Entscheidungsdatum: 23.01.2018
Hexavalenter Impfstoff
Zur Frage der Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats für eine durch ein Formulierungspatent geschützte Wirkstoffzusammensetzung
In der Beschwerdesache
…
betreffend die Schutzzertifikatsanmeldung 12 2010 000 015.7
für das Grundpatent EP 0 835 663 (DE 693 34 297)
hat der 14. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts in der Sitzung vom 23. Januar 2018 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dr. Maksymiw, des Richters Schell, der Richterin Dr. Münzberg und des Richters Dr. Jäger
beschlossen:
1. Der angefochtene Beschluss der Patentabteilung 44 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 23. September 2015 wird aufgehoben.
2. Der Antragstellerin wird ein ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel für das Erzeugnis "Diphtherie-, Tetanus-, Pertussis-, Hepatitis B-, Poliomyelitis- und Hämophilus influenza Typ b Konjugat-Kombinationsimpfstoff" mit einer Laufzeit vom 16. Mai 2013 bis zum 2. Oktober 2015 erteilt.
I.
Die Beschwerdeführerin ist Inhaberin des am 15. Mai 1993 angemeldeten und am 30. September 2009 erteilten europäischen Patents EP 0 835 663 (DE 693 34 297), das mittlerweile durch Zeitablauf erloschen ist. Das Patent betrifft Formulierungen vorbekannter Impfstoffe mit speziellen Adjuvantien zu hexavalenten Kombinationsimpfstoffen, die das Oberflächenantigen von Hepatitis B umfassen, sowie Verfahren zur Herstellung solcher Kombinationsimpfstoff-Formulierungen. Im Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt wurde das Grundpatent in erster Instanz wegen fehlender Patentfähigkeit widerrufen. Über die gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde der Patentinhaberin wurde bislang noch nicht entschieden.
Auf Grundlage des deutschen Teils des europäischen Patents beantragte die Beschwerdeführerin am 26. März 2010 beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats für das Erzeugnis "Diphtherie-, Tetanus-, Pertussis-, Hepatitis B-, Poliomyelitis- und Hämophilus influenza Typ b Konjugat-Kombinationsimpfstoff" (Hauptantrag). Hinsichtlich der erforderlichen arzneimittelrechtlichen Genehmigung für das Inverkehrbringen im Anmeldestaat stützte sie sich dabei auf die Zulassungen EU/1/00/152/001 – EU/1/00/152/016 der Europäischen Arzneimittel-Agentur vom 23. Oktober 2000 für das Arzneimittel Infanrix Hexa.
Mit Beschluss vom 23. September 2015 hat die Patentabteilung des DPMA den Antrag zurückgewiesen. Ausgehend von den Entscheidungen "Actavis/Sanofi", "Georgetown II" sowie "Actavis/Boehringer" des EuGH sei ein Erzeugnis nur dann gemäß Art. 3 (a) der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 (AMVO) geschützt, wenn der fragliche Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung durch das Grundpatent als solches geschützt werde. Damit in diesem Sinne ein Schutz "als solches" bejaht werde könne, müsse es sich bei dem betreffenden Erzeugnis um die "zentrale erfinderische Tätigkeit" des Grundpatents handeln. Im vorliegenden Fall liege die zentrale erfinderische Idee des Grundpatents aber nicht in der Bereitstellung der mit dem Hauptantrag beantragten Wirkstoffzusammensetzung an sich, sondern in der Verwendung eines speziellen Adjuvans bei der Herstellung von Impfstoffkombinationen. Somit werde die Wirkstoffzusammensetzung durch das Grundpatent nicht als solches geschützt. Des Weiteren gehe die Wirkstoffzusammensetzung gemäß dem Hauptantrag auch über den Schutzbereich des Grundpatents hinaus, da sich dieser nur auf die speziell formulierten Impfstoffkombinationen erstrecke. Die Erteilungsvoraussetzung des Art. 3 (a) AMVO sei daher vorliegend nicht erfüllt.