Entscheidungsdatum: 19.11.2012
In der Beschwerdesache
betreffend das Patent 196 23 412
…
hat der 15. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 19. November 2012 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dr. Feuerlein, der Richterin Schwarz-Angele, des Richters Dr. Egerer und der Richterin Zettler
beschlossen:
Der Beschluss des Patentamts wird aufgehoben und
das Patent wird widerrufen.
I.
Auf die am 12. Juni 1996 eingereichte Patentanmeldung hat das Deutsche Patent- und Markenamt das Patent 196 23 412 mit der Bezeichnung
„Verfahren zur Herstellung von Polymerisatpulver“
erteilt. Der Veröffentlichungstag der Patenterteilung ist der 29. Mai 2008.
Nach Prüfung des dagegen eingelegten Einspruchs wurde das Patent mit Beschluss der Patentabteilung 44 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 24. November 2009 aufrechterhalten. Dem Beschluss lagen die erteilten Patentansprüche 1 bis 31 folgenden Wortlauts zugrunde:
Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 sei neu gegenüber der DE 24 45 813 A1 (E1), wobei sich die Patentabteilung auf BGH-Olanzapin (X ZR 89/07 –Olanzapin), bezieht. Der Gegenstand des Patentanspruchs 2 sei neu gegenüber EP 0 632 096 A1 (E6). Dementsprechend sei auch die Neuheit der auf die Patentansprüche 1 und/oder 2 rückbezogenen abhängigen Patentansprüche 3 bis 27 sowie der unabhängigen Sach- und Verwendungsansprüche 28 bis 31 gegeben. Die Patentgegenstände beruhten auch auf einer erfinderischen Tätigkeit, wobei die Patentabteilung zur Frage der erfinderischen Tätigkeit die Druckschriften DE 20 49 114 A (E3), US 5 366 550 (E4), Handbuch Bauchemie, H. Reul, S. 216 bis 219 (E5) sowie EP 477 900 A2 (E8) abgehandelt hat.
Gegen die Entscheidung der Patentabteilung über die unveränderte Aufrechterhaltung des Patents hat die Einsprechende mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2009 Beschwerde eingelegt und beantragt, den Beschluss der Patentabteilung aufzuheben und das Patent zu widerrufen, hilfsweise mündliche Verhandlung anzuberaumen.
In der Beschwerdebegründung vom 26. Februar 2010 führt sie im Wesentlichen aus, der Gegenstand des Patentanspruchs 1 sei durch DE 24 45 813 A1 (E1), der Gegenstand des Patentanspruchs 2 durch die EP 0 632 096 A1 (E6) neuheitschädlich vorweggenommen, wobei die Patentabteilung bei der Bewertung dieser Druckschriften BGH-Olanzapin nicht sachgerecht interpretiert habe. Im Übrigen werde der Gegenstand des Patentanspruchs 1 bereits durch DE 20 49 114 A (E3) alleine, jedenfalls aber in Kombination mit US 5 366 550 (E4) oder Handbuch Bauchemie, H. Reul, S. 216 bis 219 (E5) nahegelegt. Entsprechendes gelte für den Anspruch 2 gegenüber EP 477 900 A2 (E8). Auch der durch die Merkmale der übrigen Patentansprüche ausgestaltete Patentgegenstand sei gegenüber dem vorgebrachten Stand der Technik nicht patentfähig.
Die Patentinhaberin hat dem Vorbringen der Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 10. Juni 2010 widersprochen. Mit Schriftsatz vom 15. November 2012 hat sie außerdem einen Versuchsbericht vorgelegt, welcher im Parallelverfahren (Einspruch/Beschwerde) an das Europäische Patentamt gesendet wurde und der Beschwerdeführerin aus jenem Verfahren bekannt sei.
