Entscheidungsdatum: 08.10.2013
In der Patentnichtigkeitssache
…
betreffend das deutsche Patent 197 23 279
hat der 1. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 8. Oktober 2013 durch die Präsidentin Schmidt, sowie die Richter Voit, Dipl.-Ing. Sandkämper, Dipl.-Ing. Schlenk und Dipl.-Ing. (Univ.) Dipl.-Wirtsch.-Ing. (FH) Ausfelder
für Recht erkannt:
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 4. Juni 1997 angemeldeten Patents DE 197 23 279 (Streitpatent), dessen Erteilung am 23. April 1998 bekannt gemacht wurde. Es betrifft ein Messer und umfasst 28 Ansprüche, die ausnahmslos angegriffen sind. Anspruch 1 hat folgenden Wortlaut:
Messer (10) mit einem Messergehäuse (11), in welchem ein eine Messerklinge (14) aufnehmender Klingenträger (15) relativ beweglich geführt ist, welcher mittels einer Betätigungshandhabe (42) entgegen Rückstellkraft (Zugfeder 24) aus einer im Messergehäuse (11) geschützten, zurückgezogenen Ausgangsposition (A) der Messerklinge (14) in eine aus dem Messergehäuse (11) vorragende Schneidposition der Messerklinge (14) versetzbar ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Betätigungshandhabe (42) von einem relativ zum Klingenträger (15) beweglichen gesonderten Betätigungsteil (27) gebildet ist, welches entgegen der Ausfahrbewegung des Klingenträgers (15) mit einer gesonderten Rückstellkraft (Zugfeder 38) belastet ist, dass Klingenträger (15) und Betätigungsteil (27) in ihrer Ausgangsposition (A) durch ein primäres Kupplungselement (P) des Betätigungsteils (27) oder des Klingenträgers (15) und durch ein korrespondierendes sekundäres Kupplungselement (S) des Klingenträgers (15) oder des Betätigungsteils (27) nur im Ausfahrsinne des Klingenträgers (15) auf Mitnahme bewegungsgekuppelt, jedoch im Einfahrsinne des Klingenträgers (15) außer Eingriff miteinander sind, dass die Bewegung (bei a) des Betätigungsteils (27) im Ausfahrsinne des Klingenträgers (15) begrenzt ist, und dass dem Klingenträger (15) eine zusätzliche Relativbewegung (Weg R) in Ausfahrrichtung (x) gestattet ist, welche die beiden Kupplungselemente (P, S) außer Eingriff miteinander versetzt.
Wegen des Wortlauts der auch angegriffenen und direkt oder indirekt auf Anspruch 1 rückbezogenen Unteransprüche 2 bis 28 wird auf die Streitpatentschrift DE 197 23 279 C1 Bezug genommen.
Am 31. März 1998 meldete die Rechtsvorgängerin der Beklagten ein inhaltsgleiches europäisches Patent an, in dem unter anderem auch die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat benannt war. Unter dem Datum des 4. Juli 2002 versandte das Europäische Patentamt den Erteilungsbeschluss für das EP 0 882 553. Mit Schreiben vom 6. August 2002 nahmen die damaligen Vertreter der Rechtvorgängerin die Benennung des Vertragsstaates Deutschland zurück.
Die Klägerin ist der Auffassung, das Streitpatent sei wegen Verbots des Doppelschutzes gemäß Art. II § 8 Abs. 1 IntPatÜG wirkungslos und im Übrigen wegen fehlender Patentfähigkeit für nichtig zu erklären. Zur Begründung beruft sie sich auf folgende Druckschriften und Dokumente:
NK6 Dennis Lohrengel: „Entwicklung eines sicheren Schneidwerkzeugs für die Papierverarbeitung", Diplomarbeit an der Fachhochschule Koblenz, 1993
NK7 AT 64 710 B (= EP 244 517 B1)
NK8 DE 42 00 018 C1
NK9 DE 26 19 493 A1
NK10 DE 43 15 495 A1
NK11 DE 36 22 342 A1
NK12 US 2 976 959
NK13 US 5 426 855 A
NK14 GB 649 406.