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin. Soweit die Patentabteilung fordere, für das Vorliegen der Voraussetzung des Art. 3 (a) AMVO müsse das Erzeugnis "als solches" durch das Grundpatent geschützt sein bzw. "die zentrale erfinderische Tätigkeit" des Grundpatents darstellen, stehe dies nicht im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Gemäß Art. 1 (c) AMVO könnten Schutzzertifikate auch auf Basis von Verfahrens- oder Verwendungspatenten erteilt werden, die ein Erzeugnis gerade nicht "als solches" schützten, sondern ein Verfahren zur Herstellung eines vorbekannten Erzeugnisses oder die Verwendung eines Erzeugnisses zum Gegenstand hätten. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, weshalb nicht auch Formulierungspatente in gleichem Maße wie andere Patentarten der Verlängerung durch ein ergänzendes Schutzzertifikat zugänglich sein sollten. Dementsprechend sei es bislang ständige Praxis des DPMA gewesen, auf Basis von Formulierungspatenten ergänzende Schutzzertifikate zu erteilen. Nachdem die sechs Wirkstoffe der verfahrensgegenständlichen Wirkstoffzusammensetzung in den Ansprüchen des Grundpatents ausdrücklich benannt würden, stehe Art. 3 (a) AMVO der Erteilung des beantragten Schutzzertifikats nicht entgegen. Soweit die Patentabteilung geltend gemacht habe, der Schutzumfang des beantragten Schutzzertifikats erscheine breiter als der des Grundpatents, werde eine solche Annahme durch Art. 4 AMVO ausgeschlossen. Diese Norm stelle klar, dass sich der durch das Schutzzertifikat gewährte Schutz stets nur innerhalb der Grenzen des durch das Grundpatent gewährten Schutzes bewege.
Mit Zwischenverfügung vom 26. September 2017 hat der Senat der Beschwerdeführerin mitgeteilt, dass er die Erteilungsvoraussetzungen nach Art. 3 (a) und (b) AMVO als erfüllt ansehe, jedoch im Hinblick auf die Actavis-Rechtsprechung des EuGH zu diskutieren bleibe, inwieweit die Tatsache, dass sämtliche Wirkstoffe der verfahrensgegenständlichen Impfstoff-Kombination bereits zuvor zugelassen waren, der Erteilung des beantragten Schutzzertifikats entgegenstehen könnte.
Die Beschwerdeführerin hat daraufhin ergänzend vorgetragen, die Actavis-Rechtsprechung des EuGH müsse auf vergleichbare Sachverhalte beschränkt werden. Aufgrund der grundsätzlichen Unterschiede der betreffenden Sachverhalte scheide eine Übertragbarkeit des insbesondere in "Actavis/Boehringer" entwickelten Rechtsgedankens auf den vorliegenden Fall aus. Mit dem Zweck der Verordnung sei es unvereinbar, Mehrfachimpfstoffe jeglicher Art vom Zertifikatsschutz auszunehmen. Es könne kein Zweifel daran bestehen, dass auch die Forschung, die zur Entwicklung des innovativen Arzneimittels Infanrix Hexa geführt habe, eines ausreichenden Schutzes durch eine Zertifikatserteilung bedürfe.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen.
II.
1. Die Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Erteilung des beantragten ergänzenden Schutzzertifikats.
2. Der vorliegende Antrag bezieht sich auf die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats für eine Impfstoffkombination aus sechs vorbekannten Routine-Impfstoffen.
