Entscheidungsdatum: 11.10.2011
In der Patentnichtigkeitssache
…
betreffend das europäische Patent 0 775 058
(DE 595 03 455)
hat der 1. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 11. Oktober 2011 durch den Richter Engels als Vorsitzenden, die Richterin Schwarz-Angele und die Richter Dipl.-Ing. Sandkämper, Dr.-Ing. Baumgart und Dr.-Ing. Krüger
für Recht erkannt:
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des u. a. für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 775 058 (Streitpatent), das am 22. Juni 1995 unter Inanspruchnahme einer deutschen Priorität vom 9. August 1994 angemeldet worden ist. Das in deutscher Verfahrenssprache veröffentlichte Streitpatent trägt die Bezeichnung „Ordnermechanik“ und wird hinsichtlich des deutschen Teils beim Deutschen Patent- und Markenamt unter dem Aktenzeichen 595 03 455.1 geführt. Das Streitpatent umfasst 15 Ansprüche, die sämtlich von der Klage angegriffen sind.
Patentanspruch 1 hat folgenden Wortlaut:
Bezüglich des Wortlauts der auf diesen Anspruch direkt bzw. indirekt rückbezogenen erteilten Ansprüche 2 bis 15 wird auf die Streitpatentschrift verwiesen
Die Klage stützt sich darauf, dass der Gegenstand des Streitpatents nicht neu sei und nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Die Klägerin verweist hierzu auf folgenden Stand der Technik:
DE 153 568 (Anlage K4), |
Vier Fotos einer Ordnermechanik entsprechend K4 (Anlage K4-1), |
DE 18 14 713 U (Anlage K6), |
Enzyklopädie „Brockhaus", Bd. 21, 1993, Seite 88 (Anlage K7-1), |
Werkstoffbearbeitung in Übersichten, Berlin 1990, S. 73 bis 80 |
DE 528 142 (Anlage K8), |
US 2 789 561 (Anlage K14), |
DE 1 076 082 B (Anlage K17), |
EP 0 498 746 A1 (Anlage K19). |
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das europäische Patent EP 0 775 058 B1 mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfange für nichtig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen, hilfsweise soweit das Patent mit den Hilfsanträgen 1 bis 5 aus dem Schriftsatz vom 3. Juni 2011 verteidigt wird.
Die Beklagte führt aus, der Gegenstand des Streitpatents sei neu und werde durch die genannten Entgegenhaltungen weder allein noch in Kombination nahe gelegt.
Wegen des Wortlauts der von der Beklagten mit Schriftsatz vom 8. Juli 2011 zur Akte gereichten Fassungen der Patentansprüche gemäß Hilfsanträgen 1 bis 5 sowie des weiteren Vorbringens der Parteien und des Inhalts der eingereichten Unterlagen wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Die zulässige Klage, mit welcher die Klägerin den Nichtigkeitsgrund mangelnder Patentfähigkeit (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 lit. a, Art. 52 Abs. 1 EPÜ) geltend macht, ist zulässig, aber unbegründet und deshalb abzuweisen.
I.
1. Das Streitpatent betrifft eine Ordnermechanik, wie sie in Aktenordnern - teilweise auch Briefordner genannt - eingesetzt wird, die aus einem Ordnerrücken und je einem an diesem angelenkten Vorder- und Rückenteil bestehen. Nachfolgend ist die Ordnermechanik gemäß den Fig. 1b und 1c der Streitpatentschrift verkleinert wiedergegeben.
Nach den Angaben in der Streitpatentschrift ist bei herkömmlichen Ordnermechaniken ein aus einem gebogenen Runddraht hergestellter einstückiger Metallhebel vorgesehen, der an seinem einen Ende mittels eines Niets an einem aus der Grundplatte herausgebogenen Lagerschild angelenkt ist und mittels eines in einem Kniebereich des Hebels exzentrisch angeordneten, einen Kunststoffschlauch oder eine Profilrolle tragenden Stahlstifts als Niederhalteorgan von oben her gegen die Lagerstegkröpfung anliegt. Die Umformung des für die Hebelherstellung verwendeten Drahtmaterials ist sehr zeitaufwendig. Die Taktzeit der betreffenden Fertigungswerkzeuge ist daher begrenzt, so dass eine Vielzahl Einzelwerkzeuge notwendig sind, um eine für die Massenfertigung geforderte Stückzahl zu erreichen (Spalte 1, Zeile 46 bis Spalte 2, Zeile 2).