Die Klägerin beantragt,
das deutsche Patent 197 23 279 in vollem Umfang für nichtig zu erklären,
hilfsweise festzustellen, dass das deutsche Patent 197 23 279 wegen des Verbots des Doppelschutzes aus Art. II § 8 Abs. 1 IntPatÜG unwirksam ist.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise mit der Maßgabe, dass Anspruch 1 die Fassung gemäß Anlage 1 zum Schriftsatz vom 20. September 2012 erhält und sich hieran die Ansprüche 2 bis 28 der erteilten Fassung anschließen (Hilfsantrag 1),
weiter hilfsweise mit der Maßgabe, dass Anspruch 1 die Fassung gemäß Anlage 2 zum Schriftsatz vom 20. September 2012 erhält und sich hieran die Ansprüche 2 bis 28 der erteilten Fassung anschließen (Hilfsantrag 2).
Die Klage ist im Hauptantrag zulässig, aber unbegründet.
Weder zeigt eine der von der Klägerin in das Verfahren eingeführten Entgegenhaltungen den Gegenstand des Streitpatents mit allen seinen Merkmalen, noch legt eine Kombination der eingeführten Druckschriften den Gegenstand des Streitpatents nahe, so dass er ohne erfinderisches Zutun gefunden hätte werden können.
Der Hilfsantrag der Klägerin ist unzulässig.
I.
1. Das Streitpatent betrifft ein Messer nach dem Oberbegriff des Anspruchs 1.
Im in der Klagepatentschrift gewürdigten Stand der Technik war ein solches Sicherheitsmesser bereits aus der Offenlegungsschrift DE 36 22 342 A1 bekannt. Dieses Messer besteht aus einem im wesentlichen hohlen Griffkörper, in dem sich ein Klingenträger mit Schneidklinge befindet, der durch ein mit ihm verbundenes Handhabungsteil, welches durch den Griffkörper hindurchgreift, aus dem Griffkörper heraus verschoben werden kann. An dem Klingenträger befindet sich eine Spiralfeder, die durch das Herausschieben des Klingenträgers so gedehnt wird, dass sie die Klinge mit Klingenträger und Handhabungsteil wieder in die Ausgangsposition zurückzieht, sobald auf die Klinge keine der Federkraft entgegengesetzten Schneidekräfte mehr wirken. Hierdurch befindet sich die Schneide der Klinge wieder insgesamt in dem Griffkörper, so dass eine Verletzungsgefahr ausgeschlossen ist. Als nachteilig hieran kritisiert das Klagepatent jedoch, dass nicht nur die Schneidekräfte - während des Arbeitsvorganges - ein Zurückschnellen der Klinge in den Griffkörper verhindern, sondern auch das Festhalten des Handhabungsteils in der Position, mit der die Klinge zunächst aus dem Griffkörper herausgeschoben wird. Hierdurch können, beispielsweise bei einem versehentlichen Abrutschen, Verletzungen durch die Klingenschneide verursacht werden (Spalte 1, Zeile 3 bis 34 der Streitpatentschrift).
2. Vor diesem Hintergrund ist in der Streitpatentschrift als Aufgabe formuliert, das bekannte Messer hinsichtlich seiner Sicherheitsfunktion zu verbessern.