In der mündlichen Verhandlung am 19. November 2012 hat die Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin hilfsweise Patentansprüche 1 bis 51 folgenden Wortlauts eingereicht:
Abbildung in Originalgröße in neuem Fenster öffnen
Abbildung in Originalgröße in neuem Fenster öffnen
Abbildung in Originalgröße in neuem Fenster öffnen
Abbildung in Originalgröße in neuem Fenster öffnen
Abbildung in Originalgröße in neuem Fenster öffnen
Abbildung in Originalgröße in neuem Fenster öffnen
Der Vertreter der Patentinhaberin stellt den Antrag,
die Beschwerde zurückzuweisen,
hilfsweise mit der Maßgabe, das Patent beschränkt aufrecht zu erhalten auf der Grundlage der Patentansprüche 1 bis 51, überreicht in der mündlichen Verhandlung, Beschreibung wie Patentschrift.
Die Einsprechende stellt den Antrag,
den Beschluss des Patentamts aufzuheben und das Patent in vollem Umfang zu widerrufen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten verwiesen.
II.
Die Beschwerde der Patentinhaberin ist frist- und formgerecht eingelegt worden und zulässig (PatG § 73). Sie hat auch Erfolg. Den Verfahren zur Herstellung von zur Modifikation von mineralischen Bindebaustoffen geeignetem Polymerisatpulver durch Trocknung einer wässrigen Polymerisatdispersion gemäß den Patentansprüchen 1 und 2, die nach Haupt- und Hilfsantrag inhaltlich übereinstimmen, fehlt es bereits an der erforderlichen Neuheit. Jedenfalls beruhen sie sowie ihre ebenfalls beanspruchten Verfahrens- und Weiterverarbeitungsprodukte gegenüber dem vorgebrachten Stand der Technik nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
1. Die erteilte Fassung der Patentansprüche (Hauptantrag) weist die unabhängigen, zueinander in Nebenordnung stehenden Verfahrensansprüche 1 und 2 sowie die Sachansprüche 28, 30 bis 31 und den Verwendungsanspruch 29 auf.
a) Patentanspruch 1 in der gemäß Hauptantrag verteidigten, erteilten Fassung betrifft ein
1) Verfahren zur Herstellung von Polymerisatpulver,
1.1) das zur Modifikation von mineralischen Bindebaustoffen geeignet ist,
1.2) aus einer wässrigen Polymerisatdispersion durch Trocknung,
1.3) der Film der wässrigen Polymerisatdispersion weist eine Tg von kleiner/gleich 30 oC auf,
2) durch Zugabe von Trocknungshilfsmittel zur wässrigen Polymerisatdispersion vor der Trocknung,
2.1a) das Trocknungshilfsmittel wirkt nur im mit Wasser gebrauchsfertig angemachten mineralischen Bindebaustoff verflüssigend,
3) durch Trocknung der wässrigen, mit dem Trocknungshilfsmittel 2.1a versetzten Polymerisatdispersion,
4) im Anschluss an die Trocknung Zugabe wenigstens eines Hilfsmittels als feinteiliger Feststoff,
4.1a) das Hilfsmittel wirkt im mit Wasser gebrauchsfertig angemachten mineralischen Bindebaustoff verfestigend.
Patentanspruch 2 in der gemäß Hauptantrag verteidigten, erteilten Fassung betrifft ein
1) Verfahren zur Herstellung von Polymerisatpulver,
1.1) das zur Modifikation von mineralischen Bindebaustoffen geeignet ist,
1.2) aus einer wässrigen Polymerisatdispersion durch Trocknung,
1.3) der Film der wässrigen Polymerisatdispersion weist eine Tg von kleiner/gleich 30 oC auf,
2) durch Zugabe von Trocknungshilfsmittel zur wässrigen Polymerisatdispersion vor der Trocknung,
2.1b) das Trocknungshilfsmittel wirkt nur im mit Wasser gebrauchsfertig angemachten mineralischen Bindebaustoff verfestigend,
3) durch Trocknung der wässrigen, mit dem Trocknungshilfsmittel 2.1b versetzten Polymerisatdispersion,
4) im Anschluss an die Trocknung Zugabe wenigstens eines Hilfsmittels als feinteiliger Feststoff,
4.1b) das Hilfsmittel wirkt im mit Wasser gebrauchsfertig angemachten mineralischen Bindebaustoff verflüssigend.
