Entscheidungsdatum: 03.08.2017
In der Beschwerdesache
betreffend die Patentanmeldung 10 2014 202 004.2
…
hat der 17. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 3. August 2017 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dipl.-Phys. Dr. Morawek, der Richterinnen Eder, Dipl.-Phys. Dr. Thum-Rung und des Richters Dipl.-Phys. Dr. Forkel
beschlossen:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
I.
Die vorliegende Patentanmeldung wurde am 4. Februar 2014 beim Deutschen Patent- und Markenamt eingereicht. Sie trägt die Bezeichnung
„Verfahren zur Auslegung eines Fahrerassistenzsystems“.
Die Anmeldung wurde von der Prüfungsstelle für Klasse G06F des Deutschen Patent- und Markenamtes mit Beschluss vom 25. Februar 2015 zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Prüfungsstelle aus, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 ein allgemein für die Auslegung von Fahrerassistenzsystemen anwendbares Verfahren darstelle, dessen Schritte eine mathematische Methode als solche darstellten. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 falle damit unter das Patentierungsverbot des § 1 PatG und sei daher nicht gewährbar.
Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde der Anmelderin gerichtet.
Die Anmelderin stellt den Antrag,
den angegriffenen Beschluss aufzuheben und das nachgesuchte Patent mit folgenden Unterlagen zu erteilen:
Patentansprüche 1–5 und
Beschreibung Seiten 1–11, jeweils vom Anmeldetag.
Im Prüfungsverfahren vor dem Deutschen Patent- und Markenamt wurde auf die Druckschrift
D1: HAUTZINGER, H. [u. a.]: Summary Report of Work Package 7 „Statistical Methods“. Project No. 027763 – TRACE, Traffic Accident Causation in Europe, Deliverable 7.5, 2008.
URL:
hingewiesen.
Der geltende Patentanspruch 1, hier mit einer denkbaren Gliederung versehen, lautet:
(a) Verfahren zur Auslegung eines Fahrerassistenzsystems im Hinblick auf eine Verringerung der Anzahl und der Konsequenzen von Verkehrsunfällen, wobei
(b) ein Systemkonzept dahingehend bewertet wird, wie viel Prozent eines Gesamtschadens jeweils bei einem Unfall eines bestimmten Typs vermieden werden kann,
dadurch gekennzeichnet, dass
(c) mindestens eine statistische Hypothese getestet und
(d) aufgrund des Ausgangs eines jeweiligen Testes die Notwendigkeit von mindestens einem Ersatzwert festgestellt wird, wobei(e) zur Durchführung eines Hypothesentests ein definiertes Konfidenzniveau (z. B., 95%, 99%) vorgegeben wird.
Zu den übrigen Patentansprüchen und den weiteren Einzelheiten wird auf die Akte verwiesen.
Die Anmelderin trägt vor, dass in der Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen das Wissen um Falschreaktionen eine erhebliche Rolle spiele. Da nicht alle Verkehrssituationen experimentell getestet werden könnten, würden Unfallsituationen unter Rückgriff auf behördliche Unfall-Datenbanken simuliert. Das beanspruchte Verfahren könne hierbei trotz lückenhafter Unfalldaten wichtige Hinweise zur Auslegung eines Fahrerassistenzsystems liefern.
Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 sei nicht nur dem Patentschutz grundsätzlich zugänglich, er sei unter Berücksichtigung des eingeführten Standes der Technik neu und beruhe auch auf erfinderischer Tätigkeit.
II.
Die Beschwerde wurde rechtzeitig eingelegt und ist auch sonst zulässig. Sie hat jedoch keinen Erfolg, weil die im geltenden Patentanspruch 1 beanspruchte Lehre vom Patentschutz gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. Abs. 4 PatG ausgeschlossen ist („mathematische Methode als solche“).
1. Der Gegenstand der Anmeldung betrifft ein Verfahren zur optimalen Auslegung eines Fahrerassistenzsystems zur Verringerung der Anzahl und der Konsequenzen von Verkehrsunfällen (Offenlegungsschrift, Absatz [0001]).