3. Gelöst werden soll diese Aufgabe nach Patentanspruch 1 durch ein Messer mit folgenden Merkmalen:
1. Messer (10) mit einem Messergehäuse (11);
2. in dem Messergehäuse ist ein Klingenträger (15) relativ beweglich geführt;
3.1 der Klingenträger (15) nimmt eine Messerklinge (14) auf;
3.2 der Klingenträger (15) ist aus einer im Messergehäuse (11) geschützten, zurückgezogenen Ausgangsposition (A) der Messerklinge (14) in eine aus dem Messergehäuse (11) vorragende Schneidposition der Messerklinge (14) versetzbar;
3.2.1 das Versetzen des Klingenträgers (15) aus der Ausgangsposition (A) erfolgt mittels einer Betätigungshandhabe (42);
3.2.2 das Versetzen des Klingenträgers (15) aus der Ausgangsposition (A) erfolgt entgegen Rückstellkraft (Zugfeder 24);
Oberbegriff
4. die Betätigungshandhabe (42) ist von einem relativ zum Klingenträger (15) beweglichen gesonderten Betätigungsteil (27) gebildet;
5. das Betätigungsteil (27) ist entgegen der Ausfahrbewegung des Klingenträgers (15) mit einer gesonderten Rückstellkraft (Zugfeder 38) belastet;
6. Klingenträger (15) und Betätigungsteil (27) sind in ihrer Ausgangsposition (A) nur im Ausfahrsinne des Klingenträgers (15) auf Mitnahme bewegungsgekuppelt;
6.1 die Kupplung erfolgt durch
entweder
a) ein primäres Kupplungselement (P) des Betätigungsteils (27) und durch ein korrespondierendes sekundäres Kupplungselement (S) des Klingenträgers (15)
oder alternativ hierzu
b) ein primäres Kupplungselement (P) des Klingenträgers (15) und durch ein korrespondierendes sekundäres Kupplungselement (S) des Betätigungsteils (27);
7. Klingenträger (15) und Betätigungsteil (27) sind im Einfahrsinne des Klingenträgers (15) miteinander außer Eingriff;
8. die Bewegung (bei a) des Betätigungsteils (27) ist im Ausfahrsinne des Klingenträgers (15) begrenzt;
9. dem Klingenträger (15) ist eine zusätzliche Relativbewegung (Weg R) in Ausfahrrichtung gestattet;
10. die zusätzliche Relativbewegung (Weg R) in Ausfahrrichtung (x) versetzt die beiden Kupplungselemente (P, S) miteinander außer Eingriff.
Kennzeichen
4. Als Fachmann beschäftigte sich mit dem Gebiet des Streitpatents zum Anmeldezeitpunkt ein Maschinenbautechniker oder ein Diplom-Ingenieur (FH) Maschinenbau mit Erfahrung in der Entwicklung und Konstruktion von Sicherheitsmessern.
5. Hinsichtlich der stets gebotenen Auslegung der Patentansprüche (BGH GRUR 2007, 959, Tz. 20 - Pumpeinrichtung) ist entscheidend, welcher technische Sinngehalt aus der Sicht des angesprochenen Fachmanns den Merkmalen des Patentanspruchs im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit zukommt (BGH GRUR 2011, 129, Tz. 29 – Fentanyl-TTS; GRUR 2006, 311, Tz. 15 – Baumscheibenabdeckung). Die Patentschrift stellt hierbei im Hinblick auf die gebrauchten Begriffe auch ihr eigenes Lexikon dar (BGH GRUR 1999, 909, 912 – Spannschraube; Mitt. 2000, 105, 106 - Extrusionskopf).
Nachfolgend sind die Fig. 2, 4 und 5 eines Ausführungsbeispiels des Streitpatents wiedergegeben. Das patentgemäße Messer (10) weist ein Messergehäuse (11) auf (Merkmal 1). Gemäß dem Merkmalen 2 bis 3.2 ist in dem Messergehäuse (11) ein Klingenträger (15), der eine Messerklinge (14) aufnimmt, zwischen einer im Messergehäuse (11) geschützten, zurückgezogenen Ausgangsposition (A) der Messerklinge (14), die in Fig. 2 dargestellt ist, in eine aus dem Messergehäuse (11) vorragende Schneidposition der Messerklinge (14) versetzbar, die in Fig. 4 dargestellt ist.