Patentanspruch 28 in der gemäß Hauptantrag verteidigten, erteilten Fassung betrifft ein
A) Polymerisatpulver,
A.1) das aus einer wässrigen Polymerisatdispersion gemäß Verfahren nach den Patentansprüchen 1 oder 2 getrocknet ist,
umfassend
B) das Polymerisat an sich
C) wenigstens ein Hilfsmittel (einen Stoff) gemäß Merkmalen 2, 2.1a, 2.1.b,
D) wenigstens ein Hilfsmittel (einen Stoff) gemäß Merkmalen 4, 4.1a, 4.1.b.
Patentanspruch 30 in der gemäß Hauptantrag verteidigten, erteilten Fassung betrifft
X) Mineralische Bindebaustoffe enthaltend ein Polymerisatpulver mit den Merkmalen A bis D.
Patentanspruch 31 in der gemäß Hauptantrag verteidigten, erteilten Fassung betrifft eine
Y) Trockenmörtelzubereitung bestehend aus
Y.1) 20 bis 60 Gew.-% mineralische Bindemittel,
Y.2) 0,1 bis 20 Gew.-% Polymerisatpulver mit den Merkmalen A bis D,
Y.3) bis zu 25 Gew.-% übliche Hilfsmittel,
Y.4) der Rest sind Zuschlagstoffe wie Sand, Füllstoffe, Pigmente, Fasern.
b) In der nach Hilfsantrag verteidigten Fassung bleiben die unabhängigen, zueinander in Nebenordnung stehenden Verfahrensansprüche 1 und 2 gegenüber der erteilten, nach Hauptantrag verteidigten Fassung unverändert. Daran schließen sich zwei voneinander unabhängige Sätze nebengeordneter Erzeugnisansprüche und Verfahrensunteransprüche an, ein Satz bezogen auf den Verfahrensanspruch 1 und der andere Satz bezogen auf den Verfahrensanspruch 2.
c) Die beanspruchten Verfahren sind damit im Wesentlichen gekennzeichnet durch die vor der Trocknung sowie nach der Trocknung entsprechend den Maßgaben der Merkmale 2, 2.1.a, 2.1.b sowie 4, 4.1.a, 4.1.b zugesetzten Hilfsstoffe bzw. Hilfsmittel, und zwar nicht durch deren Funktion bzw. Wirkung während des beanspruchten Herstellungs- bzw. Trocknungsverfahrens, sondern durch eine erst später eintretende verflüssigende und eine erst später eintretende verfestigende Funktion bzw. Wirkung im Zuge der Anwendung des getrockneten Verfahrensprodukts im Weiterverarbeitungs- bzw. Endprodukt. Dagegen fehlen Angaben zu Wirkungen der betreffenden Hilfsstoffe bzw. Hilfsmittel im Zuge der Trocknung.
2. Die erteilte, nach Hauptantrag verteidigte Fassung der Patentansprüche ist gegenüber der ursprünglich eingereichten Fassung unverändert, sodass die Offenbarung nicht zu beanstanden ist. Entsprechendes gilt für die nach Hilfsantrag verteidigte Fassung der Patentansprüche und deren Zulässigkeit, da sich lediglich die Anzahl der Unteransprüche durch den individuellen Rückbezug auf die beiden zueinander in Nebenordnung stehenden, unabhängigen Patentansprüche 1 und 2 erhöht hat.
3. Zunächst ist festzuhalten, dass die Wirkung bzw. die Funktion der pro Verfahren jeweils wenigstens zwei Hilfsstoffe bzw. Hilfsmittel im mit Wasser gebrauchsfertig angemachten Bindebaustoff gemäß den Merkmalen 2.1a, 2.1b sowie 4, 4.1a, 4.1.b nicht die Patentfähigkeit dieser Verfahren, bei denen es sich um Trocknungsverfahren handelt, zu begründen vermag. Denn welche Wirkung diese Hilfsstoffe in den Weiterverarbeitungsprodukten entfalten, ist lediglich für die Beurteilung der Patentfähigkeit der durch den Zusatz dieser Hilfsstoffe gekennzeichneten Weiterverarbeitungsprodukte, also für die Patentfähigkeit der Patentansprüche 28, 30 und 31 von Bedeutung.