2. Vor diesem Hintergrund ist in der Streitpatentschrift als Aufgabe formuliert, eine Ordnermechanik der eingangs angegebenen Art dahingehend zu verbessern, dass die Zahl der für die Herstellung erforderlichen Einzelteile reduziert und die Fertigung vereinfacht wird (Spalte 2, Zeile 6 bis 10).
3. Gelöst werden soll diese Aufgabe nach Patentanspruch 1 durch eine Ordnermechanik mit folgenden Merkmalen:
1. Die Ordnermechanik weist eine aus Metallblech bestehende Grundplatte auf.
2. Die Ordnermechanik weist zwei Aufreihstifte (12) auf, die im Abstand voneinander an der Grundplatte im Wesentlichen senkrecht überstehen.
3. Die Ordnermechanik weist im Abstand von den Aufreihstiften einen Umlegebügel (18) auf, der
3.1 seinerseits zwei Umlegeschenkel aufweist, welche
3.1.1 durch einen Lagersteg (14) an der Grundplatte (10) im Abstand der Aufreihstifte (12) voneinander gehalten werden,
3.1.2 mittels des Lagerstegs (14) zwischen einer Schließstellung und einer Offenstellung begrenzt verschwenkbar sind, und
3.1.3 mit den Aufreihstiften (12) in der Schließstellung paarweise kuppelbar sind.
4. Die Ordnermechanik weist einen Lagerschild (20) auf, der
4.1 im Bereich zwischen den Aufreihstiften (12) und dem Umlegebügel (18) im Wesentlichen senkrecht über die Grundplatte (10) übersteht, und
4.2 einstückig mit der Grundplatte (10) verbunden ist.
5. Die Ordnermechanik weist einen Betätigungshebel (22) auf, der
5.1 auf der Seite des Umlegebügels (18) am Lagerschild (20) um eine quer zur Achse des Lagerstegs (14) verlaufende Lagerachse (46) zwischen einer Schließstellung und einer Offenstellung begrenzt verschwenkbar gelagert ist und
5.2 mit einem Niederhalteorgan (28) versehen ist, das
5.2.1 auf eine Kröpfung (26) des Lagerstegs (14) entgegen der Kraft einer Rückstellfeder (24) einwirkt.
6. Der Betätigungshebel (22) ist als Prägeteil aus Metallblech ausgebildet.
7. Das Prägeteil weist eine Seitenflanke (32) auf, die
7.1 zur Lagerschildebene im Wesentlichen parallel ausgerichtet ist und
7.2 an ihrem lagerseitigen Ende in eine gegen das Lagerschild (20) anliegende Gleitlagerfläche (30) übergeht.
8. Das Prägeteil weist eine Querflanke (36) auf, die
8.1 an der von der Grundplatte (10) abgewandten Oberkante der Seitenflanke (32) im Wesentlichen senkrecht abgekantet ist und
8.2 an ihrem lagerfernen Ende in der Längserstreckung des Betätigungshebels (22) über die Seitenflanke (32) hinaus in ein Griffstück (34) übergeht.