3. Ein ergänzendes Schutzzertifikat wird für ein Erzeugnis erteilt, d. h. für den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels (Art. 1 (b) AMVO). Der Begriff "Wirkstoff" ist dabei eng auszulegen und umfasst ausschließlich Stoffe mit einer eigenen arzneilichen Wirkung auf den menschlichen oder tierischen Organismus (EuGH, GRUR 2006, 694, Rdn. 16 ff. – MIT/Polifeprosan). Eine solche arzneiliche Wirkung setzt voraus, dass der betreffende Stoff eine eigene pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung ausübt (EuGH, GRUR 2015, 245, Rdn. 23 ff. – Forsgren). Dementsprechend sind Adjuvantien nicht als Wirkstoffe einzustufen, da sie keine eigenständigen arzneilichen Wirkungen entfalten (EuGH, PharmR 2014, 98, Rdn. 35 ff. – Glaxosmithkline). Eine Wirkstoffzusammensetzung im Sinne von Art. 1 (b) AMVO liegt vor, wenn das fragliche Erzeugnis aus wenigstens zwei Wirkstoffen besteht. Wie die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Wirkstoffzusammensetzungen zeigt, stellt es insoweit keine weitere Voraussetzung dar, dass die einzelnen Wirkstoffe synergistisch zusammenwirken oder einem gemeinsamen therapeutischen Zweck dienen müssen. Damit erfüllt die antragsgemäße Impfstoffkombination die Voraussetzungen einer Wirkstoffzusammensetzung i. S. v. Art. 1 (b) AMVO.
4. Gemäß Art. 3 (a) AMVO setzt die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats voraus, dass das betreffende Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist.
4.1 Im vorliegenden Fall wurde das Grundpatent im Einspruchsverfahren erstinstanzlich widerrufen, da gegen diese Entscheidung aber von Seiten der Patentinhaberin das Rechtsmittel der Beschwerde eingelegt wurde, ist das Patent weiterhin in Kraft.
4.2 Nach Art. 1 (c) AMVO kann es sich bei dem Grundpatent um ein Erzeugnis-, Verfahrens- oder Verwendungspatent handeln. Im vorliegenden Fall stützt sich der Erteilungsantrag auf ein Erzeugnispatent, das sich gemäß den Ansprüchen 1 und 3 auf eine neue Impfstoff-Formulierung aus sechs vorbekannten Wirkstoffen bezieht, von denen mindestens einer an ein spezifisches Aluminium-Adjuvans adsorbiert ist.
4.3 Zur Frage, wann ein Erzeugnis im Sinne des Art. 3 (a) AMVO geschützt ist, hat der Gerichtshof in seinen Entscheidungen "Medeva" und "Eli Lilly" klargestellt, dass hierzu das betreffende Erzeugnis in den Patentansprüchen genannt (EuGH, GRUR 2012, 257, Rdn. 28 – Medeva) bzw. jedenfalls so weit individualisiert sein muss, dass die Ansprüche, die nach Art. 69 EPÜ und dem Protokoll über die Auslegung des EPÜ unter anderem im Lichte der Beschreibung der Erfindung auszulegen sind, den Schluss zulassen, dass sie sich stillschweigend, aber notwendigerweise auf das in Rede stehende Erzeugnis beziehen, und zwar in spezifischer Art und Weise (EuGH, GRUR 2014, 163, Rdn. 39 – Eli Lilly). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt, da die einzelnen Wirkstoffe, aus denen sich die beanspruchte Wirkstoffkombination zusammensetzt, in den Ansprüchen des Grundpatents ausdrücklich benannt sind.
4.4 Soweit die Patentabteilung in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt hat, das antragsgemäße Erzeugnis verkörpere nicht die zentrale erfinderische Tätigkeit des Grundpatents und werde deshalb durch dieses nicht als solches geschützt, stellt dies keinen Zurückweisungsgrund gemäß Art. 3 (a) AMVO dar. Die Patentabteilung hat ihre Wertung auf die EuGH-Entscheidungen "Actavis/ Sanofi", "Georgetown II" sowie "Actavis/Boehringer" gestützt. Diese Entscheidungen sind aber vornehmlich auf die Erteilungsvoraussetzungen gemäß Art. 3 (c) AMVO bezogen und enthalten keine, über die in "Medeva" und "Eli Lilly" aufgestellten Grundsätze hinausgehenden Prüfungskriterien für die Anwendung des Art. 3 (a) AMVO.