Zudem enthalten weder die Verfahrensansprüche 1 und 2 noch die Erzeugnisansprüche 28, 30 und 31 eine stoffliche Offenbarung von gegebenenfalls geeigneten Hilfsmitteln, sodass deren stoffliche Zusammensetzung, gemessen an der relativ geringen Anzahl der in den Unteransprüchen 7 bis 11 in allgemeiner Weise benannten Stoffgruppen und den wenigen Ausführungsbeispielen, im beanspruchten Umfang weitestgehend unbestimmt ist.
Darüber hinaus umfasst die Lehre des Streitpatents gemäß den beiden unabhängig, zueinander in Nebenordnung stehenden Patentansprüchen 1 und 2 ohnehin beide Alternativen der Zugabereihenfolge, zum Einen zunächst das verflüssigend wirkende Hilfsmittel vor der Trocknung und das verfestigend wirkende Mittel nach der Trocknung (Patentanspruch 1) und zum Anderen zunächst das verfestigende Hilfsmittel vor der Trocknung und das verflüssigende Mittel nach der Trocknung (Patentanspruch 2).
Die Neuheit der Verfahren gemäß den Patentansprüchen 1 und 2 ist vielmehr auf der Basis von gegenüber dem Stand der Technik gegebenenfalls festzustellenden stofflichen Unterschieden in den zugesetzten Hilfsmitteln zu prüfen, nicht anhand einer in Weiterverarbeitungsprodukten gegebenenfalls zu messenden Wirkung bzw. Funktion. Außerdem sind die Begriffe „verflüssigend“ und „verfestigend“ in ihrer hier maßgeblichen technischen Bedeutung und in ihrem technischen Sinngehalt im Kontext der Merkmale 2, 2.1a, 2.1.b, 4, 4.1.a, 4.1.b und der gesamten Anspruchsgegenstände nicht eindeutig, so dass dadurch eine Abgrenzung der streitpatentgemäßen Lehre von dem Stand der Technik nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres möglich ist.
a) Gemäß der Lehre der Druckschrift DE 24 45 813 A1 (1), die redispergierbare Kunststoffpulver und Verfahren zu ihrer Herstellung betrifft, wird einem redispergierbaren Polymerisatpulver in wässriger Dispersion wenigstens ein wasserlösliches Sulfonsäure- oder Sulfonatgruppen-haltiges Kondensationsprodukt als Hilfsmittel zugegeben, und zwar vor der Trocknung im Zerstäubungstrockner (vgl. (1) S. 2 Abs. 4 i. V. m. Anspr. 2 u 6 – Merkmale 1, 1.1, 1.2, 2 und 3). Da das als Hilfsmittel vor der Trocknung zugesetzte Sulfonsäure- oder Sulfonatgruppen-haltige Kondensationsprodukt die Redispergierbarkeit im getrockneten Zustand über einen längeren Zeitraum gewährleistet und das Pulver in einem freifließenden Zustand erhält (vgl. (1) S. 2 le Abs.), und bekanntlich auch in mit Wasser angemachtem, redispergiertem Zustand wegen der verflüssigenden Wirkung gut handhabbar ist (vgl. (1) S. 6 le Satz, sowie gutachtlich (6) S. 3 Z. 26 bis 29), ist auch diese erst am Weiterverarbeitungsprodukt auftretende Funktion erfüllt (Merkmal 2.1a). Insofern als den redispergierbaren Polymerisatpulvern auch typische verfestigend wirkende Hilfsmittel wie Polyvinylalkohol, Cellulosederivate, Kaolin, Kreide, Silikate und Kieselsäure, ohne Weiteres als feinteilige Feststoffe, zugesetzt werden können, und zwar vor oder nach der Trocknung (vgl. (1) S. 5 Abs. 1), sind auch die Merkmale 4, 4.1.a und 4.1.b aus der Druckschrift (1) zu entnehmen.