4. Als Fachmann ist ein Dipl.-Ing. (FH) der Fachrichtung Maschinenbau oder ein Maschinenbautechniker mit langjähriger Erfahrung in der Entwicklung und Konstruktion von Ordnermechaniken anzusehen, der auf Grund seiner Ausbildung auch über ausreichende Kenntnisse auf dem Gebiet der Umformtechnik verfügt. Soweit die Klägerin zuletzt auf einen Umformtechniker als Fachmann abstellt, ist anzumerken, dass die Argumentation der Klägerin im Wesentlichen auf Merkmal 6 gerichtet ist. Der zuständige Fachmann ist aber objektiv gemäß der technischen Aufgabe der Erfindung zu bestimmen (BGH GRUR 1978, 37 - Börsenbügel). Diese ist ausgehend von dem durch die beanspruchte Lehre objektiv gelösten technischen Problem, d. h. dem gegenüber dem Stand der Technik tatsächlich Geleisteten (BGH GRUR 2010, 602, Tz. 27 -Gelenkanordnung; BGH GRUR 2010, 607, Tz. 18 - Fettsäurezusammensetzung; BGH GRUR 2003, 693 - Hochdruckreiniger), zu bestimmen und vorliegend allgemein auf die Herstellung und Fertigung einer Ordnermechanik gerichtet. Diese Aufgabe wird üblicherweise einem Maschinenbauingenieur oder -techniker übertragen.
5. Hinsichtlich der stets gebotenen Auslegung der Patentansprüche (BGH GRUR 2007, 959, Tz. 20 - Pumpeinrichtung) ist entscheidend, welcher technische Sinngehalt aus der Sicht des angesprochenen Fachmanns den Merkmalen des Patentanspruchs im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit zukommt (BGH GRUR 2011, 129, Tz. 29 – Fentanyl-TTS; GRUR 2006, 311, Tz. 15 – Baumscheibenabdeckung). Die Patentschrift stellt hierbei im Hinblick auf die gebrauchten Begriffe auch ihr eigenes Lexikon dar (BGH GRUR 1999, 909, 912 – Spannschraube; Mitt. 2000, 105, 106 - Extrusionskopf).
Die patentgemäße Ordnermechanik weist eine Grundplatte 10 auf (Merkmal 1), zwei an der Grundplatte im Wesentlichen senkrecht überstehende Aufreihstifte 12 (Merkmal 2), einen an der Grundplatte 10 zwischen einer Schließstellung und einer Offenstellung verschwenkbaren, in Schließstellung mit den Aufreihstiften 12 kuppelbaren Umlegebügel 18 (Merkmalsgruppe 3), einen über die Grundplatte überstehenden Lagerschild 20 (Merkmalsgruppe 4) und einen am Lagerschild zwischen einer Schließstellung und einer Offenstellung begrenzt verschwenkbar gelagerten Betätigungshebel 22 (Merkmalsgruppe 5). Diese Merkmale beschreiben den weitgehend üblichen Aufbau einer Ordnermechanik.
Nachfolgend ist der Betätigungshebel gemäß den Fig. 2 und 3 wiedergegeben:
Streitpatentgemäß ist der Betätigungshebel 22 als Prägeteil aus Metallblech ausgebildet (Merkmal 6). Die Streitpatentschrift beschreibt neben einer konkaven oder konvexen Griffprägung am Griffstück des Betätigungshebels, vgl. Anspruch 15 sowie Spalte 5, Zeile 22 noch eine kreisförmige Ausprägung der Seitenflanke, vgl. Spalte 2, Zeile 43 bis 56 und Spalte 5, Zeile 25; damit offenbart das Patent ein Prägen im Sinne eines Hohlprägens. In der Metallbearbeitung stehen beim Hohlprägen Vertiefungen im Stempel gleichartige Erhöhungen auf der Matrizenoberfläche gegenüber und umgekehrt. Zwischen diesen beiden reliefartigen ausgearbeiteten Prägestempelflächen wird der Werkstoff umgeformt, vgl. K7/3, linke Spalte, Stichwort „prägen“.
Der Betätigungshebel weist eine zum Lagerschild parallel ausgerichtete Seitenflanke auf, es handelt sich damit um ein weitgehend ebenes Blech, was auch durch die Darstellung der Seitenflanke 32 in den Fig. 2 und 3 bestätigt wird. Die Seitenflanke geht an ihrem lagerseitigen Ende in eine gegen den Lagerschild anliegende Gleitlagerfläche über (Merkmalsgruppe 7).