Die Fig. 4 und 5 stellen unterschiedliche Betriebszustände des Messers dar (Spalte 4, Zeile 50 und 51 der Streitpatentschrift), nämlich Fig. 4 den Zustand der durch die Betätigungshandhabe (42) vorgeschobenen Klingenträgers (15), Fig. 5 den Zustand, wenn die Messerklinge (14) in das Schneidgut (45) eingreift und das gesamte Messer (10, vgl. Fig.1) eine Schneidbewegung in Schneidrichtung (C) durchführt (Spalte 6, Zeile 35 bis 37).
Der Klingenträger (15) wird mittels einer Betätigungshandhabe (42, vgl. Fig. 1) aus der Ausgangsposition (A) gemäß Fig. 2 entgegen der Rückstellkraft insbesondere einer Feder (24) in die vorgeschobene Stellung gemäß Fig. 4 versetzt (Merkmale 3.2.1 und 3.2.2). Die Betätigungshandhabe (42) weist ein gesondertes Betätigungsteil (27) auf, das relativ zum Klingenträger (15) beweglich ist (Merkmal 4). Gemäß Merkmal 5 ist das Betätigungsteil (27) entgegen der Ausfahrbewegung des Klingenträgers (15) mit einer gesonderten Rückstellkraft belastet, im Ausführungsbeispiel mit einer weiteren Zugfeder (38). Klingenträger (15) und Betätigungsteil (27) sind in ihrer Ausgangsposition (A) nur im Ausfahrsinne des Klingenträgers (15) auf Mitnahme bewegungsgekuppelt. Die Kupplung erfolgt entweder durch ein primäres Kupplungselement (P) des Betätigungsteils (27) und durch ein korrespondierendes sekundäres Kupplungselement (S) des Klingenträgers (15) (Merkmal 6.1a). Alternativ ist eine kinematische Umkehr der vorgehend beschrieben Kupplung möglich (Merkmal 6.1b, vgl. Fig. 8 des Streitpatents). Klingenträger (15) und Betätigungsteil (27) sind gemäß Merkmal 7 im Einfahrsinne des Klingenträgers (15) miteinander außer Eingriff. Dieses wird in Verbindung mit den Merkmalen 9 und 10 verwirklicht. Gemäß Merkmal 9 ist dem Klingenträger (15) eine zusätzliche Relativbewegung (Weg R) in Ausfahrrichtung gestattet, diese zusätzliche Relativbewegung in Ausfahrrichtung (x) versetzt die beiden Kupplungselemente (P, S) außer Eingriff miteinander, vgl. Fig. 5. Nach Merkmal 8 ist die Bewegung des Betätigungsteils (27) im Ausfahrsinne des Klingenträgers (15) begrenzt, beispielsweise mittels eines Anschlages entsprechend Anspruch 5.
Merkmal 7 i. V. m. den Merkmalen 9 und 10 ist damit derart zu verstehen, dass die beiden Kupplungselemente zu Beginn des Schneidvorganges außer Eingriff geraten, vgl. Spalte 2, Zeile 31 bis 40. Hierdurch kann sich der Klingenträger zurückbewegen, auch wenn das Betätigungsteil noch in der vorderen Position gehalten wird, vgl. Spalte 2, Zeile 45 ff.
Dieses Verständnis entspricht im Übrigen auch dem in einem vorhergegangenen Nichtigkeitsverfahren (4 Ni 29/05, Anlage NK5, Seite 9, letzter Abs.) und dem Urteil des Landgerichts Düsseldorf (Urteil vom 20. Januar 2005, 4b O 517/03, Anlage NK3, Seite 6, drittletzter Abs.).
II.
1. Das Messer gemäß Anspruch 1 ist neu.
Die Klägerin hat sich hinsichtlich der fehlenden Neuheit lediglich auf die NK6 berufen.
Die NK6 offenbart in der Variante 1.1 (Seite 74 f.) die Merkmale des Oberbegriffs, nämlich einen Klingenträger, dort Klingenhalter (2) genannt, der beweglich in einem Messergehäuse (1) geführt ist und eine Messerklinge (nicht bezeichnet) aufnimmt (Merkmale 1, 2 und 3.1), vgl. die nachfolgend teilweise wiedergegebene Abb. 4.17 (Seite 75 der NK6). Auf dieses Ausführungsbeispiel bezieht sich die Klägerin bei der Beurteilung der Neuheit des streitpatentgemäßen Messers.