Zwar gehen aus (1) expressis verbis keine Hinweise hervor auf den Einsatz von wässrigen Polymerisatdispersionen, deren Filme eine Tg kleiner/gleich 30 aufweisen (Merkmal 1.3). Jedoch erfüllen zahlreiche handelsübliche Polymerisate aus den in (1) genannten Gruppen das Merkmal 1.3, insbesondere Copolymerisate aus Vinylacetat und Vinyllaureat oder aus Vinylacetat und Ethylen (vgl. (1) S. 5 Abs. 2 i. V. m. deren literaturbekannten Tg-Werten), so dass ein großer Teil der sich demnach zwanglos und unmittelbar ergebenden Ausführungsformen unter den Patentanspruch 1 des Streitpatents fällt und die Lehre dieses Patentanspruchs deshalb insoweit neuheitschädlich vorweggenommen ist.
Patentanspruch 1 hat deshalb mangels Neuheit gegenüber der Lehre der Druckschrift (1) keinen Bestand.
Aus der Druckschrift EP 0 632 096 A1 (6), die eine redispergierbare Dispersionszusammensetzung enthaltend ein Basispolymerisat aus der Gattung des Streitpatents betrifft, ist die Trocknung einer wässrigen Polymerisatdispersion in Gegenwart von Polyvinylalkohol, d. h. Zugabe vor der Trocknung, und damit eines in mineralischem Bindebaustoff als Weiterverarbeitungsprodukt unter anderem verfestigend wirkenden Hilfsmittels beschrieben (vgl. (6) S. 3 Z. 45 bis S. 4 Z. 2, S. 2 Z. 13 bis 15 – Merkmale 1 bis 1.3, 2, 2.1b, 3). Bei den in (6) als Basispolymerisate eingesetzten Stoffen handelt es sich beschreibungsgemäß überwiegend, in den Ausführungsbeispielen ausschließlich um solche filmbildenden Polymere, die das Kriterium einer Glasübergangstemperatur Tg kleiner/gleich 30 oC und damit des Merkmals 1.3 erfüllen (vgl. (6) S. 2 Z. 39 bis 52, sowie insbes S. 4 die Vinnapas-Dispersionen LL1 bis LL3). Des Weiteren ist dieser Druckschrift zu entnehmen, dass sogenannte Zementverflüssiger entweder vor der Trocknung oder dem bereits getrockneten Polymerisatpulver zugegeben werden (vgl. (6) S. 3 Z. 26 bis 29, 50 bis 54 i. V. m. S. 10 Anspr. 6), und damit auch ein Verfahren mit den Merkmalen 4 und 4.1b. Auch wenn gemäß (6) ein Zementverflüssiger bevorzugt vor der Trocknung zugegeben werden soll (vgl. (6) S. 3 Z. 50 bis 53), ist daraus die Neuheit eines Verfahrens gemäß Patentanspruch 2 nicht zu begründen. Denn die Auswahl einer von zwei expressis verbis vorbeschriebenen Alternativen der Zugabereihenfolge aus einer Lehre des Standes der Technik (vgl. (6) S. 3 Z. 50 bis 54) vermag die Neuheit jedenfalls dann nicht zu begründen, wenn – wie im vorliegenden Fall – auch die Lehre des Streitpatents, wenngleich in zwei unabhängigen Patentansprüchen, beide Alternativen umfasst.
Auch das Fehlen eines konkreten Ausführungsbeispiels betreffend den Zusatz eines Zementverflüssigers erst nach der Trocknung steht der Neuheitsschädlichkeit der Lehre der Druckschrift (6) nicht entgegen. Denn es handelt sich dabei um eine dem Fachmann geläufige Arbeitsweise, die auch ohne Ausführungsbeispiel ausführbar ist.