4.4.1 Den Urteilen "Actavis/Sanofi" und "Actavis/Boehringer" lag ein Sachverhalt zugrunde, wonach in demselben Grundpatent ein neuer Wirkstoff A sowie in einem weiteren Anspruch eine Wirkstoffkombination aus diesem Wirkstoff A und einem vorbekannten, lediglich funktionell definierten Wirkstoff B beansprucht wurde, wobei die Patentfähigkeit dieser Kombination ausschließlich durch den innovativen Wirkstoff A getragen wurde. Das Grundpatent beinhaltete keinen allein auf den Wirkstoff B gerichteten Sachanspruch, was der Gerichtshof durch die Feststellung hervorhob, der zweite Wirkstoff B werde durch das Grundpatent "als solcher nicht geschützt" (EuGH, GRUR Int. 2014, 153, Rdn. 30, 32 – Actavis/ Sanofi; EuGH, GRUR Int. 2015, 446, Rdn. 37 – Actavis/Boehringer). Im Rahmen der Prüfung des Art. 3 (c) AMVO führte diese Feststellung dann zu der Wertung, dass die Wirkstoffkombination AB gegenüber dem Einzelwirkstoff A (für den die Patentinhaberin bereits ein Schutzzertifikat erhalten hatte) als dieselbe Innovation zu werten war, so dass für die Wirkstoffkombination kein weiteres Schutzzertifikat hätte erteilt werden dürfen.
4.4.2 Der Hinweis "wenn das Erzeugnis als solches durch das Grundpatent geschützt ist" bezog sich somit nicht auf ein eigenständiges Prüfungskriterium des Art. 3 (a) AMVO, sondern auf die in den genannten Fällen einschlägige Patentkategorie des Erzeugnispatents gemäß Art. 1 (c), 1. Alt. AMVO (vgl. EuGH, GRUR Int. 2014, 153, Rdn. 27 – Actavis/Sanofi; EuGH, GRUR Int. 2014, 149, Rdn. 28 – Georgetown II). Im Hinblick auf die Prüfungskriterien des Art. 3 (a) AMVO hat der Gerichtshof in seinen Entscheidungen "Actavis/Sanofi" und "Actavis/ Boehringer" trotz ausdrücklicher Fragen der vorlegenden Gerichte keinen über "Medeva" und "Eli Lilly" hinausgehenden Auslegungsbedarf gesehen und die Beantwortung dieser Fragen deshalb dahingestellt sein lassen (EuGH, GRUR Int. 2014, 153, Rdn. 25, 44 – Actavis/Sanofi; EuGH, GRUR Int. 2015, 446, Rdn. 24, 41 – Actavis/Boehringer).
4.4.3 In dem Urteil "Georgetown II" betrafen die Vorlagefragen von vornherein nur die Auslegung von Art. 3 (c) AMVO (vgl. EuGH, GRUR Int. 2014, 149, Rdn. 25). Es war in diesem Fall zudem unstreitig, dass die betreffenden Erzeugnisse durch das Grundpatent im Sinne des Art. 3 (a) AMVO geschützt waren, so dass auch dieser Entscheidung keine Aussagen zu der Erteilungsvoraussetzung gemäß Art. 3 (a) AMVO zu entnehmen sind.
4.5 Die Tatsache, dass es gemäß den Ansprüchen des Grundpatents ein wesentliches Merkmal der patentgeschützten Wirkstoffzusammensetzung darstellt, dass einzelne der darin enthaltenen Wirkstoffe an spezifische Aluminium-Adjuvantien adsorbiert sind, ist für die Definition des verfahrensgegenständlichen Erzeugnisses nicht relevant. Denn das Schutzzertifikat kann stets nur für arzneilich wirksame Stoffe oder für eine Zusammensetzung solcher Wirkstoffe erteilt werden, während in den Ansprüchen des Grundpatents aufgeführte Hilfs- oder Trägerstoffe insoweit nicht zu berücksichtigen sind. Die Bedenken der Patentabteilung, dass sich dadurch im vorliegenden Fall ein von dem des Grundpatents abweichender Schutzumfang des beantragten Schutzzertifikats ergeben könnte, sind unbegründet. Die Bestimmung des Schutzbereichs eines ergänzenden Schutzzertifikats erfolgt stets unter Rückgriff auf das Grundpatent (Art. 4 AMVO), wobei das Erzeugnis unabhängig von seiner Definition im konkreten Schutzzertifikat die Schutzkategorie des Grundpatents übernimmt (Art. 1 (c) AMVO). Deshalb ist es ausgeschlossen, dass der Schutz des Zertifikats weiter reicht als der des Grundpatents. Dies gilt auch dann, wenn die Erzeugnisdefinition im Einzelfall breiter erscheinen mag, als die in den Ansprüchen des Grundpatents definierte Erfindung, weil sie patentgemäße Merkmale, wie Hilfs- oder Trägerstoffe, nicht berücksichtigen kann (vgl. hierzu auch Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 10. Aufl. 2018, Kapitel A, Rdn. 198 ff.).