Auch die Merkmale 3.2 bis 3.2.2 ergeben sich für den sachverständigen Leser ohne Weiteres, vgl. Abb. 4.17 i. V. m. Seite 74, dortige erste beiden Sätze: „Der Klingenhalter (2) wird mit dem Schieber (7) nach vorn verschoben. Der Klingenhalter ist mit einer Zugfeder (4) am Gehäuse (1) befestigt.“ Die Zugfeder sorgt für die Rückstellkraft, die die Messerklinge bei Nichtgebrauch in die zurückgezogene Position im Messergehäuse zurückzieht. Die Betätigungshandhabe (Schieber 7) ist von einem relativ zum Klingenträger (2) beweglichen gesonderten Bauteil gebildet, was sich ohne Weiteres aus der Abb. 4.17 ergibt. Damit ist auch Merkmal 4 der NK6 zu entnehmen. Verwirklicht sind ferner die Merkmale 6 und 6.1, da Schieber (7) und Klingenträger (2) beim Ausfahren des Messers durch die Blattfeder (5) zwangsgekoppelt sind, vgl. Seite 74, Abs. 1.
Merkmal 7 besagt, dass beim Einfahren des Messers Klingenträger und Schieber außer Eingriff sind, was der NK6 nicht eindeutig zu entnehmen ist, da offen bleibt, ob nicht der Schieber in Ausfahrstellung des Messers verbleiben kann und dadurch eventuell die Freisperrklinke in Verbindung mit der Blattfeder verbleibt. Hierzu schweigt die Druckschrift. Das Merkmal 7 ergibt sich damit zumindest nicht unmittelbar und eindeutig (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07, BGHZ 179, 168 Rn. 25f. - Olanzapin). In der Variante 1.1 der NK6 ist der Klingenträger schwenkbar angeordnet, was keine zusätzliche Relativbewegung in Ausfahrrichtung im Sinne des Merkmals 9 umfasst. Diese zusätzliche Relativbewegung beim Schneidvorgang führt auch nicht dazu, dass sie die beiden Kupplungselemente (Blattfeder 5 und Sperrklinke 6) im Sinne des Merkmals 10 zu Beginn des Schneidvorganges außer Eingriff versetzt, erst beim Beenden des Schneidvorganges wird der Eingriff zwischen Freisperrklinke (6) und Blattfeder (5) beendet, vgl. Seite 74, Abs. 2.
Ob in der Variante 1.1 der NK6 (Abb. 4.17) eine gesonderte Rückstellkraft im Sinne des Merkmals 5 auf den Schieber einwirkt und ob die Bewegung des Betätigungsteils (Schieber 7) im Ausfahrsinne des Klingenträgers begrenzt ist (Merkmal 8), kann daher dahingestellt bleiben, denn die NK6 offenbart zumindest die Merkmale 9 sowie 10 und das Merkmal 7 nicht unmittelbar und eindeutig.
2. Das Messer gemäß Anspruch 1 ist durch den im Verfahren befindlichen Stand der Technik auch nicht nahegelegt.
Zumindest die Merkmale 9 und 10 werden durch den Stand der Technik auch nicht nahegelegt. Die NK6 selbst gibt keine Anregung zu dieser Ausbildung, da eine Trennung der beiden Kupplungselemente - wie vorstehend dargelegt - erst am Ende des Schneidvorganges erfolgt. Auch die übrigen Entgegenhaltungen geben zur patentgemäßen Sicherheitsfunktion keine Anregung.