Ausweislich der Anmeldung sind Fahrerassistenzsysteme (FAS) zur Vermeidung von Unfällen im Stand der Technik heute weithin bekannt. FAS träten zu einem oder mehreren bestimmten Zeitpunkten ein mit Informationen, Warnungen, Bremsverstärkungen, Stabilisierungsmaßnahmen oder auch automatischen Interventionen, um Unfälle zu verhindern oder abzumildern. Assistenzsysteme zur Vermeidung von Unfällen verknüpften unterschiedliche Datenquellen und Sensoren, um Bewegungsabläufe der Verkehrsteilnehmer, Charakteristiken und Randbedingungen der Fahrzeugumgebung zu erfassen bzw. vorherzusagen. Dadurch würden mit Hilfe mehrerer Steuerungs- und Auslösealgorithmen die Art, die Intensität und die Zeitpunkte der Handlungen des FAS bestimmt (Offenlegungsschrift, Absatz [0002]).
Einerseits könne es passieren, dass ein Unfall trotz des Fahrerassistenzsystems weder verhindert noch gemildert werde, beispielsweise wenn der Systemeingriff gar nicht, nicht rechtzeitig oder nicht intensiv genug erfolge. Daher betreffe ein erster Aspekt der Qualität die Maximierung der Effektivität zur Vermeidung bzw. Milderung von Unfällen. Andererseits könne es aber auch passieren, dass ein FAS-Eingriff erfolge, ohne dass es zu einem Unfall gekommen wäre. Solche Eingriffe würden hier als falschpositive Handlungen bezeichnet und seien aus mehreren Gründen in der Praxis unerwünscht: eine automatische Intervention könne etwa die Kontrollierbarkeit des Fahrens beeinträchtigen, aber auch zu häufige Warnungen, die vom Fahrer als überflüssig erkannt würden, könnten zu einer verringerten Sensibilisierung auf Warnungen oder zum Verzicht des Fahrers auf die Nutzung von FAS führen und trügen somit indirekt zur Verringerung der Wirksamkeit bei. Daher betreffe ein zweiter Aspekt der Qualität die Minimierung der Häufigkeit falschpositiver Handlungen (Offenlegungsschrift, Absätze [0003] bis [0006]).
Im Rahmen der Auslegung eines Fahrerassistenzsystems gehe es häufig um Fragestellungen wie z. B., ob mit einem Systemkonzept mehr als X % des Schadens aus Unfällen eines bestimmten Typs (etwa Unfälle mit Fußgängern) vermieden werden könne (Offenlegungsschrift, Absatz [0007]).
In Hinblick auf die Ermittlung einer Wahrscheinlichkeit für die Unfallschadenvermeidung durch ein FAS geht die Anmeldung von einem Stand der Technik aus, bei dem in einer behördlich anerkannten Unfalldatenbank Stichproben aus einer Menge von Unfällen mit und ohne Systemeingriff gezogen werden.
Das bekannte Verfahren soll in Folgendem bestehen: um geeignete Stichproben zu definieren, würden die Unfälle einer Art mehreren objektiv definierten Kategorien zugeordnet (z. B. Kollisionsgeschwindigkeitsklassen; Lichtverhältnisse, wie etwa Dunkelheit/Dämmerung/Helligkeit o. ä.). Die Unfälle der Datenbank würden in virtuelle Zellen gruppiert, die durch die Kategorien eindeutig definiert seien. Jeder für die Bewertung eines bestimmten Fahrerassistenzsystems relevante Unfall werde einer der so definierten Zellen zugeordnet. Jede Zelle stehe dann für einen bestimmten Anteil aller Unfälle der betrachteten Art. Ein Unfallschadenvermeidungswert ergebe sich aus dem Erwartungswert des Anteils des durch das System vermiedenen Schadens in den Unfällen einer Zelle. Die Gesamtschadenvermeidung resultiere aus der Summe der Produkte der relativen Unfallhäufigkeiten der Zellen mit den Unfallschadenvermeidungswerten der einzelnen Zellen (Offenlegungsschrift, Absatz [0008]).
Falls jedoch in einem Land keine Unfallzahlen in den Zellen vorhanden, aber aggregierte Summenhäufigkeiten der Kategorien bekannt seien, finde das aus dem Stand der Technik bekannte IPFP-Verfahren („Iterative proportional fitting procedure“) Anwendung, um Ersatzwerte für die Zellen zu generieren. Allerdings führe das IPFP-Verfahren nicht notwendigerweise zu eindeutigen und wahrscheinlichkeitstheoretisch bzw. statistisch begründeten Resultaten, z. B. für Odds-Ratios (Quoten- bzw. Risikoverhältnisse; Offenlegungsschrift, Absätze [0009] bis [0015], [0017]).