Was die Bemessungs-, Einstellungs- bzw. Auswahlregel des Merkmals 1.3 anbelangt, so lässt sich damit in Anbetracht dessen, dass gemäß (6) insbesondere sämtliche beispielgemäßen Basispolymerisat-Dispersionen eine Tg von weniger als 30 oC aufweisen und auch aus der weiteren Beschreibung ein nicht zu übersehender Hinweis auf den Einsatz von Polymerisatpulver mit niedriger Tg hervorgeht (vgl. (6) S. 4 Z. 3), die Neuheit nicht herstellen (vgl. BGH GRUR 1986, 163 – borhaltige Stähle; BGH GRUR 1998, 1003 – Leuchtstoff; BPatG 3 Ni 23/08, GRUR 2010, 995 (Leitsatz) – Ophthalmische Linse).
Hinzu kommt, dass es sich bei dem Tg-Wert um einen gängigen physikalischen Parameter eines bekannten Stoffs handelt und dass sich deshalb die Angabe betreffender Zahlenwerte erübrigt. Nach ständiger Patentpraxis sind physikalische Kenndaten von im Übrigen eindeutig zu identifizierenden anmeldungsgemäßen Stoffen ohnehin nicht Voraussetzung für ihre stoffliche Offenbarung und jederzeit nachbringbar.
Patentanspruch 2 hat deshalb schon wegen fehlender Neuheit gegenüber Druckschrift (6) keinen Bestand.
Die vorveröffentlichte EP 0 680 993 A1 (9), die in dem Beschluss der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts T 0856/08 zwar als D6 zitiert, darin jedoch inhaltlich nicht abgehandelt ist, betrifft redispergierbare Polymerisatpulver unter Zusatz von Polyvinylalkohol als Dispergiermittel und nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als demnach Polyvinylalkohol sowohl vor dem Trocknen des Polymerisats als auch dem bereits getrockneten Polymerisatpulver jeweils als Hilfsmittel zugesetzt wird, nach dem Trocknen als feinteiliger Feststoff (vgl. (9) Abstract i. V. m. S. 4 Z. 12 bis 14, 34 bis 35, 45 bis 47 – Merkmale 1 bis 2, 3 bis 4). Dabei werden insbesondere solche Polymerisatpulver eingesetzt, die eine Glasübergangstemperatur Tg von weniger als 25 oC aufweisen (vgl. (9) S. 3 Z. 47 – Merkmal 1.3). Im Hinblick darauf, dass Polyvinylalkohol sowohl eine verflüssigende als auch eine härtesteigernde und damit verfestigende Wirkung in mineralischen Bindebaustoffen auf Zementbasis ausüben kann (vgl. (9) S. 2 Z. 58 bis S. 3 Z. 4 – Merkmale 2.1a, 2.1.b, 4.1.a und 4.1.b) ist weder eine Abgrenzung des Verfahrens gemäß Patentanspruch 1 noch eine Abgrenzung des Verfahrens gemäß Patentanspruch 2 gegenüber der Lehre der Druckschrift (9) gegeben.
Dementsprechend fehlt die Neuheit auch den Gegenständen der Patentansprüche 28 bis 30, die ausschließlich durch die Merkmale der Verfahren gemäß den Patentansprüchen 1 und 2 sowie die jeweils aus den Druckschriften (1), (6) und (9) zu entnehmende, letztlich auch triviale Anwendung in mineralischen Bindebaustoffen gekennzeichnet sind. Entsprechendes gilt auch für den Sachanspruch 31 (vgl. (1) S. 3 Abs. 1, S. 5 le Abs. bis S. 6 Abs. 1; (6) S. 10 Anspr. 6 u 7 i. V. m. S. 4 Z. 8 bis 21; (9) S. 4 Z. 45 bis 47 i. V. m. S. 6 Z. 1 bis S. 7 Z. 38 – Merkmale A bis D, X, Y bis Y.4).
Der Hinweis der Patentabteilung auf die Entscheidung des Bundesgerichtshof „Olanzapin“ (vgl. BGH GRUR 2009, 382 – Olanzapin), worin die Frage der Neuheit einer Einzelverbindung aus einem mehr oder weniger großen Kollektiv einer unter eine Markush-Formel subsummierten Verbindungen abgehandelt ist, geht schon deshalb ins Leere, weil die Lehre des Streitpatents ersichtlich nicht auf ein einzelnes Individuum, sondern vielmehr auf die Summe aller vom Stand der Technik umfassten Ausführungsformen, soweit diese der Bemessungs-, Einstellungs- bzw. Auswahlregel 1.3 genügen, gerichtet ist.