NK14 (veröffentlicht 1951) beschreibt ein sogenanntes Springmesser, d. h. durch eine schnelle Bewegung des Handgelenkes („a flick of the wrist“, vgl. Seite 4, Zeile 84 bis 85) wird die Klinge (blade 1) aus dem Messergehäuse (handle 2) nach vorn geschleudert und dort in der in Fig. 1 dargestellten Position (pawl 12/tooth 5, vgl. Fig. 2) verriegelt, vgl. Seite 4, Zeile 84 bis 93. Diese in Fig. 1 dargestellte Verriegelung wird zu Beginn des Schneidvorganges, die mit einer Kippbewegung der Klinge (1) einhergeht, aufgehoben. Die Klinge wird durch die Feder (tension spring 4) in die Position gemäß Fig. 2 zurückgezogen, in der die zweite Sperre (pawl 13) wirksam ist. In der Fig. 2 ist demgemäß die Klinge in ihrer eigentlichen Schneidposition dargestellt ist, vgl. Seite 3, Zeile 116 bis 118. Wenn nun der Schneiddruck wegfällt, wird die Sperre (13) durch die Blattfeder (pawl spring 16), die auf den Auslösemechanismus (escapement 11) drückt, entriegelt, wodurch die Klinge vollständig in das Gehäuse (2) zurückgezogen wird, vgl. Seite 2, Zeile 116 bis 125. Es fehlt somit bereits eine Betätigungshandhabe im Sinne des Streitpatents (Merkmal 3.2.1). Offenbart ist in der NK14 lediglich die Möglichkeit, die Klinge (1) mittels einer Feder in das Messergehäuse (handle 2) zurückzuziehen, wenn der Schneiddruck wegfällt, vgl. Seite 1, Zeile 33 bis 37. Dieses offenbart aber bereits die NK6, so dass die NK14 allenfalls dazu anregt, die in der NK6 offenbarte Lösung zum Einziehen der Klinge durch die in der NK14 offenbarte Lösung zu ersetzen. Ob der Fachmann hierzu überhaupt einen Anlass hatte, kann dahingestellt bleiben, da diese Übertragung nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 führen würde.
Auch in Verbindung mit den übrigen Entgegenhaltungen wird der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht nahegelegt.
In den Entgegenhaltungen NK7 bis NK9 fehlt schon eine Kupplung zwischen Betätigungsteil und Klingenträger, so dass schon fraglich ist, welche Veranlassung der Fachmann hatte, diesen Stand der Technik heranzuziehen, um ein Messer hinsichtlich seiner Sicherheitsfunktion zu verbessern. Die Druckschriften NK7 bis NK9 können daher keine Anregung geben, die Kupplung zwischen Betätigungsteil und Klingenträger zu Beginn des Schneidvorganges außer Eingriff zu setzen (Merkmal 10).
Im Übrigen sieht die NK7 einen Arm (16) vor, der als träge Masse wirkt. Bei heftigen Bewegungen des Messers wird eine Bewegung zwischen diesem Arm (16) und dem Tragelement (12) des Messers hervorgerufen. Hierdurch wird der Eingriff (Falle 14, Anschlag 15) einer Sperrklinke aufgehoben und die Messerklinge in den Griff zurückgezogen, vgl. Anspruch 1 und Fig. 1, 2. Merkmal 10 wird hierdurch erkennbar nicht nahegelegt, da die Sperre lediglich das Zurückziehen der Messerklinge umfasst, die außerdem erst nach Beendigung des Schneidvorganges gelöst wird.
Die NK8 arbeitet nach dem gleichen Prinzip wie die NK7, vgl. Spalte 1, Zeile 7 bis 15 und Anspruch 1 i. V. m. Fig. 1, 2. Es gelten daher die Ausführungen zur NK7 sinngemäß.