In Hinblick auf die optimale Auslegung eines Fahrerassistenzsystems bedeute dies, dass in mindestens einem Land eine unbegründete Schätzung von Zellenhäufigkeiten entstehe und damit die Qualität der Auslegung des betrachteten Fahrerassistenzsystems beeinträchtigt werde. Weiterhin könne dies dazu führen, dass ein Effektivitätsnachweis nicht gelinge. In solch einem Fall müsse ein Unternehmen, das in allen Ländern Sicherheitsstandards erfüllen möchte und hierfür auf einen Nachweis in jedem Land angewiesen sei, teure Design-Änderungen oder Nachrüstungen in Kauf nehmen (Offenlegungsschrift, Absatz [0017]).
Als Aufgabe wird in der Anmeldung genannt, ein eindeutiges und wahrscheinlichkeitstheoretisch begründetes Verfahren zur Hochrechnung zu definieren und anzuwenden, welche die aus dem Stand der Technik bekannten Defizite behebt (Offenlegungsschrift, Absatz [0018]).
Als Fachmann zur Lösung der genannten Aufgabe ist im vorliegenden Fall ein Mathematiker oder Informatiker anzusehen, welcher Erfahrung in der Entwicklung von mathematischen Methoden in einem Entwicklungsbereich besitzt, der die Effizienz von Fahrerassistenzsystemen bewerten muss und hierfür Kenntnisse in der Anwendung statistischer Methoden besitzt.
2. Der Patentanspruch 1 schlägt zur Lösung der genannten Aufgabe ein Verfahren zur Auslegung eines Fahrerassistenzsystems vor, das unter dem Gesichtspunkt einer Verringerung der Anzahl und der Konsequenzen von Verkehrsunfällen durchgeführt werden soll (Merkmal (a)). Das Verfahren dient damit einer Festlegung der jeweiligen Systemmöglichkeiten von Fahrerassistenzsystemen auf der Grundlage einer Sicherheitsbewertung.
Ein definiertes Systemkonzept, z. B. ein in einem Fahrerassistenzsystem verwirklichtes Sensorkonzept, wird danach bewertet, wie viel Prozent eines bei einem Unfall eines bestimmten Typs auftretenden Gesamtschadens vermieden werden kann (Merkmal (b)).
Laut Merkmal (c) wird mindestens eine statistische Hypothese getestet. Der Fachmann wird in einem solchen Hypothesentest ein mathematisches Verfahren erkennen, um die Gültigkeit bzw. Ungültigkeit einer statistischen Aussage zu belegen. Das Ziel ist dabei zu prüfen, ob eine vermutete Wahrscheinlichkeit, die Hypothese, als wahr angenommen werden kann oder ob sie verworfen werden muss. Laut Ausführungsbeispiel werden ausgehend von den Unfallzahlen einer Unfalldatenbank Konfidenzintervalle für Odds-Ratios, d. h. Quotenverhältnisse berechnet (Offenlegungsschrift, Absatz [0026]). Dies geschieht im Wesentlichen durch ein geeignetes Zusammenfassen von Unfallzahlen, die in den jeweiligen (virtuellen) Zellen einer Matrix angeordnet sind und die einzelnen Unfallkategorien zugeordnet sind, sowie durch die Anwendung eines Modells unabhängiger Kategorien, bei dem es sich um eine Variante des IPFP-Verfahrens („iterative proportional fitting procedure“) handelt (Offenlegungsschrift, Absätze [0021] bis [0024]). Die Konfidenzintervalle werden iterativ für alle Zellen bzw. Unfallkategorien berechnet (Offenlegungsschrift, Absätze [0025], [0026]). Falls das Konfidenzintervall den Wert Null enthält, wird das Modell der unabhängigen Kategorien durchgeführt, ansonsten wird keine Änderung vorgenommen (Offenlegungsschrift, Absatz [0027]). Dem Fachmann ist dabei geläufig, dass es sich bei dem Konfidenzintervall um dasjenige Intervall von Wahrscheinlichkeiten bzw. Odds-Ratios handelt, das mit einer Vertrauenswahrscheinlichkeit bzw. einem Konfidenzniveau den wahren Wert der Wahrscheinlichkeit bzw. des Odds-Ratios überdeckt. Das Verfahren wird laut Beschreibung so lange durchgeführt, bis alle Zellen bzw. Kategorien durchlaufen sind, wobei es in einer Iteration zu einer neuen (reduzierten) Matrix kommen kann (Offenlegungsschrift, Absatz [0025]), deren Zellen neue Schätzungen für Unfallhäufigkeiten beinhalten und die für die Bestimmung der Konfidenzintervalle zugrunde gelegt wird (Offenlegungsschrift, Absatz [0030]).