Die Frage nach einer stofflichen Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik, auch einer gegebenenfalls damit verbundenen erfinderischen Tätigkeit, stellt sich wegen der stofflich unendlich groß und unbestimmt gehaltenen Breite der Erzeugnisansprüche, zumal in den Ausführungsbeispielen des Streitpatents lediglich ein bestimmtes Naphthalinsulfonsäure-Formaldehyd-Kondensationsprodukt in Form seiner Na-Salzes als verflüssigend wirkender Hilfsstoff sowie lediglich ein bestimmtes Polyvinylacetat als verfestigend wirkender Hilfsstoff untersucht worden sind (vgl. DE 196 23 412 B4 [0068] sowie [0069]).
Die Ausführungen im Streitpatent, man könne experimentell leicht feststellen, welche Trocknungshilfsmittel (vorwiegend) der Kategorie des Merkmals 2.1.a oder des Merkmals 2.1.b zuzuordnen sind, vermögen deshalb das Problem der stofflichen Unbestimmtheit im beanspruchten Umfang und damit der Abgrenzbarkeit nicht zu beseitigen. Dies gilt umso mehr für die ebenfalls stofflich unbestimmt gehaltenen Polymerisatpulver und erst recht für die Kombination von unbestimmt gehaltenen Hilfsmitteln und unbestimmt gehaltenen Polymerisationspulver. Auch wenn die Polymerisatpulver gemäß Patentanspruch 20 zumindest bestimmten Polymergruppen zugeordnet sind, erschöpft sich die Lehre des Streitpatents im beanspruchten Umfang in der Umschreibung einer Aufgabe bzw. eines Ziels und stellt letztlich nichts anderes dar als einen Forschungs- und Entwicklungsauftrag (vgl. EPA T 1063/06 v. 3.2.2009; BPatG 3 Ni 23/08 Ophthalmische Linse; BPatG 3 Ni 47/08 Buprenorphinpflaster).
Im Übrigen ist in dem angefochtenen Beschluss sowie in der Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts T 0856/08 v 24. November 2010 der technische Sachverhalt, dass es sich sowohl bei Polyvinylalkohol als auch bei den wasserlöslichen, Sulfonsäure- oder Sulfonatgruppen-haltigen Kondensationsprodukten aus einem ein- oder mehrkernigen aromatischen Kohlenwasserstoff und Formaldehyd um Stoffe bzw. Mittel mit sowohl verflüssigenden als auch mit verfestigenden Eigenschaften und damit dualer Wirkung auf hydraulische Bindebaustoffe handelt, ebenso unberücksichtigt geblieben wie die in T 0856/08 als D6 zitierte EP 0 680 993 (9). Hinweise auf diesen für die Entscheidung erheblichen technischen Sachverhalt gehen aus (9) und aus (1) hervor (vgl. (1) S. 2 Abs. 5 „verhindert wirksam das Verkleben“, „freifließender Zustand“ i. V. m. S. 3 Abs. 1 „Verbesserungen der Druck- und Biegezugfestigkeit“, „erhöhen die Festigkeitswerte“; (9) S. 2 Z. 58 bis S. 3 Z. 4 „anti-caking agent“, S. 4 Z. 46 bis 47 „motars having good flow“), sodass sowohl Polyvinylalkohol als auch die Sulfonsäure- oder Sulfonatgruppen-haltigen Kondensationsprodukte neben einer verfestigenden Wirkung ersichtlich auch eine verflüssigende und damit eine duale Wirkung bei der Weiterverarbeitung bzw. in den Weiterverarbeitungsprodukten haben.