Ferner weist der als Prägeteil ausgebildete Betätigungshebel eine Querflanke auf (Merkmal 8), die an der von der Grundplatte abgewandten Oberkante der Seitenflanke angeordnet ist und im Wesentlichen senkrecht abgekantet ist (Merkmal 8.1). Räumlich gesehen ist die Querflanke damit an der oberen Seite der Seitenflanke angeordnet, bezogen auf die Darstellungen in Fig. 2. Die Querflanke geht an ihrem lagerfernen Ende in der Längserstreckung des Betätigungshebels über die Seitenflanke hinaus in ein Griffstück über (Merkmal 8.2). „In der Längserstreckung des Betätigungshebels“ gibt dabei die Richtung an, in der die Querflanke verlaufen muss, nämlich in Längsrichtung der Seitenflanke des Hebels, wie dieses ebenfalls der Fig. 2 zu entnehmen ist. Der Griffbereich selbst liegt außerhalb der Seitenflanke, da die Querfläche über die Seitenfläche hinaus in das Griffstück übergeht (Fig. 3). Schließlich verlangt Merkmal 8.1 i. V. m. Merkmal 8.2, dass sich die Querflanke zumindest über einen Teil der Seitenflanke erstreckt, da sie an ihrem lagerfernen Ende in das Griffstück übergeht.
II.
1. Die Ordnermechanik gemäß Anspruch 1 ist neu (Art. 54 Abs. 1 und 2 EPÜ).
Die Klägerin hat sich in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der fehlenden Neuheit lediglich auf die K4 berufen, deren Fig. 1 bis 4 nachfolgend wiedergegeben sind.
Die Abbildungen in den Figuren 1 bis 4 zeigen in Verbindung mit der Beschreibung eine Ordnermechanik, die offensichtlich eine aus Metallblech bestehende Grundplatte aufweist (Merkmal 1), da am Anmeldetag der K4 in 1902 technische Kunststoffe für eine Ordnermechanik noch nicht einsetzbar waren. Die Ordnermechanik weist zwei Aufreihstifte auf, die im Abstand voneinander an der Grundplatte im Wesentlichen senkrecht überstehen, vgl. Fig. 2 und 4 (Merkmal 2). Im Abstand von den Aufreihstiften ist ein Umlegebügel (Bügel b) vorgesehen (Merkmal 3), der seinerseits zwei Umlegeschenkel aufweist (Merkmal 3.1), welche durch einen Lagersteg an der Grundplatte im Abstand der Aufreihstifte voneinander gehalten werden (Merkmal 3.1.1), mittels des Lagersteges zwischen einer Schließstellung und einer Offenstellung begrenzt verschwenkbar sind (Merkmal 3.1.2) und mit den Aufreihstiften in der Schließstellung paarweise kuppelbar sind (Merkmal 3.1.3), vgl. Fig. 3 und 4. Die Ordnermechanik weist einen Lagerschild auf (Merkmal 4), der im Bereich zwischen den Aufreihstiften und dem Umlegebügel im Wesentlichen senkrecht über die Grundplatte übersteht (Merkmal 4.1) und einstückig mit der Grundplatte verbunden ist (Merkmal 4.2). Die einstückige Verbindung des Lagerschildes mit der Grundplatte erkennt der Fachmann aus der gestrichelten Darstellung des Lagerschildes gemäß Fig. 1 und der zugehörigen gestrichelten Darstellung der Aussparung in der Grundplatte in Fig. 2. Ferner ist der K4 ein Betätigungshebel (Handhebel i) zu entnehmen (Merkmal 5.), der auf der Seite des Umlegebügels am Lagerschild um eine quer zur Achse des Lagerstegs verlaufende Lagerachse zwischen einer Schließstellung und einer Offenstellung (vgl. Fig. 3, 4) begrenzt verschwenkbar gelagert ist (Merkmal 5.1) und mit einem Niederhalteorgan (Rolle q) versehen ist (Merkmal 5.2), das auf eine Kröpfung d des Lagerstegs entgegen der Kraft einer Rückstellfeder (Feder r) einwirkt (Merkmal 5.2.1).