5. Im vorliegenden Fall besteht die Besonderheit des zu entscheidenden Sachverhalts in dem auch bereits von der Patentabteilung angesprochenen Umstand, dass die Innovation der Wirkstoffzusammensetzung weder auf dem Vorhandensein eines neuen Wirkstoffs noch auf einem synergistischen Zusammenwirken der einzelnen Wirkstoffe beruht, sondern in ihrer pharmazeutischen Formulierung, d. h. in den verwendeten Hilfsstoffen (Adjuvantien) begründet ist. Im Hinblick auf die durch die Actavis-Rechtsprechung aufgeworfenen, grundsätzlichen Fragen bleibt daher zu prüfen, ob der Erteilung des beantragten Schutzzertifikats möglicherweise die Schranken des Art. 3 (c) oder (d) AMVO entgegenstehen.
5.1 Eine Zurückweisung des Erteilungsantrags nach Art. 3 (c) AMVO kommt unter keinem Gesichtspunkt in Betracht, da der Antragstellerin bislang weder für die verfahrensgegenständliche Wirkstoffzusammensetzung noch für die Einzelwirkstoffe der Kombination ergänzende Schutzzertifikate erteilt wurden.
5.2 Der Wortlaut von Art. 3 (d) AMVO ist ebenfalls erfüllt, da die von der Antragstellerin zu Art. 3 (b) AMVO angegebene Genehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses als Arzneimittel im Anmeldestaat ist.
Bei der Auslegung einer Norm darf jedoch nicht allein auf ihren Wortlaut abgestellt werden, sondern es müssen auch die allgemeine Systematik und die Ziele der Regelung berücksichtigt werden, in die sie sich einfügt (EuGH, GRUR Int. 2010, 41, Rdn. 27 – AHP Manufacturing). So hat der Gerichtshof in seinen Entscheidungen "Actavis/Sanofi", "Actavis/Boehringer" und "Georgetown II" zur Auslegung des Art. 3 (c) AMVO den Grundsatz entwickelt, dass auch beim Vorliegen von zwei unterschiedlichen Erzeugnissen i. S. v. Art. 1 (b) AMVO, die durch dasselbe Grundpatent geschützt sind, die Erteilung eines weiteren Schutzzertifikats dann nach Art. 3 (c) AMVO ausscheidet, wenn es sich bei dem zweiten Erzeugnis gegenüber dem Erzeugnis, für das bereits ein Schutzzertifikat erteilt wurde, um keine eigenständige Innovation handelt. Dieser Grundgedanke wurde jedoch im Hinblick auf diese spezifische Fallkonstellation entwickelt und ist – wie die Beschwerdeführerin zu Recht geltend gemacht hat – nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar, in dem die durch ein eigenes Grundpatent geschützte Wirkstoffkombination gegenüber den zuvor zugelassenen Einzelwirkstoffen als eigenständige Innovation anzusehen ist.