Am Ende steht eine Matrix mit Unfallzahlen bzw. Unfallhäufigkeiten, aus der eine Gesamtschadenvermeidung ermittelt werden kann. Für den Fall, dass in einer der Zellen der Matrix keine Unfälle vorhanden sind, wird zur Berechnung der Gesamtschadenvermeidung noch eine Ersatzwertberechnung (für den Unfallschadenvermeidungswert dieser Zelle) nach Art einer Mittelwertbildung vorgeschlagen (Offenlegungsschrift, Absatz [0030]). Dementsprechend soll gemäß Merkmal (d) festgestellt werden, ob die Notwendigkeit von Ersatzwerten besteht.
In Merkmal (e) wird beansprucht, für den Hypothesentest ein Konfidenzniveau bzw. eine Vertrauenswahrscheinlichkeit vorzugeben.
Das Ergebnis dieses Verfahrens ist nach allem ein geschätzter Wert für die Gesamtschadenvermeidung durch ein Fahrerassistenzsystem.
3. Das Verfahren nach dem Patentanspruch 1 ist nicht patentfähig, da es gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. Abs. 4 PatG vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
3.1 Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist „bei Erfindungen mit Bezug zu Geräten und Verfahren (Programmen) der elektronischen Datenverarbeitung zunächst zu klären, ob der Gegenstand der Erfindung zumindest mit einem Teilaspekt auf technischem Gebiet liegt (§ 1 Abs. 1 PatG). Danach ist zu prüfen, ob dieser Gegenstand lediglich ein Programm für Datenverarbeitungsanlagen als solches darstellt und deshalb vom Patentschutz ausgeschlossen ist. Der Ausschlusstatbestand greift nicht ein, wenn diese weitere Prüfung ergibt, dass die Lehre Anweisungen enthält, die der Lösung eines konkreten technischen Problems mit technischen Mitteln dienen“ (BGH GRUR 2011, 610 – Webseitenanzeige).
Bereits in früheren Entscheidungen führt der Bundesgerichtshof im Hinblick auf die Zugänglichkeit einer Lehre zum Patentschutz aus:
„Die beanspruchte Lehre muss vielmehr Anweisungen enthalten, die der Lösung eines konkreten technischen Problems dienen. Nichts anderes gilt, wenn in Rede steht, ob eine beanspruchte Lehre als mathematische Methode (§ 1 Abs. 3 Nr. 1 PatG), als Regel oder Verfahren für geschäftliche Tätigkeiten (§ 1 Abs. 3 Nr. 3 PatG) oder als Wiedergabe von Informationen (§ 1 Abs. 3 Nr. 4 PatG) nicht als Erfindung anzusehen ist. Sofern Anweisungen beansprucht werden, mit denen ein konkretes technisches Problem gelöst wird, kommt es nicht darauf an, ob der Patentanspruch auch auf die Verwendung eines Algorithmus, einen im geschäftlichen Bereich liegenden Zweck des Verfahrens oder den Informationscharakter von Verfahrensergebnissen abstellt“ (BGH GRUR 2005, 143 – Rentabilitätsermittlung).