NK9 betrifft ein Schneidgerät, dessen blattförmige Klinge bei Nichtgebrauch des Schneidgerätes zum gefahrlosen Tragen in der Tasche gesichert ist. Es ist vorgesehen, dass das Schneidgerät aus zwei zueinander federnden, an ihren unteren Enden miteinander vereinigten Armen (1, 2) besteht, von denen der eine Arm (1) die Klinge (4) trägt und der andere Arm (2) einen Schlitz (6) aufweist, in dem die Klinge (4) mit ihrer Schneide (5) geführt ist, und dass der eine Arm (1) am Kopfende ein mit seinem einen Ende angelenktes Sperrglied (7) aufweist, das in seiner unwirksamen Lage mit dem anderen Ende das Kopfende des anderen Armes (2) teilweise überlagert und bei Nichtgebrauch des Schneidgerätes mit seinem freien Ende zwischen die gespreizten Arme (1, 2) verbringbar ist, vgl. Anspruch 1 und Fig. 2 und 3. Anregungen, ein Messer im Sinne der Merkmale 7, 9 und 10 auszubilden, gibt diese fernliegende Ausbildung erkennbar nicht.
In der NK10, die der Variante 2.3 der NK6 (vgl. Seite 79 und 80) entspricht, ist der Schieber (7) bereits vor Beginn des Schneidvorganges nicht mehr in Kontakt mit dem Klingenträger, vgl. Fig.3 und Spalte 1, Zeile 32 bis 41 der NK10. Auch diese Ausbildung vermag daher keine Anregung zu geben, die Kupplung zwischen Betätigungsteil und Klingenträger erst zu Beginn des Schneidvorganges dadurch zu lösen, dass dem Klingenträger eine zusätzliche Relativbewegung in Ausfahrrichtung gestattet ist. Die NK10 war im Übrigen bereits als einzige Entgegenhaltung im früheren Nichtigkeitsverfahren betreffend das Streitpatent (4 Ni 29/05, Anlage NK5 der Klägerin) berücksichtigt worden.
In der NK11 erfolgt die Längsverschiebung des Schiebers (17) und damit der Messerklinge (14) nach vorn zur Schneidseite (S) entgegen der Rückstellkraft einer Zugfeder (19). Bei diesem Sicherheitsmesser (10) muss also der Betätigungsdaumen den Schieber (17) ständig in seiner Schneidposition halten, vgl. Spalte 4, Zeile 7 bis 11. Insbesondere fehlt daher eine lösbare Kupplung zwischen Schieber und Messerklinge.
NK12 betrifft die Ausbildung einer Rastvorrichtung und kein Sicherheitsmesser. Auch diese Druckschrift führt somit keinesfalls zum Merkmal 10 des Streitpatents.
NK13 betrifft ein Sicherheitsmehrzweckmesser mit einer austauschbaren Klinge, die im Normalfall eingezogen ist und sich in eine Schneidposition nur dann erstreckt, wenn ein Betätigungshebel gedrückt wird (Spalte 1, Zeile 9 bis 12), auch hier sind die Merkmale 9 und 10 nicht verwirklicht oder nahegelegt.
Auch ausgehend von der NK14 wird der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht nahegelegt.
Die Klägerin argumentierte zwar in der mündlichen Verhandlung, der Fachmann werde das aus der NK14 bekannte Messer mit einem Betätigungsteil beispielsweise nach der NK11 oder NK13 versehen und dann eine Kupplung zwischen Betätigungsteil und Klinge vorsehen, wie sie die NK14 offenbare. Damit sei ein Gegenstand mit den Merkmalen des Patentanspruchs 1 verwirklicht.
Der Senat vermag sich dieser Argumentation schon deshalb nicht anzuschließen, da in der NK14 die Sperre erst aufgehoben wird, wenn der Schneiddruck wegfällt, vgl. obige Ausführungen zum Offenbarungsgehalt der NK14, was gerade nicht dem Merkmal 10 entspricht. Schon deshalb kann die Kombination der von der Klägerin herangezogenen Druckschriften nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 führen.
Die NK11 offenbart außerdem ein Messer, bei dem der Schieber 17 ständig in seiner Schneidposition gehalten werden muss. Sofern eine Kupplung im Sinne der NK14 zwischen Schieber und Messerklinge eingebaut würde, wäre das Messer möglicherweise nicht funktionsfähig, zumindest wäre aber Merkmal 10 nicht nahegelegt, da die NK14 allenfalls dazu anregt, eine Kupplung zwischen Betätigungsteil und Klingenhalter erst nach Beendigung des Schneidvorganges zu lösen.