5.3 Es sind somit keine Anhaltspunkte ersichtlich, die im Rahmen der Anwendung von Art. 3 (d) AMVO der Erteilung des beantragten Schutzzertifikats entgegenstehen würden. So schließt die AMVO die Möglichkeit von Zertifikatsschutz für aus bekannten Wirkstoffen bestehende Wirkstoffzusammensetzungen nicht aus, auch wenn die darin enthaltenen Einzelwirkstoffe nicht synergistisch zusammenwirken. Vielmehr sollen alle im pharmazeutischen Bereich durchgeführten Forschungstätigkeiten unterschiedslos gefördert werden und für ein ergänzendes Schutzzertifikat in Betracht kommen. Voraussetzung ist jedoch stets, dass diese Forschungen zu einer patentierfähigen Neuerung führen, sei es zu einem neuen Erzeugnis, zu einem neuen Verfahren zur Entwicklung eines neuen oder bereits bekannten Erzeugnisses oder zu einer neuen Zusammensetzung unter Einbeziehung eines neuen oder bereits bekannten Erzeugnisses (vgl. Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel = KOM [90] 101 endg., Rdn. 29). Dementsprechend sieht Art. 1 (c) AMVO vor, dass jede Patentkategorie zur Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats berechtigen kann, wenn im Übrigen alle Voraussetzungen für die Anwendung der AMVO erfüllt sind.
5.4 Die Erteilung des beantragten Schutzzertifikats im vorliegenden Fall trägt auch dem Zweck der AMVO Rechnung, einen ausreichenden Schutz zur Förderung der Forschung im pharmazeutischen Bereich zu gewährleisten, die entscheidend zur ständigen Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung beiträgt (vgl. EuGH, GRUR 2012, 257, Rdn. 34 – Medeva). Bei der verfahrensgegenständlichen Wirkstoffzusammensetzung handelt es sich um ein neues Erzeugnis, durch dessen Bereitstellung es erstmals möglich wurde, sechs von der Ständigen Impfstoffkommission empfohlene Routineimpfstoffe mit einer einzigen Injektion zu verabreichen. Für die Verbesserung der Volksgesundheit kommt solchen Kombinationsimpfstoffen eine erhebliche Bedeutung zu, da sie ein wichtiges Mittel darstellen, um Krankheiten vorzubeugen. Das im vorliegenden Fall maßgebliche Arzneimittel Infanrix Hexa wurde von der Europäischen Arzneimittel-Agentur als eine der ersten beiden hexavalenten Impfstoffkombinationen zur Immunisierung gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, Hämophilus-influenzae B (Hi-B) und Hepatitis B bei Kindern zugelassen. Bis dahin war es medizinischer Standard, zur Sicherstellung eines entsprechenden Impfschutzes die genannten Vakzine in 4-fach bzw. 5-fach Kombinationen mit ggf. gleichzeitiger Gabe von Einzelimpfstoffen zu verabreichen. Es wurde jedoch als vorrangiges Ziel angesehen, die Zahl der erforderlichen Injektionen weiter zu verringern. Dies nicht allein aus Kostenerwägungen, sondern insbesondere auch deshalb, weil für die hier vorrangig betroffene Patientengruppe der Säuglinge und Kleinkinder die mit jedem Impfvorgang verbundenen Belastungen, wie Rötungen, Schwellungen, Fieber und Schmerzen sowie das durch die Impfung verursachte Trauma, als besonders gravierend eingestuft wurden. Zudem sollte durch die Verringerung der Zahl der erforderlichen Impfungen eine höhere Durchimpfungsrate erreicht werden, d. h. ein höherer Prozentsatz der Patienten, die den von den zuständigen Behörden empfohlenen Immunisierungs- bzw. Impfungsplan durchlaufen haben. Dieses Ziel wurde mit der Bereitstellung der vorliegenden hexavalenten Wirkstoffkombination erreicht.
6. Nach alldem war das Schutzzertifikat antragsgemäß zu erteilen.
Die Laufzeit des Zertifikats errechnet sich nach Art. 13 (1) AMVO durch Bestimmung des Zeitraums zwischen der Anmeldung des Grundpatents (15. Mai 1993) und dem Zeitpunkt der ersten Genehmigung in der Gemeinschaft (2. Oktober 2000) abzüglich eines Zeitraums von fünf Jahren. Dadurch ergibt sich eine Schutzdauer von 2 Jahren, 4 Monaten und 17 Tagen. Die Laufzeit beginnt am 16. Mai 2013 und endet mit Ablauf des 2. Oktober 2015.