In der Entscheidung „Flugzeugzustand“ (BGH GRUR 2015, 983) wird ausgeführt: „Mathematische Methoden sind im Hinblick auf § 1 Abs. 3 Nr. 1 PatG nur dann patentierbar, wenn sie der Lösung eines konkreten technischen Problems mit technischen Mitteln dienen.“ Und weiter: „Eine mathematische Methode kann nur dann als nicht-technisch angesehen werden, wenn sie im Zusammenhang mit der beanspruchten Lehre keinen Bezug zur gezielten Anwendung von Naturkräften aufweist.“
3.2 Das Verfahren nach dem Patentanspruch 1 ist vom Patentschutz ausgeschlossen, da keine Anweisungen erkannt werden können, die der Lösung eines konkreten technischen Problems mit technischen Mitteln dienen.
Welches technische Problem durch eine Erfindung gelöst wird, ist objektiv danach zu bestimmen, was die Erfindung tatsächlich leistet (BGH GRUR 2005, 141 – Anbieten interaktiver Hilfe).
Im vorliegenden Fall liegt die tatsächliche Leistung der mit dem Patentanspruch 1 beanspruchten Lehre darin, eine Sicherheitsbewertung für das Systemkonzept eines Fahrerassistenzsystems anhand einer Unfallstatistik vorzunehmen, selbst wenn zu manchen Unfallkategorien keine Unfallzahlen verfügbar sind.
Das objektive Problem besteht demnach darin, eine Sicherheitsbewertung für ein Fahrerassistenzsystem durchzuführen, welches auch im Falle lückenhafter statistischer Unfallzahlen zu begründeten Werten eines Unfallschadenvermeidungspotentials führt und dabei grundlegende statistische Eigenschaften der Unfalldaten bewahrt.
Das zugrundeliegende Problem ist somit ein reines Problem der Mathematik und hier insbesondere der Statistik, deren Wesen gerade darin besteht, Methoden zur Analyse empirischer Daten bereitzustellen, wie z. B. Hypothesentests zur Belegung der Gültigkeit statistischer Aussagen oder iterative Algorithmen für Anpassungsverfahren.
Die beanspruchte Lehre beruht lediglich auf mathematischen Überlegungen zu statistischen Auswerteverfahren für Unfalldaten einer Unfalldatenbank.
Die Lösung gemäß den Merkmalen (a) bis (e), die Gesamtschadenvermeidung durch ein Fahrerassistenzsystem dadurch zu ermitteln, dass Hypothesentests und Ersatzwertberechnungen durchgeführt werden, um auch bei teilweise fehlenden Unfallzahlen ein Maß für den durch das Fahrerassistenzsystem vermiedenen Schaden zu erhalten, verlangt keine technischen Überlegungen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Ermittlung einer Gesamtschadenvermeidung resultieren aus der Erkenntnis, dass das Testen von Hypothesen und die Anwendung von Anpassungsverfahren geeignete Mittel aus der mathematischen Statistik darstellen, um zu den jeweiligen Wahrscheinlichkeiten konkreter (Unfall-)Ereignisse zu gelangen.
Entgegen der Auffassung der Anmelderin lehrt der Patentanspruch 1 gerade nicht die Implementierung einer mathematischen Methode als Programmmodul einer elektronischen Funktions- bzw. Steuereinheit, die eine technische Komponente darstellt und die zur Verbesserung der Fahrerassistenztechnik führt. Vielmehr lehrt er eine Sicherheitsbewertung auf der Grundlage statistischer Methoden.
Es erscheint zwar glaubhaft, dass das beanspruchte Verfahren im Sinne einer Zweckangabe dazu beiträgt, die Definition der Systemmöglichkeiten eines Fahrerassistenzsystems insgesamt zu unterstützen. Die beanspruchte Lehre befasst sich aber weder mit einem konkreten Aufbau eines Assistenzsystems noch entfaltet sie eine Außenwirkung im Sinne der Steuerung eines Herstellungsablaufs oder der Erzeugung eines Designs. Sie beschränkt sich allein auf mathematische Aspekte innerhalb eines Bewertungsverfahrens. Ein Bezug zur gezielten Anwendung von Naturkräften i. S. d. BGH-Entscheidung „Flugzeugzustand“ ist bei der beanspruchten Lehre nicht zu erkennen.