Dies gilt ebenfalls in Verbindung mit der NK13, die gleichfalls ein Messer offenbart, das eine feste Verbindung zwischen dem Betätigungsteil und dem Klingenträger vorsieht. Eine auslösende Kupplung zu Beginn des Schneidvorganges ist durch die NK14 nicht angeregt.
Anspruch 1 hat nach alledem Bestand.
Die Unteransprüche 2 bis 28 werden durch den Anspruch 1 getragen.
III.
Der von der Klägerin gestellte Hilfsantrag ist unzulässig, weshalb die Frage, inwieweit sich eine zur Wirkungslosigkeit führende Übereinstimmung des Gegenstands des Streitpatents mit demjenigen der europäischen Patentschrift EP 0 882 533 i. S. d. Art. II § 8 Abs. 1 IntPatÜG auswirken würde, unterstellte man eine wirksame Erteilung des europäischen Patents für den Vertragsstaat Deutschland, ebenso dahinstehen kann wie die Frage, ob und inwieweit dies Auswirkungen auf ein Nichtigkeitsverfahren haben könnte.
Die Unzulässigkeit des Hilfsantrags ergibt sich bereits aus dem Mangel einer rechtlichen Grundlage für die beantragte Feststellungsentscheidung. Für die Feststellung der Wirkungslosigkeit eines deutschen Patents gegenüber einem europäischen Patent gemäß Art. II § 8 Abs. 1 IntPatÜG besteht nach der ersatzlosen Streichung der Vorschrift über das Verfahren zur Feststellung der Wirkungslosigkeit eines mit einem europäischen Patent übereinstimmenden deutschen Patents gemäß Art. II § 8 Abs. 3 IntPatÜG mit Wirkung vom 1. Juni 1992 (Art. 15 Abs. 2, Art. 6 Nr. 5, 2. GPatG) keine Rechtsgrundlage mehr, unabhängig von der dahinterstehenden Intention des Gesetzgebers.
Daher kann dahinstehen, ob tatsächlich ein Fall des Doppelschutzes eingetreten ist, was zweifelhaft sein dürfte, nachdem unter Erteilung i. S. d. Art. II § 8 Abs. 1 IntPatÜG der Eintritt der Wirkungen des Art. 64 EPÜ zu verstehen sein wird, der gemäß Art. 97 Abs. 3 EPÜ die Bekanntmachung erfordert und Änderungen durch die Prüfungsstelle verhindert, nicht aber die (teilweise) Rücknahme durch den Anmelder in der Zwischenzeit (vgl. Benkard/Ehlers, EPÜ, 2. Aufl., Art. 97 Rdnr. 34). Es bedarf auch keiner Entscheidung darüber, ob der von der Klägerin genannte Beschluss des Bundesgerichtshofes (BGH BlPMZ 1994, 284, 286 li. Sp. oben – Sulfonsäurechlorid) tatsächlich einen Rechtsbehelf neben dem bereits gegebenen erfordert, selbst wenn man die unterschiedliche Zielsetzung eines Einspruchs- und eines Nichtigkeitsverfahrens und das Abstellen auf "dafür vorgesehene Rechtsbehelfe oder Rechtsmittel" außer Acht lässt. Schließlich lassen sich weder der von der Klägerin genannten Entscheidung BPatGE 45, 190 – Schlauchbeutel, noch dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 19. April 2011 (GRUR 2011, 848, 849 – Mautberechnung) weitere Nichtigkeitsgründe entnehmen, allenfalls, dass dort der Anwendungsbereich des Nichtigkeitsgrundes der mangelnden Patentfähigkeit erweitert wird (vgl. Busse/Keukenschrijver, PatG, 7. Aufl., Art. II § 6 IntPatÜG, Rdnr. 4 aE).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.