Die Merkmale 7.1 und 7.2 sind sinngemäß verwirklicht, da der Betätigungshebel i im Wesentlichen eben ausgebildet ist (vgl. Fig. 2 bis 4) und daher eine Seitenflanke aufweist, die entsprechend Merkmal 7.1 zur Lagerschildebene im Wesentlichen parallel ausgerichtet ist. Da ein Teil dieser Seitenfläche beim Öffnen des Hebels i entlang des Lagerschildes gleitet, ist auch eine Gleitlagerfläche im Sinne des Merkmals 7.2 vorhanden.
Merkmal 6 lässt sich hingegen der K4 nicht entnehmen, dort ist als Betätigungshebel (Handhebel i) ein flaches Bauteil - für den Fachmann erkennbar ein dünnes, ausgeschnittenes Blech - vorgesehen, das am lagerfernen Ende zu einem Griffstück umgebogen ist. Die Klägerin argumentiert hinsichtlich des Merkmals 6, die Bearbeitung durch Prägen beinhalte jede Form der spanlosen Umformung. Dies ergebe sich aus den Unterlagen gemäß den Anlagen K7-1 bis K7/4. In der Literatur (K7-2, K7/3) wird zwar Hohlprägen auch als Formstanzen bezeichnet, dieses lässt aber nicht den Rückschluss zu, der Begriff Prägen umfasse jegliche Form des spanlosen Umformens wie z. B. Biegen oder Abkanten, denn auch das Streitpatent unterscheidet zwischen Präge- und Tiefziehverfahren (Spalte 2, Zeile 16 bis 21) und Abkanten (Merkmal 8.1). Letztlich kann aber die Frage offen bleiben, wie das Merkmal 6 zu verstehen ist. Denn im Patentnichtigkeitsverfahren bedarf es der Feststellung des Gegenstands eines angegriffenen Patentanspruchs nur in dem Umfang, wie dies zur Prüfung der Bestandsfähigkeit des Patents gegenüber dem geltend gemachten Nichtigkeitsgrund erforderlich ist (BGH GRUR 2004, 47 - Blasenfreie Gummibahn I).
Auch bei einem Verständnis des Merkmals 6 im Sinne der Klägerin ist der Gegenstand des Anspruchs 1 neu, weil zumindest die Merkmale 8.1 und 8.2 in der D4 nicht verwirklicht ist. Wie sich aus Fig. 1 der K4 ergibt, ist die Querflanke dort nicht an der oberen Seitenflanke des gebogenen Hebels i angeordnet, sondern an der schmalen Querseite des Hebels. Ferner geht diese Querflanke auch nicht in Längsrichtung des gebogenen Hebels i in ein Griffstück über, sondern quer hierzu, was sich ebenfalls aus Fig. 1 ergibt.
Zu den Druckschriften K6 bis K19 hat die Klägerin lediglich schriftsätzlich pauschal behauptet, der Lehre des Streitpatents habe es gegenüber diesen Druckschriften zum Anmeldezeitpunkt an Neuheit bzw. erfinderischer Tätigkeit gemangelt. Nach Überprüfung durch den Senat offenbart auch keine dieser Druckschriften einen Betätigungshebel mit den Merkmalen 8.1 und 8.2.
2. Die Vorrichtung gemäß Anspruch 1 ist nach dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik auch nicht nahe gelegt (Art. 56 EPÜ). Die danach zum Prioritätszeitpunkt bekannten Lösungen gaben dem Fachmann weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit Veranlassung, den mit dem Streitpatent vorgeschlagenen Lösungsweg zu beschreiten.
a) Für die Beurteilung, ob eine beanspruchte Lösung auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, ist von dem auszugehen, was der Gegenstand der Erfindung in der Gesamtheit seiner Lösungsmerkmale in ihrem technischen Zusammenhang (BGH GRUR 2007, 1055, Tz. 28 - Papiermaschinengewebe) gegenüber dem Stand der Technik im Ergebnis tatsächlich leistet (BGH GRUR 2010, 607, Tz. 18 - Fettsäurezusammenhang; BGH GRUR 2010, 602, Tz. 27 - Gelenkanordnung).
