Entscheidungsdatum: 25.01.2017
1. Die Rechtsbeschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 13. Mai 2016 - 10 Ta 109/16 - wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 25.573,92 Euro festgesetzt.
I. Die Parteien streiten über die Aussetzung eines die Zahlung von Beiträgen zu den Sozialkassen des Maler- und Lackiererhandwerks betreffenden Rechtsstreits nach § 98 Abs. 6 ArbGG.
Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Maler- und Lackiererhandwerks. Auf der Grundlage des zwischen dem Bundesverband Farbe Gestaltung Bautenschutz und der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt abgeschlossenen Tarifvertrags über das Verfahren für den Urlaub und die Zusatzversorgung im Maler- und Lackiererhandwerk (VTV Maler) begehrt er von dem Beklagten die Zahlung der von diesem gemeldeten Beiträge der gewerblichen Arbeitnehmer für den Zeitraum Oktober 2013 bis Februar 2015 in Höhe von 25.573,95 Euro. Der Beklagte, der in seinem Betrieb Maler- und Lackiererarbeiten ausführt, ist nicht Mitglied im Bundesverband Farbe Gestaltung Bautenschutz.
Der im Streitzeitraum geltende VTV Maler vom 23. November 2005 idF des Änderungstarifvertrags vom 30. Juni 2011 wurde ausweislich der Bekanntmachung vom 4. Juni 2012 (BAnz. AT 12. Juni 2012 B2) für allgemeinverbindlich erklärt (AVE VTV Maler 2012). Nach einer vom Kläger vorgelegten, ua. im Hinblick auf diese und auf die Allgemeinverbindlicherklärung des Rahmentarifvertrags für die gewerblichen Arbeitnehmer des Maler- und Lackiererhandwerks vom 30. März 1992 idF vom 21. Oktober 2011 (RTV Maler) erteilten Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 19. November 2013 ist das BMAS mit Stand 30. April 2011 von 67.957 sowohl unter den RTV Maler als auch unter den VTV Maler fallenden gewerblichen Arbeitnehmern ausgegangen. In der Auskunft wird ausgeführt, es seien nach den realistischen Angaben der Gemeinnützigen Urlaubskasse für das Maler- und Lackierhandwerk e.V. (Urlaubskasse), die zudem annähernd mit den Daten der Betriebsstatistik des Deutschen Handwerkskammertags für das Maler- und Lackierhandwerk übereinstimmten, insgesamt 106.592 Arbeitnehmer in Betrieben des Maler- und Lackiererhandwerks beschäftigt worden. Daraus ergebe sich ein arbeitnehmerseitiger Organisationsgrad von 63,8 %. Zu dem die Allgemeinverbindlicherklärung des RTV Maler betreffenden Verfahren heißt es in der Auskunft, selbst bei Zugrundelegung der Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit sei von einer Tarifbindung von mindestens 50,8 % auszugehen.
Der Beklagte hat gemeint, die AVE VTV Maler 2012 sei unwirksam, weil die Voraussetzungen nach § 5 Abs. 1 TVG idF vom 31. Oktober 2006 (aF) nicht vorgelegen hätten. Insbesondere sei das nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF erforderliche Quorum nicht erreicht. Das BMAS habe zu Unrecht die Angaben der Urlaubskasse zur „Großen Zahl“ übernommen. Das statistische Jahrbuch des Statistischen Bundesamts weise für die Jahre 2011 bis 2013 jeweils ca. 95.000 in Betrieben des Maler- und Lackiererhandwerks beschäftigte Arbeitnehmer aus. Da Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten nicht mitgezählt würden, sei die „Große Zahl“ in Wirklichkeit erheblich höher. Das Internetportal „Statista“ gehe für die Jahre 2011 bis 2013 von jeweils mehr als 127.000 Arbeitnehmern aus; gemäß einer Handwerkszählung des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2010 seien sogar 199.000 Beschäftigte zu verzeichnen gewesen. Der tarifschließende Arbeitgeberverband selbst habe laut einer Mitteilung in der „Freien Presse“ angegeben, 2012 seien nur 47,7 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer in tarifgebundenen Unternehmen beschäftigt gewesen.
Der Kläger hat gemeint, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der AVE VTV Maler 2012 bestünden nicht. Der erste Anschein spreche für die Rechtmäßigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung. Das BMAS habe sich bei seiner Entscheidung völlig zu Recht auf die von der Urlaubskasse mitgeteilten und insoweit einzig belastbaren und aussagekräftigen Erhebungen zur „Großen Zahl“ gestützt. Die Daten des Statistischen Bundesamts seien wegen der fehlenden Erfassung von Kleinbetrieben nur begrenzt geeignet. Nicht maßgeblich sein könnten die stark davon abweichenden Zahlen des Internetportals „Statista“, das keine Auskunft über die Erfassungskriterien gebe. Die im Rahmen der Handwerkszählung erhobene Zahl von 199.000 enthalte mehr als 45.000 Beschäftigte von Betrieben, für die der VTV Maler wegen einer Ausnahmeregelung im RTV Maler nicht gelte, und habe daher in Bezug auf die „Große Zahl“ ebenfalls keine Aussagekraft. Es sei auch verfehlt, für die Ermittlung der „Kleinen Zahl“ auf die Veröffentlichung in der „Freien Presse“ abzustellen. Diese sei dort in einer wenige Wochen später erschienenen Mitteilung richtiggestellt worden, wonach der Arbeitgeberverband einen Organisationsgrad von 60 % angegeben habe.
