hier nicht geschehen ist. Vielmehr ergibt sich aus der elektronischen Akte der Patentanmeldung nur ein Versand des Bescheids am 13. Februar 2015 mittels einfachen Briefs. Erforderlich wäre aber an die zum damaligen Zeitpunkt anwaltlich nicht vertretene Anmelderin nach Ziffer 3.3. der Hausverfügung Nr. 10 des DPMA vom 1. Februar 2006 eine Zustellung durch Niederlegung im Abholfach gemäß § 127 Abs. 1 Nr. 4 PatG, da für die Anmelderin ein Abholfach beim DPMA eingerichtet ist. Die hierfür erforderliche schriftliche Mitteilung über die Niederlegung gemäß § 127 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 PatG findet sich nicht in der elektronischen Akte der Patentanmeldung, sondern lediglich der Vermerk „Dokumenten Art: Bescheid; Versandart: Einfacher Brief; Versanddatum: 13.02.2015“ zu dem Versanddokument des Mängelbescheids vom 12. Februar 2015.
Eine Heilung des Zustellungsmangels mit dem tatsächlichen Zugang des Bescheids bei der Anmelderin nach § 8 VwZG i. V. m. § 127 Abs. 1 PatG ist nicht eingetreten. Dies hätte einen Zustellungswillen erfordert, d. h. die Zustellung hätte vom DPMA beabsichtigt, mindestens angeordnet und in die Wege geleitet sein müssen. Die Veranlassung einer formlosen Mitteilung des zuzustellenden Dokuments genügt nicht (vgl. Schulte, a. a. O., § 127 Rdn. 123., BPatG a. a. O. – Brennstoffe; BGH, Urteil vom 19. Mai 2010 – IV ZR 14/08, MDR 2010, 885), vielmehr hätte die Zustellung von dem Prüfer ausdrücklich angeordnet werden müssen. Dafür aber gibt es keinen Hinweis in der elektronischen Akte. Insbesondere fehlt auf dem Versand-Dokument des Bescheids vom 12. Februar 2015 der Vermerk „Niederlegung im Abholfach“, mit dem in der elektronischen Akte die hier einschlägige Zustellung durch Niederlegung im Abholfach durch die Prüfungsstelle angeordnet wird.
Nachdem eine Aufforderung nach § 35 Abs. 2 Satz 1 PatG der Anmelderin wegen eines unheilbaren Zustellungsmangels nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist, konnte eine Verschiebung des Anmeldetags auf den 30. Januar 2015, den Tag des Eingangs der nachgereichten Zeichnungen, gemäß § 35 Abs. 2 Satz 2 PatG nicht eintreten. Die Zurückweisung der Anmeldung wegen Uneinigkeit zwischen der Prüfungsstelle und der Anmelderin über den der Anmeldung zukommenden Anmeldetag (vgl. BPatG, a. a. O. – Brennstoffe) war demzufolge nicht gerechtfertigt. Der Zurückweisungsbeschluss war daher aufzuheben und die Sache wegen des Verfahrensmangels an das DPMA zurückzuverweisen. Die Prüfungsstelle wird die Zustellung einer entsprechenden Aufforderung nach § 35 Abs. 2 Satz 1 PatG nachzuholen haben.
Insoweit merkt der Senat ergänzend an, dass er mit der Prüfungsstelle der Auffassung ist, dass im Verfahren nach § 35 Abs. 2 PatG eine entsprechende Anwendung der im europäischen Recht geltenden Regel 56 Abs. 3 AusfOEPÜ nicht in Betracht kommt, wonach unter bestimmten, dort im Einzelnen geregelten Voraussetzungen der ursprüngliche Anmeldetag erhalten bleibt, wenn die Anmeldung die Priorität einer früheren Anmeldung in Anspruch nimmt und fehlende Zeichnungen vollständig in der früheren Anmeldung enthalten sind. Europäisches Verfahrensrecht findet im nationalen Recht grundsätzlich keine Anwendung. Eine solche Regelung bleibt dem Gesetzgeber vorbehalten, der jedoch auch bei der zum 1. April 2014 in Kraft getretenen Neufassung des § 35 PatG eine der Regel 56 Abs. 3 AusfOEPÜ entsprechende Bestimmung nicht in das nationale Recht aufgenommen hat (vgl. Schulte, a. a. O., § 35 Rdn. 51).