Ausgehend von der K4, in der zumindest die Merkmale 8.1 und 8.2 nicht verwirklicht sind, gibt diese über 90 Jahre alte Druckschrift dem Fachmann keine Anregung zur Verstärkung des Hebels eine Querflanke im streitpatentgemäßen Sinne vorzusehen, denn die dort auf den Hebel i einwirkenden Betätigungskräfte sind als gering anzusehen. Die Klägerin hat hierzu auch nichts vorgetragen.
Die K6 gibt dem Fachmann ebenfalls keine Anregung, den Betätigungshebel entsprechend auszubilden, da dort lediglich ein flacher Betätigungshebel ohne jegliche Querflanke offenbart ist (vgl. Seite 2, Abs. 3, Satz 1 und Fig. 1 bis 4, Pos. 1). Diese Druckschrift liegt damit noch weiter ab als die K4.
Eine Ausbildung des Betätigungshebels im Sinne der Merkmale 8.1 und 8.2 ist auch den weiteren von der Klägerin lediglich pauschal genannten Druckschriften nicht zu entnehmen. Es sind zwar vereinzelt Querflanken an Teilen von Betätigungshebeln offenbart (K10, veröffentlicht 1936, vgl. Fig. 2 und K16, veröffentlicht 1959, vgl. Fig. 1), diese sind aber an Stellen vorgesehen, an denen die Hebel auf Knickung beansprucht werden. In der K4 sind allerdings die auf den Hebel i einwirkenden Kräfte als gering anzusehen, so dass der Fachmann schon keine Veranlassung hatte, eine Querflanke vorzusehen. Falls er trotzdem hierzu Überlegungen anstellen sollte, würde er die Querflanke an der Unterseite des Hebels der K4 vorsehen, da allenfalls dort der Hebel in geringem Maß auf Knickung beansprucht wird. Auch dieser Stand der Technik gibt damit keine Anregung zur Ausbildung eines Betätigungshebels mit einer Querflanke entsprechend den Merkmalen 8.1 und 8.2.
b) Auch wenn der Fachmann stets bestrebt ist, für einen bestimmten Zweck eine bessere - oder auch nur eine andere - Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt (BGH GRUR 2009, 1039 - Tz. 20 - Fischbissanzeiger), so ergab sich für ihn keine Veranlassung, den Betätigungshebel entsprechend den Merkmalen 8.1 und 8.2 mit einer Querflanke in der Längserstreckung des Betätigungshebels an dessen Oberseite auszubilden.
Insoweit ist zu beachten, dass erfahrungsgemäß die technische Entwicklung nicht notwendigerweise diejenigen Wege geht, die sich bei nachträglicher Analyse der Ausgangsposition als sachlich plausibel oder gar mehr oder weniger zwangsläufig darstellen. Um das Begehen eines von den bisher beschrittenen Wegen abweichenden Lösungswegs - hier die beschriebene Ausbildung des Betätigungshebels entsprechend Merkmalsgruppe 8 - nicht nur als möglich, sondern dem Fachmann nahegelegt anzusehen, bedarf es - abgesehen von dem hier nicht vorliegenden Fall, in dem es für den Fachmann auf der Hand liegt, was zu tun ist (vgl. BGH GRUR 2009, 936 Tz. 21 - Heizer; GRUR 2010, 814, Tz. 26 – Fugenglätter) - in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstiger Anlässe dafür, die Lösung des technischen Problems auf dem Weg der Erfindung zu suchen (BGH GRUR 2009, 746, Tz. 20 - Betrieb einer Sicherheitseinrichtung). Das Auffinden einer neuen Lehre zum technischen Handeln kann danach insbesondere nicht schon deshalb als nahe gelegt bewertet werden, weil lediglich keine Hinderungsgründe zutage treten, von dem im Stand der Technik Bekannten zum Gegenstand dieser Lehre zu gelangen. Diese Wertung setzt vielmehr voraus, dass das Bekannte dem Fachmann Anlass oder Anregung gab, zu der vorgeschlagenen Lehre zu gelangen (BGH GRUR 2010, 407, Tz. 17 – einteilige Öse).
Anspruch 1 hat nach alledem Bestand.
c) Die Unteransprüche werden durch den Anspruch 1 getragen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 99 Abs. 1 PatG, § 709 Satz 1 und 2 ZPO.