Zwar handelt es sich bei einem Assistenzsystem zweifellos um einen technischen Gegenstand. Dessen Aufbau und die daraus resultierenden Eigenschaften sind aber gerade nicht Bestandteil der beanspruchten Lehre. Die Lehre erschöpft sich vielmehr darin, einem Objekt (nämlich irgendeinem beliebigen Assistenzsystem) bekannte Größen aus Wahrscheinlichkeitstheorie und mathematischer Statistik (Häufigkeiten, Quotenverhältnisse, Erwartungswerte etc.) zuzuordnen und deren Werte mit geeigneten Methoden zu analysieren. Das hierfür erforderliche Fachwissen ist aber gerade nicht geeignet, der beanspruchten Lehre die Lösung einer technischen Problemstellung mit technischen Mitteln zuzuerkennen.
Die Tatsache, dass es sich bei dem zu bewertenden Objekt um ein „technisches Objekt“ handelt, kann demnach keinerlei Grundlage dafür liefern, dass das beanspruchte Verfahren den Patentierungsausschluss gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. Abs. 4 PatG überwindet.
An dieser Feststellung vermag auch der Verweis der Anmelderin auf die Lehre des europäischen Patents EP 1 853 453 B1 nichts zu ändern, die – soweit erkennbar – die Erkennung von Objekten in der Umgebung von Fahrzeugen unterstützen soll. Die Anwendung der darin enthaltenen mathematischen Methode dient insoweit im Gegensatz zur beanspruchten Lehre der Erzielung eines bestimmten technischen Erfolgs und ist damit dem Gebiet der Technik zuzuordnen.
Weiterhin argumentiert die Anmelderin, bei dem in der Anmeldung beanspruchten Verfahren handle es sich um eine Verarbeitung von Daten, die aus technischen Größen abgeleitet seien, nämlich aus den technischen Größen eines zu entwickelnden Fahrerassistenzsystems. Beispielsweise handle es sich dabei um technische Größen, die von Sensoren wie etwa Kameras erzeugt würden, die von dem zu entwickelnden Fahrerassistenzsystem verarbeitet würden, um das zu entwickelnde Fahrerassistenzsystem auszulösen. Diese Verarbeitung sei geprägt durch eine auf technischen Überlegungen beruhende Erkenntnis und deren Umsetzung. Entsprechend der Entscheidung „Logikverifikation“ (BGH GRUR, 2000, 498) handle es sich bei der beanspruchten Lehre um einen Zwischenschritt in einem Prozess, der mit der Herstellung eines technischen Gegenstandes ende. Somit sei das in der Anmeldung beanspruchte Verfahren vom Patentschutz nicht ausgeschlossen.
Auch dieser Einwand der Anmelderin vermag nicht zu überzeugen. Aus den Anmeldungsunterlagen geht weder hervor, dass es sich bei der beanspruchten Lehre um einen Zwischenschritt in einem übergeordneten Herstellungsprozess handelt, noch dass diese auf technischen Überlegungen beruht. Vielmehr werden allein statistische Methoden angewandt, um technische Objekte (nämlich Fahrerassistenzsysteme) zu evaluieren bzw. zu bewerten. Der konkrete Aufbau der Assistenzsysteme, deren Konfiguration oder eine Steuerung sind ersichtlich nicht Bestandteil der Lehre. Insbesondere kann der Auffassung nicht gefolgt werden, dass im beanspruchten Verfahren aus technischen Größen abgeleitete Daten verarbeitet werden sollen. Vielmehr handelt es sich bei den zu verarbeitenden Daten in erster Linie um Daten aus Unfallstatistiken, auf deren Basis Werte zur Schadenvermeidung bestimmt werden. Hierbei spielen Überlegungen zum Aufbau oder zur Funktionsweise eines zu entwickelnden Assistenzsystems keinerlei Rolle.
Da nach allem mit dem im Patentanspruch 1 beanspruchten Verfahren ein Problem aus der Statistik durch Maßnahmen aus dem Bereich der Mathematik gelöst wird, liegt keine „schutzwürdige Bereicherung der Technik vor“ (BGH GRUR 2002, 143 – Suche fehlerhafter Zeichenketten; BGH GRUR 2004, 667 – Elektronischer Zahlungsverkehr). Die beanspruchte Lehre ist als „mathematische Methode als solche“ dem Patentschutz nicht zugänglich.
4. Mit dem Patentanspruch 1 fallen auch die übrigen Patentansprüche, da über einen Antrag nur einheitlich entschieden werden kann (BGH GRUR 1997, 120 – Elektrisches Speicherheizgerät).