Das Arbeitsgericht Wiesbaden hat den Rechtsstreit bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 ausgesetzt. Gegen diesen Beschluss hat sich der Kläger mit der sofortigen Beschwerde gewandt, der das Arbeitsgericht nicht abgeholfen hat. Das Landesarbeitsgericht hat die sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt der Kläger die Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses und Fortführung des Rechtsstreits.
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die sofortige Beschwerde des Klägers gegen den Aussetzungsbeschluss des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen.
1. Nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG ist ein Rechtsstreit auszusetzen, wenn seine Entscheidung davon abhängt, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG oder eine Rechtsverordnung nach § 7 oder § 7a AEntG oder nach § 3a AÜG wirksam ist. Die Entscheidung über die Wirksamkeit einer solchen Allgemeinverbindlicherklärung oder Rechtsverordnung darf ausschließlich im Rahmen eines gesonderten Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG erfolgen (BAG 7. Januar 2015 - 10 AZB 109/14 - Rn. 16, BAGE 150, 254).
2. Das Landesarbeitsgericht ist bei seiner Entscheidung zutreffend davon ausgegangen, dass eine Aussetzung nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG nicht in Betracht kommt, wenn der Rechtsstreit ohne Klärung der Wirksamkeit der AVE oder Rechtsverordnung entschieden werden kann (vgl. BAG 7. Januar 2015 - 10 AZB 109/14 - Rn. 23 mwN, BAGE 150, 254). Es hat insoweit festgestellt, dass der Beklagte einen Malerbetrieb führt. Die Entscheidungserheblichkeit der AVE VTV Maler 2012 hat es damit begründet, dass sich der Beklagte von Anfang an ausschließlich gegen deren Wirksamkeit gewandt habe. Angesichts des Umstands, dass der Kläger den Beklagten unstreitig auf Zahlung der von diesem für die gewerblichen Arbeitnehmer im Streitzeitraum gemeldeten Beiträge in Anspruch nimmt, genügt die Begründung des Landesarbeitsgerichts den insoweit an einen Aussetzungsbeschluss nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG zu stellenden Anforderungen (vgl. dazu BAG 7. Januar 2015 - 10 AZB 109/14 - Rn. 23, BAGE 150, 254).
3. Das Landesarbeitsgericht hat ferner berücksichtigt, dass bei der Überprüfung einer Allgemeinverbindlicherklärung von Amts wegen der erste Anschein für deren Rechtmäßigkeit spricht, weil davon auszugehen ist, dass sie unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen ausgesprochen worden ist. Es hat demzufolge für die Einleitung eines Überprüfungsverfahrens nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG substantiierten Parteivortrag verlangt, der geeignet ist, ernsthafte Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen nach § 5 Abs. 1 TVG zu begründen. Dies entspricht der Rechtsprechung des Senats (vgl. BAG 17. Februar 2016 - 10 AZR 600/14 - Rn. 12 mwN).
4. Bei der Beurteilung der Frage, ob „ernsthafte Zweifel“ an der Wirksamkeit einer AVE bestehen, bleibt dem Landesarbeitsgericht ein gewisser Spielraum. Das Rechtsbeschwerdegericht kann nur nachprüfen, ob das Landesarbeitsgericht den Begriff selbst verkannt hat, die Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob die Beurteilung wegen des Übersehens wesentlicher Umstände offensichtlich fehlerhaft ist (BAG 7. Januar 2015 - 10 AZB 109/14 - Rn. 22, BAGE 150, 254). Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält der angegriffene Beschluss stand.
a) Das Landesarbeitsgericht hat bei seiner Entscheidung den gesamten Sachverhalt gewürdigt und alle von den Parteien für und gegen die Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 vorgebrachten Argumente berücksichtigt. Den Beschlussgründen lässt sich im Einzelnen entnehmen, von welchen der vorgetragenen oder gerichtsbekannten Zweifeln das Landesarbeitsgericht ausgegangen ist und welche Tatsachen es dieser Annahme zugrunde gelegt hat. Die in sich widerspruchsfreie und ohne Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze erfolgte Würdigung, wonach ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 bestehen, überschreitet nicht den dem Landesarbeitsgericht insoweit zustehenden Beurteilungsspielraum.
aa) Das Landesarbeitsgericht hat betont, vieles spreche für die auch vom BMAS geteilte Annahme, wonach es zutreffend und im Ergebnis besonders genau sei, wenn bei der Prüfung des Quorums nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG aF die von der Urlaubskasse ermittelten Zahlen zugrunde gelegt würden. Die gleichwohl erfolgte Einbeziehung des vom Beklagten hervorgehobenen Umstands, wonach die Zugrundelegung des Zahlenmaterials des Klägers problematisch sei, in seine Würdigung hat das Landesarbeitsgericht ohne Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze mit dem eigenen Interesse des Klägers am positiven Ausgang des Verfahrens der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV Maler begründet.