Deshalb läuft eine Begründung der Patentfähigkeit des Gegenstands des Streitpatents insgesamt über die Wirkung bzw. Funktion der Hilfsmittel im Weiterverarbeitungsprodukt zwangläufig ins Leere.
c) Aber selbst wenn man – wie die Patentabteilung in dem angefochtenen Beschluss – gegenüber (1) und (6) eine echte mehrfache Auswahl aus diversen Parametern feststellte, in der im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt zwar zitierten, jedoch nicht abgehandelten Druckschrift (9) die Doppelfunktion des Polyvinylalkohols unberücksichtigt bliebe und man deshalb jeweils demgegenüber die Neuheit anerkennen wollte, mangelt es dem Gegenstand des Streitpatents jedenfalls an der erforderlichen erfinderischen Tätigkeit.
Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist von der Aufgabe auszugehen, Verfahren zur Herstellung von redispergierbaren Polymerisatpulver sowie mineralische Bindebaustoffe und Trockenmörtelzusammensetzungen als Weiterverarbeitungsprodukte bereitzustellen und dabei Nachteile des Standes der Technik zu vermeiden, insbesondere Agglomeratbildung zu vermeiden, die Feinteiligkeit der wässrigen Ausgangsdispersion und die Fließfähigkeit beizubehalten ohne dass die Festigkeit nach Weiterverarbeitung und Anwendung abnimmt, sondern vielmehr gesteigert wird.
Die Lösung dieser Aufgabe durch Verfahren, Verfahrensprodukte, Verwendung und Weiterverarbeitungsprodukte gemäß den Patentansprüchen 1, 2, 28 bis 31 hat für den Fachmann, ein mit der Herstellung von redispergierbaren Polymerisatpulvern und von deren Weiterverarbeitungsprodukten befasster und vertrauter Diplom-Chemiker der Fachrichtung Makromolekulare Chemie, ausgehend von dem vorgebrachten Stand der Technik nahegelegen und beruht deshalb demgegenüber nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Denn der Fachmann hatte, angeregt durch die in (1), (6) und (9) im Zuge der Trocknung und bei den Weiterverarbeitungsprodukten geltend gemachten Vorteile, allen Anlass, die vorbeschriebenen Alternativen innerhalb der vorgegebenen Zahlen- bzw. Stoffbereiche im Zuge der Trocknung der Polymerisatpulver auszuprobieren, wozu es keines erfinderischen Zutuns, sondern lediglich routinemäßig wiederkehrenden gegebenenfalls optimierenden Vorgehens bedurfte.
Dies gilt insbesondere für das Arbeiten in dem durch die Bemessungs-, Einstellungs- bzw. Auswahlregel des Merkmals 1.3 vorgegebenen Zahlenbereich, der sich dem Fachmann nicht zuletzt durch die konkreten Ausführungsbeispiele der Druckschrift (6) und dem konkreten Hinweis in der Druckschrift (9) auf die Vorteilhaftigkeit einer Glasübergangstemperatur Tg von weniger als 25 oC (vgl. (9) S. 3 Z. 47) zwangsläufig als Zielbereich angeboten hat.
Wegen des Nachweises der Einzelmerkmale wird auf die vorstehenden Ausführungen und Zitate zu diesen Druckschriften betreffend die Neuheit verwiesen.
d) Das Streitpatent hat auch in der gemäß Hilfsantrag verteidigten Fassung der Patentansprüche schon deshalb keinen Bestand, da jedenfalls die unabhängigen, zueinander in Nebenordnung stehenden Patentansprüche 1 und 2 mit jenen des Hauptantrags im Wortlaut übereinstimmen, und diese aus den zum Hauptantrag ausgeführten Gründen, auf die vollumfänglich verwiesen wird, nicht gewährbar sind. Entsprechendes gilt für die nebengeordneten Sachansprüche 25, 27, 28, 51 sowie den nebengeordneten Verwendungsanspruch 26.
4. Auf die Unteransprüche der jeweiligen Anträge brauchte bei dieser Sachlage nicht gesondert eingegangen zu werden; sie teilen das Schicksal des Anspruchs 1, auf den sie rückbezogen sind (vgl. BGH v. 27. Juni 2007 – X ZB 6/05, GRUR 2007, 862 – Informationsübermittlungsverfahren II; Fortführung von BGH v. 26. September 1996 – X ZB 18/95, GRUr 1997, 120 – Elektrisches Speicherheizgerät).