bb) Das Landesarbeitsgericht ist ebenfalls ohne Denkfehler auf die Diskrepanz zwischen den von dem Beklagten verwerteten Zahlenwerken des Statistischen Bundesamts und der Urlaubskasse eingegangen. Es hat dabei insbesondere auch den Einwand des Klägers berücksichtigt, wonach die Daten des Statistischen Bundesamts wegen der Nichterfassung von Kleinbetrieben mit weniger als 20 Beschäftigten ungenauer seien. Die daraus abgeleitete Schlussfolgerung des Landesarbeitsgerichts, dass dann allerdings die „Große Zahl“ bei Einbeziehung der Kleinbetriebe noch größer ausfallen müsste, weil gerade im Maler- und Lackiererhandwerk kleinere Betriebe mit weniger Arbeitnehmer häufig anzutreffen seien, begegnet keinen rechtsbeschwerderechtlichen Bedenken. Die von der Rechtsbeschwerde in diesem Zusammenhang zitierten Entscheidungen einer anderen Kammer des Hessischen Landesarbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg betrafen nicht die streitgegenständliche AVE VTV Maler 2012.
cc) Das Landesarbeitsgericht hat in seine Erwägungen weiterhin zutreffend die Tatsache einbezogen, dass die im Rahmen der Handwerkszählung des Statistischen Bundesamts erhobene Anzahl von 199.000 Beschäftigten im Maler- und Lackiererhandwerk ebenfalls deutlich über der vom BMAS zugrunde gelegten „Großen Zahl“ liegt.
dd) Das Landesarbeitsgericht durfte auch dem Umstand Beachtung schenken, dass nach dem in der Auskunft des BMAS vom 19. November 2013 zitierten Vermerk das Quorum bei Zugrundelegung der Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit nur geringfügig überschritten gewesen wäre. Soweit das Landesarbeitsgericht den Prozentsatz hierbei mit 50,6 % anstatt mit 50,8 % angegeben hat, handelt es sich ersichtlich um einen unbeachtlichen Schreibfehler.
ee) Dass der Beklagte keine Akteneinsicht beim BMAS genommen hatte, durfte das Landesarbeitsgericht außer Acht lassen, zumal sich bereits aus der vom Kläger vorgelegten ausführlichen Auskunft des BMAS vom 19. November 2013 ergab, dass dieses die Zahlen der Urlaubskasse lediglich mit der Betriebsstatistik des Deutschen Handwerkskammertags für das Maler- und Lackiererhandwerk und der Statistik der Bundesagentur für Arbeit verglichen hatte.
ff) Entgegen der Rüge der Rechtsbeschwerde hat das Landesarbeitsgericht seine Würdigung nicht auf die - später richtig gestellte - Mitteilung in der „Freien Presse“ gestützt, wonach 2012 nur 47,7 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer in tarifgebundenen Unternehmen beschäftigt gewesen seien. Ebenso wenig hat das Landesarbeitsgericht seiner Würdigung die von der Rechtsbeschwerde für unmaßgeblich gehaltenen Zahlen des Internetportals „Statista“ zugrunde gelegt. Welche Auswirkungen der Einspruch des Freistaats Sachsen gegen die Allgemeinverbindlicherklärung auf die Richtigkeit der von der Urlaubskasse ermittelten Zahlen gehabt haben könnte, legt die Rechtsbeschwerde nicht nachvollziehbar dar.
gg) Wenn das Landesarbeitsgericht vor diesem Hintergrund angenommen hat, das BMAS habe nicht alle zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft, was ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit der AVE begründe, bewegt sich diese Schlussfolgerung innerhalb des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums.
b) Schließlich hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt, dass es nicht selbst weitere Schritte zur Überprüfung der Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 unternehmen darf, weil diese gemäß § 98 ArbGG kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung dem dortigen Rechtsstreit vorbehalten ist (vgl. BAG 7. Januar 2015 - 10 AZB 109/14 - Rn. 22, BAGE 150, 254).
5. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat das Landesarbeitsgericht auch ausführlich erwogen, ob das Interesse des Klägers an einer Beschleunigung des Verfahrens Vorrang vor dem durch den Antrag bekundeten Interesse des Beklagten an der Aussetzung des Rechtsstreits haben könnte. Es hat ohne Überschreitung des ihm insoweit zukommenden tatrichterlichen Beurteilungsspielraums das Überwiegen des Interesses des Beklagten an der Überprüfung der Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 bejaht und dies maßgeblich mit der Unzumutbarkeit des zeit- und kostenaufwändigen Verfahrens begründet, das auf den Beklagten zukäme, wenn er, obwohl er sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Wirksamkeit der AVE VTV Maler 2012 zur Wehr gesetzt hat, zur Zahlung der Beiträge verurteilt würde und sodann ggf. gezwungen wäre, ein Restitutionsverfahren durchzuführen. Auch diese Würdigung ist rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstanden.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 GKG.
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Linck |
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Brune |
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